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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Deutschland und das Mittelmeer

aufleben lassen, die oft mit dem Stand der Dinge in der übrigen Welt durch¬
aus nicht im Einklange sind. Frankreich hat durch eine asiatische Politik, die
im Grundgedanken so groß wie einst seine indische, in der Ausführung -- man
erinnere sich an die ersten Akte des Piratenkrieges um Tongking - oft voll
Irrtümer und Schwankungen war, neue asiatische Interessen, ja ein neues
Indien zu schaffen gesucht. Aber es entspricht der heutigen Machtverteilung
in den Ländern östlich von der Suezlandenge, daß der Kanal in die Hände
Englands übergegangen ist, dessen Schiffe durchschnittlich drei Viertel der
durchpassirenden ausmachen. Selbst Deutschland, das sich geflissentlich von
der großen Politik im Indischen und im Stillen Ozean ferngehalten hat, be¬
nutzt den Suezkannl mehr als Frankreich (1890: 275 gegen 170 Schiffe), wenn
man von den Kriegsschiffen absieht. In die auf Sicherung wichtiger Küsten¬
strecken des Roten Meeres abzielende abessinische Politik Frankreichs, deren
Fäden durch geschickte Reisende und Missionare schon vor fünfzig Jahren an¬
geknüpft wurden, hat die Besetzung Massauas, der Asfabbni, Zeilas und andrer
Häfen durch Italien eine Störung gebracht, deren ersten Grund die Fran¬
zosen mit Unrecht in England suchen.

Wir nennen Italien und sichren damit in diese Betrachtungen die junge
Macht ein, die am meisten dazu beigetragen hat, die Mittelmeerangelcgenheiten
wieder mit den gesamteuropäischen so eng zu verflechten, wie sie es seit Jahr¬
hunderten nicht gewesen waren. Die Rivalität Englands und Frankreichs,
von denen das eine im Grunde ein Fremdling in diesem Meere, das andre
nur mit einem Bruchteil seiner Interessen darauf angewiesen ist, sah man fast
plötzlich durch die Thatsache komplizirt, daß wieder einmal eine Macht im
Mittelmeer erschien, die nur von diesem Meer ihr ganzes Land umflossen
und daher nur durch dieses Meer alle ihre Wege zu Einfluß und Macht
ziehen sah: das Königreich Italien. Die jüngste Großmacht ist die einzige
reine mittelmeerische, für die die unbeengte Entwicklung im Mittelmeere
Lebensfrage ist. Hier war plötzlich ein Staat entstanden, dem das Schicksal
von Marokko, Tunis und Ägypten viel näher ging als irgend einem von
denen, die sich seitdem damit beschäftigt hatten. Die politischen Einrichtungen,
die unter der Voraussetzung getroffen waren, daß die Macht Genuas und
Venedigs für immer begraben sei, wie die Besetzung Korsikas durch Frankreich,
Maltas durch England waren damit sogar in Frage gestellt.

Als die dritte Großmacht auf dem Plan erschien, fühlte sich aber auch
Spanien angeregt, seine Stellung schärfer zu betonen. England und Frankreich
standen von früher her in Marokko, Tunis, Ägypten, auf der Suezlandenge
und in Syrien fast allein einander gegenüber. In Marokko fühlte sich durch
beide Spanien bedroht, das sich aus Gründen der Lage und der herkömm¬
lichen Bekämpfung der Mauren etwas wie ein historisches Exekutivnsrecht gegen
Marokko zuerkennt. Es sieht aber erst seit den vierziger Jahren in Frankreich


Deutschland und das Mittelmeer

aufleben lassen, die oft mit dem Stand der Dinge in der übrigen Welt durch¬
aus nicht im Einklange sind. Frankreich hat durch eine asiatische Politik, die
im Grundgedanken so groß wie einst seine indische, in der Ausführung — man
erinnere sich an die ersten Akte des Piratenkrieges um Tongking - oft voll
Irrtümer und Schwankungen war, neue asiatische Interessen, ja ein neues
Indien zu schaffen gesucht. Aber es entspricht der heutigen Machtverteilung
in den Ländern östlich von der Suezlandenge, daß der Kanal in die Hände
Englands übergegangen ist, dessen Schiffe durchschnittlich drei Viertel der
durchpassirenden ausmachen. Selbst Deutschland, das sich geflissentlich von
der großen Politik im Indischen und im Stillen Ozean ferngehalten hat, be¬
nutzt den Suezkannl mehr als Frankreich (1890: 275 gegen 170 Schiffe), wenn
man von den Kriegsschiffen absieht. In die auf Sicherung wichtiger Küsten¬
strecken des Roten Meeres abzielende abessinische Politik Frankreichs, deren
Fäden durch geschickte Reisende und Missionare schon vor fünfzig Jahren an¬
geknüpft wurden, hat die Besetzung Massauas, der Asfabbni, Zeilas und andrer
Häfen durch Italien eine Störung gebracht, deren ersten Grund die Fran¬
zosen mit Unrecht in England suchen.

