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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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eine neue mächtige Mittelstandspactei zu gründen, dann mag sich unsre ganze
Politik begraben lassen! Denn welcher vernünftige Mensch, wenn er nicht zu¬
fällig Branntweinbrenner oder Tabakpflanzer oder Politiker von Profession ist,
wird sich noch ernsthaft mit den ehrwürdigen Mumien der "staatserhaltenden"
Parteien beschäftigen! Läuft ja doch deren ganze Regiernngsweisheit darauf
hinaus, alle unruhigen Geister, die ihren Süknlarschlaf^) stören, durch Ein-
sperrung ins Gefängnis oder, was noch bePiemer, anständiger und sicherer ist,
ins Narrenhaus stillznmachen. So bleiben also vorläufig, bis wir eine neue
Oppositionspartei habe" werden, die Sozialdemokraten das einzige Element
politischen Lebens in: Reiche.

Günstig haben unser Buch vorzugsweise konservative Organe aufgenommen;
dazu kommen dann noch zwei österreichische: die Deutsche Zeitung und die
vortrefflichen "Deutschen Worte" des Demokraten Engelbert Pernerstorfer.
Zurückhaltender, kürzer, nur bedingt anerkennend äußern sich die größer" mittel-
parteilicheu Organe. Eine beinahe vollständige Inhaltsangabe hat nur die
Münchner Allgemeine Zeitung gebracht, die auch einige Stellen wörtlich ab¬
drückt. Es giebt eben bei den Konservativen und in den Mittelparteien viele
wackere Leute und tüchtige Köpfe, die der Parteischablone entwachsen sind, und
die zu einer neuen Bildung zu sammeln die nächste Aufgabe unsrer innern
Politik ist.

Auch einige der wohlwollenden Beurteiler haben den im 15. Kapitel des
Buches entwickelten Plan für eine Utopie erklärt. Dieser Plan, der übrigens
nur nach Lesung der vorhergehenden Kapitel richtig verstanden und gewürdigt
werden kaun, besteht in Kürze darin, daß durch ein Bündnis der mittel-
und westeuropäischen Mächte uns Deutsche" der Osten Europas und Vorder-
asien, den Italienern Südamerika als neues Kolvuisatious-, Erwerbs- und
Thätigkeitsgebiet erschlossen werden soll. Aber nicht dieser Plan ist utopisch,
sondern die Einbildung, das deutsche Volk könne bei seiner Gott sei Dank
noch u"geschwächten Vermehruugskmft in seinen jetzigen Grenzen noch zwanzig,
dreißig, fünfzig Jahre fortleben. Wo will man denn hin mit den zwanzig



Auf einen solchen haben sie sich augenscheinlich eingerichtet. Geradeso wie der Papst
und der Herzog von Cumberland, sehen sie die lebendige Welt für ein Spiritnspräparat um
und gedenken die Staats- und Gesellschaftsform, die ihnen persönlich am besten zusagt, bis
zum jüngsten Tage zu konserviren. Den Männern, die das große Wert von 1366 und 187U
vollbracht haben, war es nicht zu verarge", daß sie sich aufs Erhalten und Befestigen des ruhm-
voll Vollbrachten beschränkten, uni so weniger, als sie damals schon im Greisenalter oder ihm
nahe standen. Die Jüngern aber haben zu bedenken, daß eS nur für vorgeschichtliche und
für abgestorbne, nicht aber für lebendige Volker einen Beharrungsznstand giebt. Die Be¬
deutung des großen Werkes von 1866 und 1870 liegt nicht in einem ruhigen Besitz oder
Glücksznsiaiide, den wir dadurch gewonnen hätte", sondern darin, daß es dem deutschen Volte
die Möglichkeit und die Machtmittel verschafft hat, seine große Sendung zu erfülle" ""d für
die europäische Menschheit einen neue" Entwicklungsabschnitt einzuleiten.

eine neue mächtige Mittelstandspactei zu gründen, dann mag sich unsre ganze
Politik begraben lassen! Denn welcher vernünftige Mensch, wenn er nicht zu¬
fällig Branntweinbrenner oder Tabakpflanzer oder Politiker von Profession ist,
wird sich noch ernsthaft mit den ehrwürdigen Mumien der „staatserhaltenden"
Parteien beschäftigen! Läuft ja doch deren ganze Regiernngsweisheit darauf
hinaus, alle unruhigen Geister, die ihren Süknlarschlaf^) stören, durch Ein-
sperrung ins Gefängnis oder, was noch bePiemer, anständiger und sicherer ist,
ins Narrenhaus stillznmachen. So bleiben also vorläufig, bis wir eine neue
Oppositionspartei habe» werden, die Sozialdemokraten das einzige Element
politischen Lebens in: Reiche.

Günstig haben unser Buch vorzugsweise konservative Organe aufgenommen;
dazu kommen dann noch zwei österreichische: die Deutsche Zeitung und die
vortrefflichen „Deutschen Worte" des Demokraten Engelbert Pernerstorfer.
Zurückhaltender, kürzer, nur bedingt anerkennend äußern sich die größer» mittel-
parteilicheu Organe. Eine beinahe vollständige Inhaltsangabe hat nur die
Münchner Allgemeine Zeitung gebracht, die auch einige Stellen wörtlich ab¬
drückt. Es giebt eben bei den Konservativen und in den Mittelparteien viele
wackere Leute und tüchtige Köpfe, die der Parteischablone entwachsen sind, und
die zu einer neuen Bildung zu sammeln die nächste Aufgabe unsrer innern
Politik ist.

