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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Luropci und England

Wird jeder französischen Abenteuerpolitik um so mehr abgeneigt sein, je größer
die Anzahl der Bataillone ausfällt, die es den Franzosen leihen müßte, damit
diese Elsaß und Lothringen wieder erobern könnten. Im übrige" wird Ru߬
land, trotz seiner gegen früher stark vermehrten Heercsmncht, weder über Berlin
noch über Wien nach Konstantinopel gehen, und der gegenwärtige Zollkrieg
zwischen Deutschland und Rußland ist nicht tragisch zu nehmen, denn auch
während der dicksten Freundschaft beider Staaten ist nie ein zufriedenstellendes
handelspolitisches Verhältnis möglich gewesen. An den sogenannten "allge¬
meinen Weltbrand," d. h. den Kampf Rußlands und Frankreichs gegen den
Dreibund, glauben wir unter den heutigen Verhältnissen nicht, die kontinen¬
talen Großmächte haben sich nun lange genug gegenseitig in die Augen ge¬
sehen, um zu wissen, daß der Angreifer seine Rechnung nicht finden würde.
Die heutige Lage nach Durchführung der allgemeine" Wehrpflicht deutet i"
allem und jedem auf eine längere friedliche Dauer des gegenwärtige" Zu¬
standes auf dem Festlande von Europa hin; aber wohlgemerkt: wache jeder
el"zel"e Staat sorgsam darüber, daß er mit der Länge der Zeit nicht lau
wird und sein Heer der allgemeinen Wehrpflicht nicht verfallen läßt. Ein
solcher Staat wäre sofort bündnisunfähig, und da die". Kampflust der Volker
und Staaten niemals aufhöre" wird, könnte er leicht die Zeche bezahlen müssen.
"Den letzten beißen die Hunde," sagt der Volksmund.

Während nun sämtliche Großstaaten des europäischen Kontinents diese
zwanzig Jahre und zum Teil noch länger dauernde Entwicklung durchgemacht,
während selbst die dazwischen liegenden Kleinstaaten aus Furcht vor einem
großen Kriege ihre Befestigungen in Ordnung gebracht und ihre Heere zum
Teil schon vermehrt haben oder noch damit beschäftigt sind, giebt es eine"
Großstaat, an dem das alles spurlos vorübergegangen ist, und der beharrlich
bei dem stehen geblieben ist, was er früher hatte oder auch nicht hatte. Dieser
Staat ist England, und niemand kann heute in Zweisel darüber sein, daß
sich die Machtverhältnisse bedeutend zu Ungunsten des britischen Reichs ver¬
schoben haben.

Ju allen Weltteilen hat England Länderbesitz, und meist ist dieser von un¬
geheurer Ausdehnung; man schätzt ihn auf vierundzwanzig Millionen Quadrat¬
kilometers mit dreihundertfünfzig Millionen Einwohnern. Dabei geht das
Streben der Engländer mit einer fast fieberhaften Hast dahin, diesen Länder¬
besitz immer weiter auszudehnen, und bis jetzt sind sie auch darin, abgesehen
von der Lostremmug der Vereinigten Staaten, insofern immer vom Glück be¬
günstigt gewesen, als es ihnen gelange" ist, die Gebiete, deren sie sich einmal
bemächtigt hatten, auch zu behaupten. Man darf jedoch mit Sicherheit an¬
nehmen, daß das nicht immer so gehen wird, und niemand glaubt heute mehr,



^) Etwa 450000 Quadmtmeilm.
Luropci und England

Wird jeder französischen Abenteuerpolitik um so mehr abgeneigt sein, je größer
die Anzahl der Bataillone ausfällt, die es den Franzosen leihen müßte, damit
diese Elsaß und Lothringen wieder erobern könnten. Im übrige» wird Ru߬
land, trotz seiner gegen früher stark vermehrten Heercsmncht, weder über Berlin
noch über Wien nach Konstantinopel gehen, und der gegenwärtige Zollkrieg
zwischen Deutschland und Rußland ist nicht tragisch zu nehmen, denn auch
während der dicksten Freundschaft beider Staaten ist nie ein zufriedenstellendes
handelspolitisches Verhältnis möglich gewesen. An den sogenannten „allge¬
meinen Weltbrand," d. h. den Kampf Rußlands und Frankreichs gegen den
Dreibund, glauben wir unter den heutigen Verhältnissen nicht, die kontinen¬
talen Großmächte haben sich nun lange genug gegenseitig in die Augen ge¬
sehen, um zu wissen, daß der Angreifer seine Rechnung nicht finden würde.
Die heutige Lage nach Durchführung der allgemeine» Wehrpflicht deutet i»
allem und jedem auf eine längere friedliche Dauer des gegenwärtige» Zu¬
standes auf dem Festlande von Europa hin; aber wohlgemerkt: wache jeder
el»zel»e Staat sorgsam darüber, daß er mit der Länge der Zeit nicht lau
wird und sein Heer der allgemeinen Wehrpflicht nicht verfallen läßt. Ein
solcher Staat wäre sofort bündnisunfähig, und da die". Kampflust der Volker
und Staaten niemals aufhöre» wird, könnte er leicht die Zeche bezahlen müssen.
„Den letzten beißen die Hunde," sagt der Volksmund.

Während nun sämtliche Großstaaten des europäischen Kontinents diese
zwanzig Jahre und zum Teil noch länger dauernde Entwicklung durchgemacht,
während selbst die dazwischen liegenden Kleinstaaten aus Furcht vor einem
großen Kriege ihre Befestigungen in Ordnung gebracht und ihre Heere zum
Teil schon vermehrt haben oder noch damit beschäftigt sind, giebt es eine»
Großstaat, an dem das alles spurlos vorübergegangen ist, und der beharrlich
bei dem stehen geblieben ist, was er früher hatte oder auch nicht hatte. Dieser
Staat ist England, und niemand kann heute in Zweisel darüber sein, daß
sich die Machtverhältnisse bedeutend zu Ungunsten des britischen Reichs ver¬
schoben haben.

Ju allen Weltteilen hat England Länderbesitz, und meist ist dieser von un¬
geheurer Ausdehnung; man schätzt ihn auf vierundzwanzig Millionen Quadrat¬
kilometers mit dreihundertfünfzig Millionen Einwohnern. Dabei geht das
Streben der Engländer mit einer fast fieberhaften Hast dahin, diesen Länder¬
besitz immer weiter auszudehnen, und bis jetzt sind sie auch darin, abgesehen
von der Lostremmug der Vereinigten Staaten, insofern immer vom Glück be¬
günstigt gewesen, als es ihnen gelange» ist, die Gebiete, deren sie sich einmal
bemächtigt hatten, auch zu behaupten. Man darf jedoch mit Sicherheit an¬
nehmen, daß das nicht immer so gehen wird, und niemand glaubt heute mehr,



^) Etwa 450000 Quadmtmeilm.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/157>, abgerufen am 24.07.2024.