Wir nennen Italien und sichren damit in diese Betrachtungen die junge
Macht ein, die am meisten dazu beigetragen hat, die Mittelmeerangelcgenheiten
wieder mit den gesamteuropäischen so eng zu verflechten, wie sie es seit Jahr¬
hunderten nicht gewesen waren. Die Rivalität Englands und Frankreichs,
von denen das eine im Grunde ein Fremdling in diesem Meere, das andre
nur mit einem Bruchteil seiner Interessen darauf angewiesen ist, sah man fast
plötzlich durch die Thatsache komplizirt, daß wieder einmal eine Macht im
Mittelmeer erschien, die nur von diesem Meer ihr ganzes Land umflossen
und daher nur durch dieses Meer alle ihre Wege zu Einfluß und Macht
ziehen sah: das Königreich Italien. Die jüngste Großmacht ist die einzige
reine mittelmeerische, für die die unbeengte Entwicklung im Mittelmeere
Lebensfrage ist. Hier war plötzlich ein Staat entstanden, dem das Schicksal
von Marokko, Tunis und Ägypten viel näher ging als irgend einem von
denen, die sich seitdem damit beschäftigt hatten. Die politischen Einrichtungen,
die unter der Voraussetzung getroffen waren, daß die Macht Genuas und
Venedigs für immer begraben sei, wie die Besetzung Korsikas durch Frankreich,
Maltas durch England waren damit sogar in Frage gestellt.

Als die dritte Großmacht auf dem Plan erschien, fühlte sich aber auch
Spanien angeregt, seine Stellung schärfer zu betonen. England und Frankreich
standen von früher her in Marokko, Tunis, Ägypten, auf der Suezlandenge
und in Syrien fast allein einander gegenüber. In Marokko fühlte sich durch
beide Spanien bedroht, das sich aus Gründen der Lage und der herkömm¬
lichen Bekämpfung der Mauren etwas wie ein historisches Exekutivnsrecht gegen
Marokko zuerkennt. Es sieht aber erst seit den vierziger Jahren in Frankreich


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[0206] Deutschland und das Mittelmeer aufleben lassen, die oft mit dem Stand der Dinge in der übrigen Welt durch¬ aus nicht im Einklange sind. Frankreich hat durch eine asiatische Politik, die im Grundgedanken so groß wie einst seine indische, in der Ausführung — man erinnere sich an die ersten Akte des Piratenkrieges um Tongking - oft voll Irrtümer und Schwankungen war, neue asiatische Interessen, ja ein neues Indien zu schaffen gesucht. Aber es entspricht der heutigen Machtverteilung in den Ländern östlich von der Suezlandenge, daß der Kanal in die Hände Englands übergegangen ist, dessen Schiffe durchschnittlich drei Viertel der durchpassirenden ausmachen. Selbst Deutschland, das sich geflissentlich von der großen Politik im Indischen und im Stillen Ozean ferngehalten hat, be¬ nutzt den Suezkannl mehr als Frankreich (1890: 275 gegen 170 Schiffe), wenn man von den Kriegsschiffen absieht. In die auf Sicherung wichtiger Küsten¬ strecken des Roten Meeres abzielende abessinische Politik Frankreichs, deren Fäden durch geschickte Reisende und Missionare schon vor fünfzig Jahren an¬ geknüpft wurden, hat die Besetzung Massauas, der Asfabbni, Zeilas und andrer Häfen durch Italien eine Störung gebracht, deren ersten Grund die Fran¬ zosen mit Unrecht in England suchen. Wir nennen Italien und sichren damit in diese Betrachtungen die junge Macht ein, die am meisten dazu beigetragen hat, die Mittelmeerangelcgenheiten wieder mit den gesamteuropäischen so eng zu verflechten, wie sie es seit Jahr¬ hunderten nicht gewesen waren. Die Rivalität Englands und Frankreichs, von denen das eine im Grunde ein Fremdling in diesem Meere, das andre nur mit einem Bruchteil seiner Interessen darauf angewiesen ist, sah man fast plötzlich durch die Thatsache komplizirt, daß wieder einmal eine Macht im Mittelmeer erschien, die nur von diesem Meer ihr ganzes Land umflossen und daher nur durch dieses Meer alle ihre Wege zu Einfluß und Macht ziehen sah: das Königreich Italien. Die jüngste Großmacht ist die einzige reine mittelmeerische, für die die unbeengte Entwicklung im Mittelmeere Lebensfrage ist. Hier war plötzlich ein Staat entstanden, dem das Schicksal von Marokko, Tunis und Ägypten viel näher ging als irgend einem von denen, die sich seitdem damit beschäftigt hatten. Die politischen Einrichtungen, die unter der Voraussetzung getroffen waren, daß die Macht Genuas und Venedigs für immer begraben sei, wie die Besetzung Korsikas durch Frankreich, Maltas durch England waren damit sogar in Frage gestellt. Als die dritte Großmacht auf dem Plan erschien, fühlte sich aber auch Spanien angeregt, seine Stellung schärfer zu betonen. England und Frankreich standen von früher her in Marokko, Tunis, Ägypten, auf der Suezlandenge und in Syrien fast allein einander gegenüber. In Marokko fühlte sich durch beide Spanien bedroht, das sich aus Gründen der Lage und der herkömm¬ lichen Bekämpfung der Mauren etwas wie ein historisches Exekutivnsrecht gegen Marokko zuerkennt. Es sieht aber erst seit den vierziger Jahren in Frankreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/206>, abgerufen am 22.07.2024.