Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Die ätherische Volksmoral im Drama dessen ewige Seligkeit, und daß uns Christus dazu verhilft. Das sind An¬ Das andre Große, das die christliche Religion leistet, besteht in den Ein¬ Die ätherische Volksmoral im Drama dessen ewige Seligkeit, und daß uns Christus dazu verhilft. Das sind An¬ Das andre Große, das die christliche Religion leistet, besteht in den Ein¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0610" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215700"/> <fw type="header" place="top"> Die ätherische Volksmoral im Drama</fw><lb/> <p xml:id="ID_2067" prev="#ID_2066"> dessen ewige Seligkeit, und daß uns Christus dazu verhilft. Das sind An¬<lb/> deutungen des Zusammenhangs; den Zusammenhang zu durchschauen ist hienieden<lb/> keinem vergönnt. So flößt uns der christliche Glaube auch das Vertraue!?<lb/> ein, daß unser guter Wille nicht vergebens sei, aber das Geheimnis von Frei¬<lb/> heit und Notwendigkeit wird uns dadurch nicht entschleiert. In diesem Ver¬<lb/> trauen auf die Vernünftigkeit und Güte der Gottheit, die sich uns erst im<lb/> Jenseits ganz offenbaren will, besteht die moralische Wirksamkeit des Christen¬<lb/> tums ; denn dieses Vertrauen allein vermag die zagende Seele vor pessimistischer<lb/> Verzweiflung wie vor frechem Hedonismus zu bewahren. Es ist lächerlich,<lb/> wenn sich die Darwiniciner einbilden, dieses Vertrauen durch das Entwicklungs¬<lb/> gesetz, das sie gefunden zu haben meinen, ersetzen zu können. König Kau¬<lb/> salität kann uns Heutigen so wenig helfen, wie König Umschwung dem Stre-<lb/> psiades. Daß die nebelhafte und teilweise falsche Naturansicht der Alten der<lb/> klaren Einsicht in eine ziemlich lange Kette von Wirkungen gewichen ist, mag<lb/> sehr nützlich sein für die Maschinenbauerei, für die Verkehrsanstalten, sür die<lb/> Färberei, für die Landwirtschaft, mag auch den Erkenntnistrieb in höherm Grade<lb/> befriedigen, als es die Phantasien und Vermutungen der Alten vermochten, aber<lb/> unser Gemüt, den Ort unsers Wesens, wo die Seligkeit oder Unseligteit em¬<lb/> pfunden wird, lasten alle Herrlichkeiten moderner Naturerkenntnis leer. Es<lb/> nützt dem Arbeiter, der von einer Maschine zermalmt wird, gar nichts, daß<lb/> er den Mechanismus dieser Maschine durch und durch kennt und außerdem<lb/> vielleicht noch weiß, wie viel Kilogrammmeter lebendige Kraft dazu gehören, ihm<lb/> das Bein aus der Hüfte und deu Kopf vom Rumpfe zu reißen oder die Röhren¬<lb/> knochen seiner Oberschenkel zu zerbrechen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2068" next="#ID_2069"> Das andre Große, das die christliche Religion leistet, besteht in den Ein¬<lb/> richtungen ihrer Kirche. Die Alten hatten keine Kirche. Ihre «xx^s/a war<lb/> die weltliche Bürgergemeinde, und der Kultus war nur Anhängsel und Schmuck<lb/> des bürgerlichen Lebens. Die von dem theokratischen Judentum ausgegcmgnen<lb/> Christen organisirten sich als selbständige Kultusgemeinden innerhalb derBürger-<lb/> gemcinde und ihr gegenüber. Sie erfreuten sich eines geistigem Kultus als<lb/> Althellas. Wirkten der öffentliche Dionhsoskultus und die Mysterien auch<lb/> nicht sittenverderbend, wie der Christ und der moderne Mensch vorauszusetzen<lb/> geneigt sind, so enthielten sie doch auch nichts, was geeignet gewesen wäre, die<lb/> Gemüter über das Sinnliche zu erheben und die sittliche Kraft zu stärken.<lb/> Solches that nun zwar das Drama, aber dessen Wirksamkeit blieb auf eine<lb/> kurze Spanne Zeit beschränkt. Deren Dauer hing von den Personen der<lb/> Dichter und dem Geschmack des Publikums ab. Der Staat konnte nach dem<lb/> Tode der drei großen Tragöden weder die Geburt neuer Genies anordnen<lb/> — Aristophanes, der schon mit Euripides nicht zufrieden ist, läßt in den<lb/> Fröschen den Äschhlos aus der Unterwelt wieder heraufholen —, noch konnte<lb/> er die Bürger zwingen, sich jahrhundertelang immer wieder dieselben Tragödien</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0610]
Die ätherische Volksmoral im Drama
dessen ewige Seligkeit, und daß uns Christus dazu verhilft. Das sind An¬
deutungen des Zusammenhangs; den Zusammenhang zu durchschauen ist hienieden
keinem vergönnt. So flößt uns der christliche Glaube auch das Vertraue!?
