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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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bis ihr jetzt, wo sie die Agitation aufs Land zu tragen versucht, eine Ahnung
davon aufgegangen ist. Gestützt auf rein theoretische Erwägungen, wie die
Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes, hatte sie geglaubt, mau werde sie
mit offnen Armen aufnehmen, aber im großen und ganzen hat sie sich getäuscht.
Nur auf den plantagenmäßig bewirtschafteten großen Herrschaften und in ein¬
zelnen übervölkerten Gegenden, wo der Kleinbauernstand schon proletarisch ver¬
lumpt ist, haben die Agitatoren Aussicht ans Erfolg. Der zunehmende Militär-
und Steuerdruck allerdings wird ihnen mit der Zeit auch in der wirklichen
Bauernschaft Anhang verschaffen, nicht als ob die Bauern jemals Kommu¬
nisten werden könnten, sondern weil sie eine kräftige Opposition wollen. Auch
über die französischen Zustände lassen sich unsre Sozialdemokratin! durch ihre
rein theoretische Betrachtungsweise täuschen. Sie bilden sich ein, die franzö¬
sischen Bauern würden demnächst massenhaft dem Sozialismus zufallen, weil
beinahe die Hälfte davon so winzige Besitzungen habe, daß ihre Lage not¬
wendig elend sein müsse.") Mau vergißt dabei, daß ein Gütchen von zwei
Morgen seinen Besitzer sehr anständig nähren kann, wenn es ein Weingut in
günstiger Lage ist, und daß eine Tagelöhner-, Bergarbeiter- oder Mnnrer-
familie in ihrer Weise und nach ihrem Geschmack ganz behaglich lebt, wen"
sie ein eignes Häuschen und ein paar Morgen Acker hat, die noch nicht Wein-
land zu sein brauchen.

So lange die städtische und industrielle Bevölkerung noch im richtigen
Verhältnis zur ländlichen steht, ist sie noch nicht unglücklich. Die gebildeten
Klassen der Stadtbewohner werden dnrch ihre Besitzungen in der geistigen Welt
für die fehlende" Landgüter einigermaßen entschädigt, die Handwerker sind
meistens Haus- und Gartenbesitzer, und beiden ist die Erholung in der Natur
noch nicht durch so ungeheuerliche Übertreibungen in der Geltendmachung des
Eigentumsrechts verschränkt, wie wir sie heute in Deutschland erleben. Sobald
aber die Landbevölkerung nnr noch die Minderheit bildet, fängt die Unnatur
an und mit ihr das Unheil.

Noch einmal: nicht wir sind Utopisten, sondern die Herren sind es, die
den zwanzig Millionen Leibern, um die unser Volk in den nächsten dreißig
Jahren wachsen wird, ihr Heim und ihre Werkstatt nicht in irgend welchem
Lande auf Erden, sondern im Wolkenknknksheim anweisen. Wenn es wahr
wäre, daß uns Deutschen der Ausweg gesperrt sei, den alle Völker von ge-



Es giebt in Frankreich Betriebe (deren Zahl gerade in der untersten Klasse mit der
Zahl der Besitzer fast zusammenfällt, ein Teil der Betriebsleiter besteht allerdings ans
Pächtern): unter 1 Hektar 2672007, von 1 bis S Hektar 1805378, von 5 bis 20 Hektar
1200505, von 20 bis 40 Hektar 21586", über 40 Hektar 142083. In Frankreich giebt es
also 5738390 Wirtschaften von 1 bis 20 Hektar, in Preußen bloß 1376075; demnach liegt
in Preußen die Gefahr kommunistischer Umsturzversuche weit näher als Frankreich; um
nächsten natürlich in England.

bis ihr jetzt, wo sie die Agitation aufs Land zu tragen versucht, eine Ahnung
davon aufgegangen ist. Gestützt auf rein theoretische Erwägungen, wie die
Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes, hatte sie geglaubt, mau werde sie
mit offnen Armen aufnehmen, aber im großen und ganzen hat sie sich getäuscht.
Nur auf den plantagenmäßig bewirtschafteten großen Herrschaften und in ein¬
zelnen übervölkerten Gegenden, wo der Kleinbauernstand schon proletarisch ver¬
lumpt ist, haben die Agitatoren Aussicht ans Erfolg. Der zunehmende Militär-
und Steuerdruck allerdings wird ihnen mit der Zeit auch in der wirklichen
Bauernschaft Anhang verschaffen, nicht als ob die Bauern jemals Kommu¬
nisten werden könnten, sondern weil sie eine kräftige Opposition wollen. Auch
über die französischen Zustände lassen sich unsre Sozialdemokratin! durch ihre
rein theoretische Betrachtungsweise täuschen. Sie bilden sich ein, die franzö¬
sischen Bauern würden demnächst massenhaft dem Sozialismus zufallen, weil
beinahe die Hälfte davon so winzige Besitzungen habe, daß ihre Lage not¬
wendig elend sein müsse.") Mau vergißt dabei, daß ein Gütchen von zwei
Morgen seinen Besitzer sehr anständig nähren kann, wenn es ein Weingut in
günstiger Lage ist, und daß eine Tagelöhner-, Bergarbeiter- oder Mnnrer-
familie in ihrer Weise und nach ihrem Geschmack ganz behaglich lebt, wen»
sie ein eignes Häuschen und ein paar Morgen Acker hat, die noch nicht Wein-
land zu sein brauchen.

So lange die städtische und industrielle Bevölkerung noch im richtigen
Verhältnis zur ländlichen steht, ist sie noch nicht unglücklich. Die gebildeten
Klassen der Stadtbewohner werden dnrch ihre Besitzungen in der geistigen Welt
für die fehlende» Landgüter einigermaßen entschädigt, die Handwerker sind
meistens Haus- und Gartenbesitzer, und beiden ist die Erholung in der Natur
noch nicht durch so ungeheuerliche Übertreibungen in der Geltendmachung des
Eigentumsrechts verschränkt, wie wir sie heute in Deutschland erleben. Sobald
aber die Landbevölkerung nnr noch die Minderheit bildet, fängt die Unnatur
an und mit ihr das Unheil.

Noch einmal: nicht wir sind Utopisten, sondern die Herren sind es, die
den zwanzig Millionen Leibern, um die unser Volk in den nächsten dreißig
Jahren wachsen wird, ihr Heim und ihre Werkstatt nicht in irgend welchem
Lande auf Erden, sondern im Wolkenknknksheim anweisen. Wenn es wahr
wäre, daß uns Deutschen der Ausweg gesperrt sei, den alle Völker von ge-



Es giebt in Frankreich Betriebe (deren Zahl gerade in der untersten Klasse mit der
Zahl der Besitzer fast zusammenfällt, ein Teil der Betriebsleiter besteht allerdings ans
Pächtern): unter 1 Hektar 2672007, von 1 bis S Hektar 1805378, von 5 bis 20 Hektar
1200505, von 20 bis 40 Hektar 21586», über 40 Hektar 142083. In Frankreich giebt es
also 5738390 Wirtschaften von 1 bis 20 Hektar, in Preußen bloß 1376075; demnach liegt
in Preußen die Gefahr kommunistischer Umsturzversuche weit näher als Frankreich; um
nächsten natürlich in England.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/180>, abgerufen am 02.07.2024.