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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Sünden Wachstum allezeit gefunden haben, wenn es wahr wäre, daß Deutsch¬
land ans nlleu vier Seiten von Kulturvölkern umgeben sei, in deren Ge¬
bieten es nichts mehr zu kvlonisiren gebe, dann müßte entweder das fran¬
zösische Zwcikindershstem gesetzlich eingeführt werden, oder der anstciudige, aber
vermögenslose Man" müßte sich beim Anblick eines Strolchs^) sagen: so



^ Vor 1360 Jahren hat ein gewisser Jesus eine neue Religion verkündigt: die Re¬
ligion der Liebe; nicht als ob die Liebe etwas neues gewesen wäre, sondern indem er lehrte,
daß sie das Wesen Gottes und das einzige Gebot in seinem Reiche sei, und er hat zugleich
versichert, daß des Menschen Schicksal in der Ewigkeit einzig und allein davon abhänge, ob
er Nächstenliebe geübt habe oder nicht. So läßt er den Weltenrichter sprechen: "Weichet von
mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinem Anhang bereitet ist; denn
ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist, ich bin nackend gewesen, und ihr
habt mich nicht gekleidet, ich bin obdachlos gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt."
Das ist um vollständig vergessen! Kein Wunder, da es ja schon so lange her ist. Heute
gilt eine andre Religion, die das gerade Gegenteil von jener ist. Almosengeben ist polizeilich
verboten, und der Hilflose ist nicht mehr Gegenstand der Barmherzigkeit, sondern ein Ver¬
brecher, den man Strolch nennt. Ja die drei Dinge, die den Gipfel des Elends bilden:
Stellen- oder Bernsslosigteit, Hunger und Obdachlosigkeit sind die schlimmsten aller Verbrechen.
Der kühne "Unternehmer," der das Vermögen von einigen hundert Witwen und Waisen ver¬
praßt hat, wird vor Gericht mit der zartesten Schonung behandelt und von Zeit zu Zeit
gefragt, ob ihm nicht ein Glas Portwein zur Herzstärknng gefällig sei, und eine Fran
Heinz-, die sich besser Rat weiß als mit betteln, wird beinahe derselben Rücksicht teilhaftig;
ein großer Raubmörder vollends erscheint dem Publikum vom Glänze der Romantik um-
flossen. Aber ein zerlumpter Mensch, der von Hunger entkräftet ans der Straße liegt, ist
nur ein Ungeziefer, das man mit dem Fuße fortstößt. Es soll nicht geleugnet werden, daß
viele Strolche ihre Lage durch Leichtsinn oder Faulheit verschuldet haben. Aber die meisten
sind Leute, die entweder nicht genug Energie hatten, einen andern von seinem Platze zu ver¬
drängen, oder noch zu viel Energie, sich einem entwürdigenden Arbeitsverhältnis zu fügen;
manche von Geburt aus körperlich unfähig für den heutigen Kampf ums Dasein, wie jener
als Krüppel geborene Töpfer zu Boizenburg a. E., der kürzlich in seiner Gefängniszelle um¬
gekommen ist; in vier Wochen hatte der kranke Mensch, der in seinen Kleiderlumpcn ohne
Hemd auf der Streu lag, nur einmal frisches Stroh bekomme". (Vorwärts, Ur. 239.) Es
gehört zu den tollsten Späßen der Weltgeschichte, daß derselbe Staat, der die echte christliche
Religion verbietet, jene Religion, die er zwangsweise in seinen Schulen einpauken läßt, auch
Christentum nennt, und daß es nicht wenig Leute giebt, die dieses Scheinchristentnm ganz
aufrichtig für das Christentum Christi halten. Übrigens sind wir weit entfernt davon, diesen
guten Leuten ihre Selbsttäuschung übel zu nehmen. Die Freigebung des Bettels würde
Westeuropa mit Armeen von zusammen zwanzig bis dreißig Millionen Bettlern und Vaga-
bunden überschwemmen. Es steckt ein Wahrheitskern in der Ansicht der Marxisten, daß die
Religion ein Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse sei. Im römischen Reich war das
ursprüngliche Christentum möglich, in unsern übervölkerten Industriestaaten ist es unmöglich. In einer gar Übeln Lage aber befinden sich die Richter, die das Zwangsverfahren gegen
Unglückliche mit dem Scheine des Rechtes umkleiden sollen. Denn unsre Richter, namentlich
die ältern, sind doch großenteils einsichtige, gerechte und wohlwollende Männer. Erst vor
kurzem wiederum hat einer in Berlin für einen armen Musikus, dem er uicht zu seinem
Rechte verhelfen konnte, eine Sammlung veranstaltet. Nicht selten auch weisen sie den Über¬
eifer der Polizeiorgane in der Verfolgung des Bettels zurück und zurecht. So hat es ein Richter

