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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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erst erstrebt wird, so gut, wie die alten schon bestehenden Privilegien, und
zeigt, daß der Sozialismus, der nichts andres ist, als die zum System er¬
höhn? Begehrlichkeit, jeder Berechtigung entbehrt. Die Sozialisten sind nichts
als eine zur drohenden Lawine zusammengeballte Schar von Barbaren, die,
wenn sie siegten, alle Kultur vernichten und die Menschheit in jenen tierühnlichen
Zustand zurückversetzen würden, von dem sie nach Ansicht der Modernen aus¬
gegangen sein soll.

Andrerseits freilich ist es nicht minder eine betrübende Thatsache, daß die
Menschen zu einem großen Teil des Maßes an Gütern ermangeln, das zur
Erreichung ihrer Bestimmung, zu ihrer Selbstvervollkommnung nötig ist. Wenn
das natürliche Recht fordert, daß jeder so viel besitze, als seiner persönlichen
Beschaffenheit und Lage angemessen ist, so muß anerkannt werden, daß sich
sowohl die Überflußhabenden wie die Mangelleidenden in einer dem Natur¬
recht nicht entsprechenden (v8ira"iuricliouö) Lage befinden. Daher kann man
bei der jetzigen Güterverteilung die nicht zum Schweigen bringen, die ihren
Anteil am Nötigen fordern, denn für sie streitet die natürliche Gerechtigkeit,
deren Wesen es ist, jedem das Seine zuzuleiten. Aber weit entfernt davon,
die Ansprüche der Sozialisten zu rechtfertigen, macht sie dieser Grundsatz viel¬
mehr zu nichte. Deal ihrer überwiegenden Mehrzahl nach werden die Menschen
mit so beschränkten geistigen Fähigkeiten geboren, daß sie zu nichts anderm
taugen, als zur körperlichen Arbeit und zu den untergeordneten gesellschaftlichen
Diensten, und auch in diesen bringen es nnr wenige zu einer gewissen Voll¬
kommenheit. Man kennt vornehme Männer, die geborne Köche oder Kutscher
sind, und Ludwig XVI. hatte zwar Anlage zum Sehlosserhandwerk, war aber,
obwohl übrigens ein tugendhafter Mann von edler Gesinnung, zum Regieren
sehr wenig befähigt. Den Anforderungen der Gerechtigkeit wird Genüge ge¬
leistet, wenn jeder aus dieser überwiegenden Mehrheit soviel hat, als zur Be¬
thätigung seiner geringen Fähigkeiten erforderlich ist; darüber hinaus hat keiner
etwas zu verlangen.

Hier hat der Verfasser eine kleine Lücke gelassen. Meint er etwa, daß
sich Ludwig XVI., um den Forderungen der Gerechtigkeit nachzukommen, mit
dem Wochenlohn eines Schlossers hätte begnügen sollen, und daß sich eine
Volksvertretung nach dem Fähigsten Hütte umsehen müssen, um diesem die Re¬
gierung und die königlichen Einkünfte zu übergeben, die allerdings, wie wir
aus dem Folgenden sehen werden, stark zu beschneiden gewesen wären? Wenn
er das meint, was er ausdrücklich zu sagen unterläßt, dann steht er ungefähr
auf demselben Boden wie die Sozialisten. Denn mag auch die "sündhafte"
Begierde, wie für alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen,
so auch für die sozialdemokratische eine oder meinetwegen die Haupttriebfeder
sein, den Hauptinhalt der sozialistischen Lehren macht das, was Cenni angiebt,
nicht aus, nud wenn einige Sozialisten den Grundsatz aufstellen, jeder solle nach


erst erstrebt wird, so gut, wie die alten schon bestehenden Privilegien, und
zeigt, daß der Sozialismus, der nichts andres ist, als die zum System er¬
höhn? Begehrlichkeit, jeder Berechtigung entbehrt. Die Sozialisten sind nichts
als eine zur drohenden Lawine zusammengeballte Schar von Barbaren, die,
wenn sie siegten, alle Kultur vernichten und die Menschheit in jenen tierühnlichen
Zustand zurückversetzen würden, von dem sie nach Ansicht der Modernen aus¬
gegangen sein soll.

Andrerseits freilich ist es nicht minder eine betrübende Thatsache, daß die
Menschen zu einem großen Teil des Maßes an Gütern ermangeln, das zur
Erreichung ihrer Bestimmung, zu ihrer Selbstvervollkommnung nötig ist. Wenn
das natürliche Recht fordert, daß jeder so viel besitze, als seiner persönlichen
Beschaffenheit und Lage angemessen ist, so muß anerkannt werden, daß sich
sowohl die Überflußhabenden wie die Mangelleidenden in einer dem Natur¬
recht nicht entsprechenden (v8ira«iuricliouö) Lage befinden. Daher kann man
bei der jetzigen Güterverteilung die nicht zum Schweigen bringen, die ihren
Anteil am Nötigen fordern, denn für sie streitet die natürliche Gerechtigkeit,
deren Wesen es ist, jedem das Seine zuzuleiten. Aber weit entfernt davon,
die Ansprüche der Sozialisten zu rechtfertigen, macht sie dieser Grundsatz viel¬
mehr zu nichte. Deal ihrer überwiegenden Mehrzahl nach werden die Menschen
mit so beschränkten geistigen Fähigkeiten geboren, daß sie zu nichts anderm
taugen, als zur körperlichen Arbeit und zu den untergeordneten gesellschaftlichen
Diensten, und auch in diesen bringen es nnr wenige zu einer gewissen Voll¬
kommenheit. Man kennt vornehme Männer, die geborne Köche oder Kutscher
sind, und Ludwig XVI. hatte zwar Anlage zum Sehlosserhandwerk, war aber,
obwohl übrigens ein tugendhafter Mann von edler Gesinnung, zum Regieren
sehr wenig befähigt. Den Anforderungen der Gerechtigkeit wird Genüge ge¬
leistet, wenn jeder aus dieser überwiegenden Mehrheit soviel hat, als zur Be¬
thätigung seiner geringen Fähigkeiten erforderlich ist; darüber hinaus hat keiner
etwas zu verlangen.

Hier hat der Verfasser eine kleine Lücke gelassen. Meint er etwa, daß
sich Ludwig XVI., um den Forderungen der Gerechtigkeit nachzukommen, mit
dem Wochenlohn eines Schlossers hätte begnügen sollen, und daß sich eine
Volksvertretung nach dem Fähigsten Hütte umsehen müssen, um diesem die Re¬
gierung und die königlichen Einkünfte zu übergeben, die allerdings, wie wir
aus dem Folgenden sehen werden, stark zu beschneiden gewesen wären? Wenn
er das meint, was er ausdrücklich zu sagen unterläßt, dann steht er ungefähr
auf demselben Boden wie die Sozialisten. Denn mag auch die „sündhafte"
Begierde, wie für alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen,
so auch für die sozialdemokratische eine oder meinetwegen die Haupttriebfeder
sein, den Hauptinhalt der sozialistischen Lehren macht das, was Cenni angiebt,
nicht aus, nud wenn einige Sozialisten den Grundsatz aufstellen, jeder solle nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/115>, abgerufen am 25.08.2024.