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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Deutschland und das Mittelmeer

lagen große Blätter der Geschichte des Mittelmeeres bis 1830 füllen. Seit
Abukir und Trafalgar gab es keine Kriegsflotte im Mittelmeer, die sich mit
der englischen auch nur entfernt hätte messen können.

Welche Änderung seit 1830. wo Frankreich unter dem lebhaftesten, aber
nicht über Worte und Noten hinauskommenden Widerstand Englands den
Grund zu seiner nordafrikanischen Kolonie legte! Das war der erste Schritt
zur Begründung einer selbständigen Mittelmeerseemacht neben der englischen.
Diese war trotz Gibraltar, Malta und den ionischen Inseln die Macht eines
Fremden. Frankreich legte seiner langen Südküste, die seitdem noch durch die
Erwerbung Nizzas nach Osten verlängert worden ist, eine zweite Küste gegen¬
über, die später durch die Erwerbung von Tunis bis zur Kleinen Syrte hinaus¬
gerückt wurde. Bei der Ohnmacht Spaniens und Italiens schien damit Frank¬
reich die Herrschaft im westlichen Mittelmeer gewonnen zu haben. Zu deren
Befestigung gehörte allerdings eine Stellung am Eingang in das Mittelmeer,
ohne die Frankreichs größere und militärisch unvergleichlich stärkere atlantische
Hälfte von der Verbindung mit der andern Hälfte abgeschlossen werden konnte.
Seine Versuche, zu diesem Zweck westwärts von Algerien gegen Marokko vor¬
zudringen, die schon in den vierziger Jahren, als es in Nordafrika noch nicht
fest saß, begannen und bis heute fortgesetzt werden, sind mehr durch Eng¬
lands als des zunächst bedrohten Spaniens eifersüchtige Wachsamkeit im ganzen
ergebnislos geblieben. Einzelnen kleinen Errungenschaften steht die Thatsache
gegenüber, die Frankreich, wenn es Selbsterkenntnis besäße, als Mißerfolg ver¬
zeichnen müßte: daß ganz Europa die Bedeutung der Lage von Marokko be¬
greift und keiner einzelnen Macht erlauben wird, sich in der Stille hier eine
Stellung zu schaffen, die zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer
am Thore zwischen beiden und gestützt auf das an Fruchtbarkeit sogar Ägypten
übertreffende westlichste Land Nordafrikas eine der großartigsten, eine wahre
Weltstellung sein würde.

Zehn Jahre später gewann Ägypten einen Teil seiner Unabhängigkeit von
der Pforte zurück, begann den unerschöpflichen Reichtum seines Bodens wieder
zu entwickeln und ließ bereits die Wichtigkeit seiner Lage im europäisch-indischen
Verkehr und sür die Erschließung des Innern von Afrika ahnen. Frankreich
erlaubte nicht, daß sich England der vorzüglichen Stellung im Mittelmeer und
auf der Landenge von Suez bemächtigte, es glaubte auch hier einen Boden
für seine selbständige Mittelmeerpolitik gefunden zu haben, als es den Kanal
grub, der das Mittelmeer mit dem Indischen Ozean verbindet. Sein Einfluß
in Ägypten überwog lange jeden andern. Es hat viel davon in den letzten
Jahren an England verloren, das den Suezkanal besitzt und Ägypten mili¬
tärisch okkupirt. Aber der vorherrschende Einfluß in Ägypten gehört schon
seit der blendenden Eroberung unter dem ersten Napoleon zu den Erinnerungen,
die in den Franzosen immer von neuem Hoffnungen und Wünsche wieder


Deutschland und das Mittelmeer

lagen große Blätter der Geschichte des Mittelmeeres bis 1830 füllen. Seit
Abukir und Trafalgar gab es keine Kriegsflotte im Mittelmeer, die sich mit
der englischen auch nur entfernt hätte messen können.

Welche Änderung seit 1830. wo Frankreich unter dem lebhaftesten, aber
nicht über Worte und Noten hinauskommenden Widerstand Englands den
Grund zu seiner nordafrikanischen Kolonie legte! Das war der erste Schritt
zur Begründung einer selbständigen Mittelmeerseemacht neben der englischen.
Diese war trotz Gibraltar, Malta und den ionischen Inseln die Macht eines
Fremden. Frankreich legte seiner langen Südküste, die seitdem noch durch die
Erwerbung Nizzas nach Osten verlängert worden ist, eine zweite Küste gegen¬
über, die später durch die Erwerbung von Tunis bis zur Kleinen Syrte hinaus¬
gerückt wurde. Bei der Ohnmacht Spaniens und Italiens schien damit Frank¬
reich die Herrschaft im westlichen Mittelmeer gewonnen zu haben. Zu deren
Befestigung gehörte allerdings eine Stellung am Eingang in das Mittelmeer,
ohne die Frankreichs größere und militärisch unvergleichlich stärkere atlantische
Hälfte von der Verbindung mit der andern Hälfte abgeschlossen werden konnte.
Seine Versuche, zu diesem Zweck westwärts von Algerien gegen Marokko vor¬
zudringen, die schon in den vierziger Jahren, als es in Nordafrika noch nicht
fest saß, begannen und bis heute fortgesetzt werden, sind mehr durch Eng¬
lands als des zunächst bedrohten Spaniens eifersüchtige Wachsamkeit im ganzen
ergebnislos geblieben. Einzelnen kleinen Errungenschaften steht die Thatsache
gegenüber, die Frankreich, wenn es Selbsterkenntnis besäße, als Mißerfolg ver¬
zeichnen müßte: daß ganz Europa die Bedeutung der Lage von Marokko be¬
greift und keiner einzelnen Macht erlauben wird, sich in der Stille hier eine
Stellung zu schaffen, die zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer
am Thore zwischen beiden und gestützt auf das an Fruchtbarkeit sogar Ägypten
übertreffende westlichste Land Nordafrikas eine der großartigsten, eine wahre
Weltstellung sein würde.

Zehn Jahre später gewann Ägypten einen Teil seiner Unabhängigkeit von
der Pforte zurück, begann den unerschöpflichen Reichtum seines Bodens wieder
zu entwickeln und ließ bereits die Wichtigkeit seiner Lage im europäisch-indischen
Verkehr und sür die Erschließung des Innern von Afrika ahnen. Frankreich
erlaubte nicht, daß sich England der vorzüglichen Stellung im Mittelmeer und
auf der Landenge von Suez bemächtigte, es glaubte auch hier einen Boden
für seine selbständige Mittelmeerpolitik gefunden zu haben, als es den Kanal
grub, der das Mittelmeer mit dem Indischen Ozean verbindet. Sein Einfluß
in Ägypten überwog lange jeden andern. Es hat viel davon in den letzten
Jahren an England verloren, das den Suezkanal besitzt und Ägypten mili¬
tärisch okkupirt. Aber der vorherrschende Einfluß in Ägypten gehört schon
seit der blendenden Eroberung unter dem ersten Napoleon zu den Erinnerungen,
die in den Franzosen immer von neuem Hoffnungen und Wünsche wieder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/205>, abgerufen am 25.08.2024.