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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Veto Ludwigs gesammelte Schiiften

Volkshumor wie bei Reuter, nciiv und unbewußt. Nichts Gekünsteltes, nichts
Beabsichtigtes, nichts Raffinirtes ist daran zu merken, unwillkürlich und un¬
mittelbar sprudelt er hervor wie der Quell aus dem Waldboden. Wie die Muse
Ludwigs überhaupt, so trägt besonders sein Humor ein stark lokales Gepräge.
Es ist die phantasievolle, heitere, gutmütige und von Grund aus ehrliche
Thüringerimtur, die überall aus deu handelnden Personen und damit aus
ihrem Schöpfer selbst herausleuchtet. Wie Reuter den Plattdeutschen, ins¬
besondre den Mecklenburger", hat Ludwig hier seineu Thüringern das schönste
Denkmal gesetzt, das nur ein Dichter seinem Volksstamme setzen kann.

Natürlich hatte der Dichter, ehe er diese klassischen Erzählungen schaffen
konnte, eine Reihe von Übuugsstufen durchlaufen, denn auch in Thüringen
fällt kein Meister vom Himmel. Die unvollständige Ausgabe vom Jahre 1870
hatte aber die Werke der Lehr- und Wanderjnhre ganz weggelassen. In die
neue Sammlung sind drei ausgenommen. Jeden aufmerksamen Leser der Bio¬
graphie wird es verwundern, daß Ludwigs "Erstlingsnvvelle," "Die Emanzi¬
pation der Dienstboten," nicht dabei ist; aber auch hier galt es, wie bei den
Gedichten, auszuschließen, was noch allzu dilettantisch, allzu abhangig von
fremdem Einfluß, ohne die Anfänge selbständigen Empfindens und Gestaltens
erschien. Die früheste Erzählung Otto Ludwigs, die die neue Ausgabe ent¬
hält, ist "Die wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen," ein satirisches
Märchen, das Ludwig im Sommer 1842 als humoristisches Ergebnis seiner
etwas niederschlagenden Erfahrungen in Leipzig schrieb.*) Für die volle
Wirkung des geistvollen Capriccios ist es heute schon in gewissem Sinne zu
spät, denn dein heutigen Leser stehen doch die damaligen, etwas verwickelten
Litteratur- und Gcsellschaftsverhältnisfe Leipzigs, auf die die Satire zugespitzt
ist, schon zu sern, als daß man alle Anspielungen verstünde; aber auch die
ganze Erzählungsart, wie mancherlei Anklänge an Immermann und Jean
Paul, schwächen den Eindruck ab, obgleich dem Werkchen feiner Witz und spru¬
delnde Phantasie nicht abzusprechen sind.

Anders steht es mit den beiden letzten Erzählungen dieses Bandes, dem
Fragment "Aus einem alten Schulmeisterleben," das eine lustige Vaueru-
brautfcchrt behandelt, und der tiefsinnigen Novelle "Maria." Beide Geschichten,
bisher noch ungedruckt, zeigen "eben mannigfacher Abhängigkeit von andern
doch schon deutlich den zukünftigen selbständigen Meister; die eine mehr den
urwüchsigen thüringischen Volkshumor, die andre mehr die feine Charakter¬
zeichnung. Mit der Wahl der Brautfahrt hat die Gruuowsche Ausgabe ohne
Frage eine" glücklichern Griff gethan als die Zänkische Volksbibliothek mit
dem "Märchen vom toten Kinde" aus demselben Rvmanfragment. Ludwig



*) Unsern Lesern wohlbekannt, denn es erschien zuerst in den Grenzboten (1830, Bd, IV.)
D. R.
Veto Ludwigs gesammelte Schiiften

Volkshumor wie bei Reuter, nciiv und unbewußt. Nichts Gekünsteltes, nichts
Beabsichtigtes, nichts Raffinirtes ist daran zu merken, unwillkürlich und un¬
mittelbar sprudelt er hervor wie der Quell aus dem Waldboden. Wie die Muse
Ludwigs überhaupt, so trägt besonders sein Humor ein stark lokales Gepräge.
Es ist die phantasievolle, heitere, gutmütige und von Grund aus ehrliche
Thüringerimtur, die überall aus deu handelnden Personen und damit aus
ihrem Schöpfer selbst herausleuchtet. Wie Reuter den Plattdeutschen, ins¬
besondre den Mecklenburger», hat Ludwig hier seineu Thüringern das schönste
Denkmal gesetzt, das nur ein Dichter seinem Volksstamme setzen kann.

Natürlich hatte der Dichter, ehe er diese klassischen Erzählungen schaffen
konnte, eine Reihe von Übuugsstufen durchlaufen, denn auch in Thüringen
fällt kein Meister vom Himmel. Die unvollständige Ausgabe vom Jahre 1870
hatte aber die Werke der Lehr- und Wanderjnhre ganz weggelassen. In die
neue Sammlung sind drei ausgenommen. Jeden aufmerksamen Leser der Bio¬
graphie wird es verwundern, daß Ludwigs „Erstlingsnvvelle," „Die Emanzi¬
pation der Dienstboten," nicht dabei ist; aber auch hier galt es, wie bei den
Gedichten, auszuschließen, was noch allzu dilettantisch, allzu abhangig von
fremdem Einfluß, ohne die Anfänge selbständigen Empfindens und Gestaltens
erschien. Die früheste Erzählung Otto Ludwigs, die die neue Ausgabe ent¬
hält, ist „Die wahrhaftige Geschichte von den drei Wünschen," ein satirisches
Märchen, das Ludwig im Sommer 1842 als humoristisches Ergebnis seiner
etwas niederschlagenden Erfahrungen in Leipzig schrieb.*) Für die volle
Wirkung des geistvollen Capriccios ist es heute schon in gewissem Sinne zu
spät, denn dein heutigen Leser stehen doch die damaligen, etwas verwickelten
Litteratur- und Gcsellschaftsverhältnisfe Leipzigs, auf die die Satire zugespitzt
ist, schon zu sern, als daß man alle Anspielungen verstünde; aber auch die
ganze Erzählungsart, wie mancherlei Anklänge an Immermann und Jean
Paul, schwächen den Eindruck ab, obgleich dem Werkchen feiner Witz und spru¬
delnde Phantasie nicht abzusprechen sind.

Anders steht es mit den beiden letzten Erzählungen dieses Bandes, dem
Fragment „Aus einem alten Schulmeisterleben," das eine lustige Vaueru-
brautfcchrt behandelt, und der tiefsinnigen Novelle „Maria." Beide Geschichten,
bisher noch ungedruckt, zeigen »eben mannigfacher Abhängigkeit von andern
doch schon deutlich den zukünftigen selbständigen Meister; die eine mehr den
urwüchsigen thüringischen Volkshumor, die andre mehr die feine Charakter¬
zeichnung. Mit der Wahl der Brautfahrt hat die Gruuowsche Ausgabe ohne
Frage eine» glücklichern Griff gethan als die Zänkische Volksbibliothek mit
dem „Märchen vom toten Kinde" aus demselben Rvmanfragment. Ludwig



*) Unsern Lesern wohlbekannt, denn es erschien zuerst in den Grenzboten (1830, Bd, IV.)
D. R.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/189>, abgerufen am 22.07.2024.