Sünden Wachstum allezeit gefunden haben, wenn es wahr wäre, daß Deutsch¬
land ans nlleu vier Seiten von Kulturvölkern umgeben sei, in deren Ge¬
bieten es nichts mehr zu kvlonisiren gebe, dann müßte entweder das fran¬
zösische Zwcikindershstem gesetzlich eingeführt werden, oder der anstciudige, aber
vermögenslose Man» müßte sich beim Anblick eines Strolchs^) sagen: so



^ Vor 1360 Jahren hat ein gewisser Jesus eine neue Religion verkündigt: die Re¬
ligion der Liebe; nicht als ob die Liebe etwas neues gewesen wäre, sondern indem er lehrte,
daß sie das Wesen Gottes und das einzige Gebot in seinem Reiche sei, und er hat zugleich
versichert, daß des Menschen Schicksal in der Ewigkeit einzig und allein davon abhänge, ob
er Nächstenliebe geübt habe oder nicht. So läßt er den Weltenrichter sprechen: „Weichet von
mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinem Anhang bereitet ist; denn
ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist, ich bin nackend gewesen, und ihr
habt mich nicht gekleidet, ich bin obdachlos gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt."
Das ist um vollständig vergessen! Kein Wunder, da es ja schon so lange her ist. Heute
gilt eine andre Religion, die das gerade Gegenteil von jener ist. Almosengeben ist polizeilich
verboten, und der Hilflose ist nicht mehr Gegenstand der Barmherzigkeit, sondern ein Ver¬
brecher, den man Strolch nennt. Ja die drei Dinge, die den Gipfel des Elends bilden:
Stellen- oder Bernsslosigteit, Hunger und Obdachlosigkeit sind die schlimmsten aller Verbrechen.
Der kühne „Unternehmer," der das Vermögen von einigen hundert Witwen und Waisen ver¬
praßt hat, wird vor Gericht mit der zartesten Schonung behandelt und von Zeit zu Zeit
gefragt, ob ihm nicht ein Glas Portwein zur Herzstärknng gefällig sei, und eine Fran
Heinz-, die sich besser Rat weiß als mit betteln, wird beinahe derselben Rücksicht teilhaftig;
ein großer Raubmörder vollends erscheint dem Publikum vom Glänze der Romantik um-
flossen. Aber ein zerlumpter Mensch, der von Hunger entkräftet ans der Straße liegt, ist
nur ein Ungeziefer, das man mit dem Fuße fortstößt. Es soll nicht geleugnet werden, daß
viele Strolche ihre Lage durch Leichtsinn oder Faulheit verschuldet haben. Aber die meisten
sind Leute, die entweder nicht genug Energie hatten, einen andern von seinem Platze zu ver¬
drängen, oder noch zu viel Energie, sich einem entwürdigenden Arbeitsverhältnis zu fügen;
manche von Geburt aus körperlich unfähig für den heutigen Kampf ums Dasein, wie jener
als Krüppel geborene Töpfer zu Boizenburg a. E., der kürzlich in seiner Gefängniszelle um¬
gekommen ist; in vier Wochen hatte der kranke Mensch, der in seinen Kleiderlumpcn ohne
Hemd auf der Streu lag, nur einmal frisches Stroh bekomme». (Vorwärts, Ur. 239.) Es
gehört zu den tollsten Späßen der Weltgeschichte, daß derselbe Staat, der die echte christliche
Religion verbietet, jene Religion, die er zwangsweise in seinen Schulen einpauken läßt, auch
Christentum nennt, und daß es nicht wenig Leute giebt, die dieses Scheinchristentnm ganz
aufrichtig für das Christentum Christi halten. Übrigens sind wir weit entfernt davon, diesen
guten Leuten ihre Selbsttäuschung übel zu nehmen. Die Freigebung des Bettels würde
Westeuropa mit Armeen von zusammen zwanzig bis dreißig Millionen Bettlern und Vaga-
bunden überschwemmen. Es steckt ein Wahrheitskern in der Ansicht der Marxisten, daß die
Religion ein Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse sei. Im römischen Reich war das
ursprüngliche Christentum möglich, in unsern übervölkerten Industriestaaten ist es unmöglich. In einer gar Übeln Lage aber befinden sich die Richter, die das Zwangsverfahren gegen
Unglückliche mit dem Scheine des Rechtes umkleiden sollen. Denn unsre Richter, namentlich
die ältern, sind doch großenteils einsichtige, gerechte und wohlwollende Männer. Erst vor
kurzem wiederum hat einer in Berlin für einen armen Musikus, dem er uicht zu seinem
Rechte verhelfen konnte, eine Sammlung veranstaltet. Nicht selten auch weisen sie den Über¬
eifer der Polizeiorgane in der Verfolgung des Bettels zurück und zurecht. So hat es ein Richter
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/181>, abgerufen am 30.06.2024.