Auch einige der wohlwollenden Beurteiler haben den im 15. Kapitel des
Buches entwickelten Plan für eine Utopie erklärt. Dieser Plan, der übrigens
nur nach Lesung der vorhergehenden Kapitel richtig verstanden und gewürdigt
werden kaun, besteht in Kürze darin, daß durch ein Bündnis der mittel-
und westeuropäischen Mächte uns Deutsche» der Osten Europas und Vorder-
asien, den Italienern Südamerika als neues Kolvuisatious-, Erwerbs- und
Thätigkeitsgebiet erschlossen werden soll. Aber nicht dieser Plan ist utopisch,
sondern die Einbildung, das deutsche Volk könne bei seiner Gott sei Dank
noch u»geschwächten Vermehruugskmft in seinen jetzigen Grenzen noch zwanzig,
dreißig, fünfzig Jahre fortleben. Wo will man denn hin mit den zwanzig



Auf einen solchen haben sie sich augenscheinlich eingerichtet. Geradeso wie der Papst
und der Herzog von Cumberland, sehen sie die lebendige Welt für ein Spiritnspräparat um
und gedenken die Staats- und Gesellschaftsform, die ihnen persönlich am besten zusagt, bis
zum jüngsten Tage zu konserviren. Den Männern, die das große Wert von 1366 und 187U
vollbracht haben, war es nicht zu verarge», daß sie sich aufs Erhalten und Befestigen des ruhm-
voll Vollbrachten beschränkten, uni so weniger, als sie damals schon im Greisenalter oder ihm
nahe standen. Die Jüngern aber haben zu bedenken, daß eS nur für vorgeschichtliche und
für abgestorbne, nicht aber für lebendige Volker einen Beharrungsznstand giebt. Die Be¬
deutung des großen Werkes von 1866 und 1870 liegt nicht in einem ruhigen Besitz oder
Glücksznsiaiide, den wir dadurch gewonnen hätte», sondern darin, daß es dem deutschen Volte
die Möglichkeit und die Machtmittel verschafft hat, seine große Sendung zu erfülle» »»d für
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[0174] eine neue mächtige Mittelstandspactei zu gründen, dann mag sich unsre ganze Politik begraben lassen! Denn welcher vernünftige Mensch, wenn er nicht zu¬ fällig Branntweinbrenner oder Tabakpflanzer oder Politiker von Profession ist, wird sich noch ernsthaft mit den ehrwürdigen Mumien der „staatserhaltenden" Parteien beschäftigen! Läuft ja doch deren ganze Regiernngsweisheit darauf hinaus, alle unruhigen Geister, die ihren Süknlarschlaf^) stören, durch Ein- sperrung ins Gefängnis oder, was noch bePiemer, anständiger und sicherer ist, ins Narrenhaus stillznmachen. So bleiben also vorläufig, bis wir eine neue Oppositionspartei habe» werden, die Sozialdemokraten das einzige Element politischen Lebens in: Reiche. Günstig haben unser Buch vorzugsweise konservative Organe aufgenommen; dazu kommen dann noch zwei österreichische: die Deutsche Zeitung und die vortrefflichen „Deutschen Worte" des Demokraten Engelbert Pernerstorfer. Zurückhaltender, kürzer, nur bedingt anerkennend äußern sich die größer» mittel- parteilicheu Organe. Eine beinahe vollständige Inhaltsangabe hat nur die Münchner Allgemeine Zeitung gebracht, die auch einige Stellen wörtlich ab¬ drückt. Es giebt eben bei den Konservativen und in den Mittelparteien viele wackere Leute und tüchtige Köpfe, die der Parteischablone entwachsen sind, und die zu einer neuen Bildung zu sammeln die nächste Aufgabe unsrer innern Politik ist. Auch einige der wohlwollenden Beurteiler haben den im 15. Kapitel des Buches entwickelten Plan für eine Utopie erklärt. Dieser Plan, der übrigens nur nach Lesung der vorhergehenden Kapitel richtig verstanden und gewürdigt werden kaun, besteht in Kürze darin, daß durch ein Bündnis der mittel- und westeuropäischen Mächte uns Deutsche» der Osten Europas und Vorder- asien, den Italienern Südamerika als neues Kolvuisatious-, Erwerbs- und Thätigkeitsgebiet erschlossen werden soll. Aber nicht dieser Plan ist utopisch, sondern die Einbildung, das deutsche Volk könne bei seiner Gott sei Dank noch u»geschwächten Vermehruugskmft in seinen jetzigen Grenzen noch zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre fortleben. Wo will man denn hin mit den zwanzig Auf einen solchen haben sie sich augenscheinlich eingerichtet. Geradeso wie der Papst und der Herzog von Cumberland, sehen sie die lebendige Welt für ein Spiritnspräparat um und gedenken die Staats- und Gesellschaftsform, die ihnen persönlich am besten zusagt, bis zum jüngsten Tage zu konserviren. Den Männern, die das große Wert von 1366 und 187U vollbracht haben, war es nicht zu verarge», daß sie sich aufs Erhalten und Befestigen des ruhm- voll Vollbrachten beschränkten, uni so weniger, als sie damals schon im Greisenalter oder ihm nahe standen. Die Jüngern aber haben zu bedenken, daß eS nur für vorgeschichtliche und für abgestorbne, nicht aber für lebendige Volker einen Beharrungsznstand giebt. Die Be¬ deutung des großen Werkes von 1866 und 1870 liegt nicht in einem ruhigen Besitz oder Glücksznsiaiide, den wir dadurch gewonnen hätte», sondern darin, daß es dem deutschen Volte die Möglichkeit und die Machtmittel verschafft hat, seine große Sendung zu erfülle» »»d für die europäische Menschheit einen neue» Entwicklungsabschnitt einzuleiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/174>, abgerufen am 24.07.2024.