ein, daß unser guter Wille nicht vergebens sei, aber das Geheimnis von Frei¬
heit und Notwendigkeit wird uns dadurch nicht entschleiert. In diesem Ver¬
trauen auf die Vernünftigkeit und Güte der Gottheit, die sich uns erst im
Jenseits ganz offenbaren will, besteht die moralische Wirksamkeit des Christen¬
tums ; denn dieses Vertrauen allein vermag die zagende Seele vor pessimistischer
Verzweiflung wie vor frechem Hedonismus zu bewahren. Es ist lächerlich,
wenn sich die Darwiniciner einbilden, dieses Vertrauen durch das Entwicklungs¬
gesetz, das sie gefunden zu haben meinen, ersetzen zu können. König Kau¬
salität kann uns Heutigen so wenig helfen, wie König Umschwung dem Stre-
psiades. Daß die nebelhafte und teilweise falsche Naturansicht der Alten der
klaren Einsicht in eine ziemlich lange Kette von Wirkungen gewichen ist, mag
sehr nützlich sein für die Maschinenbauerei, für die Verkehrsanstalten, sür die
Färberei, für die Landwirtschaft, mag auch den Erkenntnistrieb in höherm Grade
befriedigen, als es die Phantasien und Vermutungen der Alten vermochten, aber
unser Gemüt, den Ort unsers Wesens, wo die Seligkeit oder Unseligteit em¬
pfunden wird, lasten alle Herrlichkeiten moderner Naturerkenntnis leer. Es
nützt dem Arbeiter, der von einer Maschine zermalmt wird, gar nichts, daß
er den Mechanismus dieser Maschine durch und durch kennt und außerdem
vielleicht noch weiß, wie viel Kilogrammmeter lebendige Kraft dazu gehören, ihm
das Bein aus der Hüfte und deu Kopf vom Rumpfe zu reißen oder die Röhren¬
knochen seiner Oberschenkel zu zerbrechen.
Das andre Große, das die christliche Religion leistet, besteht in den Ein¬
richtungen ihrer Kirche. Die Alten hatten keine Kirche. Ihre «xx^s/a war
die weltliche Bürgergemeinde, und der Kultus war nur Anhängsel und Schmuck
des bürgerlichen Lebens. Die von dem theokratischen Judentum ausgegcmgnen
Christen organisirten sich als selbständige Kultusgemeinden innerhalb derBürger-
gemcinde und ihr gegenüber. Sie erfreuten sich eines geistigem Kultus als
Althellas. Wirkten der öffentliche Dionhsoskultus und die Mysterien auch
nicht sittenverderbend, wie der Christ und der moderne Mensch vorauszusetzen
geneigt sind, so enthielten sie doch auch nichts, was geeignet gewesen wäre, die
Gemüter über das Sinnliche zu erheben und die sittliche Kraft zu stärken.
Solches that nun zwar das Drama, aber dessen Wirksamkeit blieb auf eine
kurze Spanne Zeit beschränkt. Deren Dauer hing von den Personen der
Dichter und dem Geschmack des Publikums ab. Der Staat konnte nach dem
Tode der drei großen Tragöden weder die Geburt neuer Genies anordnen
— Aristophanes, der schon mit Euripides nicht zufrieden ist, läßt in den
Fröschen den Äschhlos aus der Unterwelt wieder heraufholen —, noch konnte
er die Bürger zwingen, sich jahrhundertelang immer wieder dieselben Tragödien
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