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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Gelo Ludwigs gesammelte Schriften

Wäre wohl selbst der letzte gewesen, der diesem "toten Kinde" Thränen
nachgeweint hätte. Die Novelle "Maria," angeregt einerseits durch Bürgers
Ballade "Des Pfarrers Tochter von Taubenhain" (wie auch Ludwigs "Pfarr-
rvse"), andrerseits durch Goethes Idylle von Sesenheim, ist ein höchst inter¬
essantes, feinsinniges (man lese z. V. die Stelle über die menschliche Eitelkeit
II. Bd, S. 59) und gehaltreiches kleines Werk, auf dem der liebevolle Blick
des Dichters auch noch in spätern Jahren gern haften blieb, im Gegenteil zu
andern Jugendwerken, die er meist schnell beiseite schob oder gar den Flammen
übergab.

In demi dritten und vierten Bande folgen nun die "Dramatischen Werke,"
Otto Ludwigs Lieblingskinder, und doch hat man sich gerade an ihnen am
längsten versündigt. Außer seinen großen Meisterwerken, dem "Erbförster" und
den "Mnkkabäern," waren von der ersten Sammlung uur noch ein fertiges
Drama "Das Fräulein von Sanders" und drei Fragmente, "Die Torgauer
Heide," "Der Engel von Augsburg" und "Tiberius Gracchus" in Gnaden
angenommen worden. Alle übrigen, das heitere und anmutvolle Lustspiel "Hans
Frei," die beiden ergreifenden bürgerlichen Trauerspiele "Die Pfarrrose" und
"Die Rechte des Herzens," ferner die vielen andern Fragmente hatte man
verworfen; nur die letztgenannte Tragödie wurde 1877 in einer kleinen Sonder¬
aufgabe nachgetragen. Hier war eine völlig neue Ausgabe, die endlich dem
Dichter und seinen Werken Gerechtigkeit wiederfahren ließ, ein dringendes Be¬
dürfnis. Stern, der die vollendeten Dramen im vierten Bande vereinigt und
mit Einleitungen begleitet hat, hat von Fragmenten nur ein charakteristisches
Ergänzungsstück zu den "Makkabäern" aus der "Makkabäerin" hinzugefügt. Alle
übrigen Bruchstücke hat Erich Schmidt im fünften Bande bearbeitet und hier
alles, was von allgemeinerer Bedeutung ist, treulich mitgeteilt, die bloßen
Entwürfe aber wenigstens in einem eingehenden und gehaltvollen Vorbericht
aufgezählt und kurz chamkterisirt. Der Text erscheint bei beiden Herausgebern
mit gleicher Sorgfalt behandelt und gegen die ältern Abdrücke in dankenswerter
Weise verbessert.

Gewaltige Werke, wahre Niesen in unserm dramatischen Litteraturwald
sind es, die uns in dem vierten Bande entgegentreten. Voran der düstre
"Erbförster" mit seiner anfangs so verblüffenden tragischen Wucht, die, mäch¬
tigen Eindrücken des Lebens entsprechend, nichts gemein hat mit der krassen
Effekthascherei und der widerwärtigen Greuelmalerei vieler unsrer heutigen
Naturalisten. Ganz gewiß sind es hier kleine Ursachen, die große Wirkungen
hervorrufen, und ebenso gewiß liegt darin eine Schwäche des Dramas, die
Ludwig selbst wohl erkannt hat, wenn er später in seinen "Studien" bedauerte,
daß die Motive der Handlung nicht von vornherein tragisch seien; aber deshalb
ist der "Erbförstcr" noch längst keine Schicksalstragödie, wie ihn kurzsichtige
Schablonenkritiker alter und neuer Zeit gern genannt haben. Die tragische


Gelo Ludwigs gesammelte Schriften

Wäre wohl selbst der letzte gewesen, der diesem „toten Kinde" Thränen
nachgeweint hätte. Die Novelle „Maria," angeregt einerseits durch Bürgers
Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain" (wie auch Ludwigs „Pfarr-
rvse"), andrerseits durch Goethes Idylle von Sesenheim, ist ein höchst inter¬
essantes, feinsinniges (man lese z. V. die Stelle über die menschliche Eitelkeit
II. Bd, S. 59) und gehaltreiches kleines Werk, auf dem der liebevolle Blick
des Dichters auch noch in spätern Jahren gern haften blieb, im Gegenteil zu
andern Jugendwerken, die er meist schnell beiseite schob oder gar den Flammen
übergab.

In demi dritten und vierten Bande folgen nun die „Dramatischen Werke,"
Otto Ludwigs Lieblingskinder, und doch hat man sich gerade an ihnen am
längsten versündigt. Außer seinen großen Meisterwerken, dem „Erbförster" und
den „Mnkkabäern," waren von der ersten Sammlung uur noch ein fertiges
Drama „Das Fräulein von Sanders" und drei Fragmente, „Die Torgauer
Heide," „Der Engel von Augsburg" und „Tiberius Gracchus" in Gnaden
angenommen worden. Alle übrigen, das heitere und anmutvolle Lustspiel „Hans
Frei," die beiden ergreifenden bürgerlichen Trauerspiele „Die Pfarrrose" und
„Die Rechte des Herzens," ferner die vielen andern Fragmente hatte man
verworfen; nur die letztgenannte Tragödie wurde 1877 in einer kleinen Sonder¬
aufgabe nachgetragen. Hier war eine völlig neue Ausgabe, die endlich dem
Dichter und seinen Werken Gerechtigkeit wiederfahren ließ, ein dringendes Be¬
dürfnis. Stern, der die vollendeten Dramen im vierten Bande vereinigt und
mit Einleitungen begleitet hat, hat von Fragmenten nur ein charakteristisches
Ergänzungsstück zu den „Makkabäern" aus der „Makkabäerin" hinzugefügt. Alle
übrigen Bruchstücke hat Erich Schmidt im fünften Bande bearbeitet und hier
alles, was von allgemeinerer Bedeutung ist, treulich mitgeteilt, die bloßen
Entwürfe aber wenigstens in einem eingehenden und gehaltvollen Vorbericht
aufgezählt und kurz chamkterisirt. Der Text erscheint bei beiden Herausgebern
mit gleicher Sorgfalt behandelt und gegen die ältern Abdrücke in dankenswerter
Weise verbessert.

Gewaltige Werke, wahre Niesen in unserm dramatischen Litteraturwald
sind es, die uns in dem vierten Bande entgegentreten. Voran der düstre
„Erbförster" mit seiner anfangs so verblüffenden tragischen Wucht, die, mäch¬
tigen Eindrücken des Lebens entsprechend, nichts gemein hat mit der krassen
Effekthascherei und der widerwärtigen Greuelmalerei vieler unsrer heutigen
Naturalisten. Ganz gewiß sind es hier kleine Ursachen, die große Wirkungen
hervorrufen, und ebenso gewiß liegt darin eine Schwäche des Dramas, die
Ludwig selbst wohl erkannt hat, wenn er später in seinen „Studien" bedauerte,
daß die Motive der Handlung nicht von vornherein tragisch seien; aber deshalb
ist der „Erbförstcr" noch längst keine Schicksalstragödie, wie ihn kurzsichtige
Schablonenkritiker alter und neuer Zeit gern genannt haben. Die tragische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/190>, abgerufen am 22.07.2024.