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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Platonischen Dialoge. "Wenn die Toten nicht auferstehen -- sagt Paulus im
15. Kapitel des 1. Korintherbriefcs --, so ist auch Christus nicht auferstanden.
Ist aber Christus uicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, und so sind wir
elender als alle andern Menschen." Der Durchschnittschrist vertauscht die ersten
beiden Glieder dieser Schlußkette und spricht: ist Christus nicht auferstanden,
so habe ich auch keine Gewähr für meine eigne Auferstehung; giebt es aber
kein Jenseits, so bin ich, der ich um einer eiteln Hoffnung willen auf so manchen
irdischen Genuß verzichte, ein Narr und elender als die übrigen Menschen.*)

Erst durch diesen Glauben ans Jenseits erhalten die übrigen Grundlehren
des Christentums Wert fürs sittliche und Gemütsleben. An und für sich be¬
friedigen jene Erklärungen des Welträtsels, die der Katechismus enthält, die
Vernunft und das Herz so wenig, wie irgeud eine alte Mythologie oder Philo¬
sophie. Haben wir aber den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ge¬
wonnen und zugleich den Glauben, daß der Gott, den Nur im Jenseits finden
sollen, weder ein kinderfressender Moloch, noch ein blindes Verhängnis, noch
die Naturnotwendigkeit sei, sondern ein Wesen, das nach Christi Worten am
besten nnter dein Bilde eines gütigen Vaters vorgestellt wird, so vertrösten
wir unser Verlangen nach der Lösung des Lebensrätsels zuversichtlich aufs
Jenseits. Die Bibel- und Katechismuslehren darüber haben dann nur die
Bedeutung solcher vorläufigen Erklärungen, wie wir sie den Kindern zu geben
Pflegen, wenn diese uns über Dinge fragen, die ihnen auf ihrer gegenwärtigen
Erkenutnisstufe noch nicht begreiflich gemacht werden können. Die Dogmen vom
Teufel und vom Sündenfall, von der Erbsünde und der Erlösung bedeute" dann
bloß, das Gott weder das Böse noch die Unseligkeit des Menschen will, sondern



*) Nur der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit macht jenen Begriff der Persön¬
lichkeit möglich, auf dem die Moralsysteme Kants und Fichtes beruhen. Was alles in der
Welt sollte uns denn abhalten, einen Menschen von schwachem Geiste und niedriger Ge¬
sinnung, der nichts als tierisches Behagen erstrebt, rein als Werkzeug zu behandeln, wenn
wir nicht glnnben, daß der Keim einer ewigen Persönlichkeit in ihm stecke? Denn vorläufig
ist ''r gar keine Persönlichkeit. Den Philosophen, die den Glauben an die persönliche Fort¬
dauer preisgeben, die daraus gebaute Moral aber retten wollen, nützen alle ihre Kunststücke
nichts; niemals wird man eine aus dem Schoße des Unbewußten aufgetauchte, nach einer
kurzen Zeitspanne zerplatzende Seifenblase, ein Ding ohne alle Snbstantialität, für eine Per¬
sönlichkeit halten, niemals auch im Ernste Pflichten anerkenne", wenn kein persönlicher Gott
da ist, der sie auferlegt. Ein guter Mensch, der nicht an Gott glaubt, handelt gut und edel,
weil und soweit ihn sein Herz dazu treibt, aber eine Verpflichtung dazu braucht er nicht an¬
zuerkennen. So hat auch Leibniz die Sache angesehen. Ki Dorf non ossst, s-MsntW (von
den Umreisen, vom großen Haufen spricht er gar nicht erst) aä ouritatsm mein ultrs, odli-
Mrontnr, "la-^in sx U8v. 8no söffe, nocino act Iionvstatsin, nisi suao portsc-tionis "irusa, onjns
in das vit,A,o drsvItÄtc,, si a>rima> immort-üis non söffe, rarto satis Inchsri non xossst, (Mit¬
teilungen ans Leibnizens ungedruckten Schriften. Von Dr. so.ri3 G. Mollat. Zweite Auf¬
lage. Kassel, Friedrich Scheel, 1837. Das Schriftchen enthält eine Reihe höchst interessanter
rechtsphilosophischer Abhandlungen Leibnizens.)
Grenzboten III 1893 76
Die ätherische Volksmoral im Drama

Platonischen Dialoge. „Wenn die Toten nicht auferstehen — sagt Paulus im
15. Kapitel des 1. Korintherbriefcs —, so ist auch Christus nicht auferstanden.
Ist aber Christus uicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, und so sind wir
elender als alle andern Menschen." Der Durchschnittschrist vertauscht die ersten
beiden Glieder dieser Schlußkette und spricht: ist Christus nicht auferstanden,
so habe ich auch keine Gewähr für meine eigne Auferstehung; giebt es aber
kein Jenseits, so bin ich, der ich um einer eiteln Hoffnung willen auf so manchen
irdischen Genuß verzichte, ein Narr und elender als die übrigen Menschen.*)

Erst durch diesen Glauben ans Jenseits erhalten die übrigen Grundlehren
des Christentums Wert fürs sittliche und Gemütsleben. An und für sich be¬
friedigen jene Erklärungen des Welträtsels, die der Katechismus enthält, die
Vernunft und das Herz so wenig, wie irgeud eine alte Mythologie oder Philo¬
sophie. Haben wir aber den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ge¬
wonnen und zugleich den Glauben, daß der Gott, den Nur im Jenseits finden
sollen, weder ein kinderfressender Moloch, noch ein blindes Verhängnis, noch
die Naturnotwendigkeit sei, sondern ein Wesen, das nach Christi Worten am
besten nnter dein Bilde eines gütigen Vaters vorgestellt wird, so vertrösten
wir unser Verlangen nach der Lösung des Lebensrätsels zuversichtlich aufs
Jenseits. Die Bibel- und Katechismuslehren darüber haben dann nur die
Bedeutung solcher vorläufigen Erklärungen, wie wir sie den Kindern zu geben
Pflegen, wenn diese uns über Dinge fragen, die ihnen auf ihrer gegenwärtigen
Erkenutnisstufe noch nicht begreiflich gemacht werden können. Die Dogmen vom
Teufel und vom Sündenfall, von der Erbsünde und der Erlösung bedeute« dann
bloß, das Gott weder das Böse noch die Unseligkeit des Menschen will, sondern



*) Nur der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit macht jenen Begriff der Persön¬
lichkeit möglich, auf dem die Moralsysteme Kants und Fichtes beruhen. Was alles in der
Welt sollte uns denn abhalten, einen Menschen von schwachem Geiste und niedriger Ge¬
sinnung, der nichts als tierisches Behagen erstrebt, rein als Werkzeug zu behandeln, wenn
wir nicht glnnben, daß der Keim einer ewigen Persönlichkeit in ihm stecke? Denn vorläufig
ist ''r gar keine Persönlichkeit. Den Philosophen, die den Glauben an die persönliche Fort¬
dauer preisgeben, die daraus gebaute Moral aber retten wollen, nützen alle ihre Kunststücke
nichts; niemals wird man eine aus dem Schoße des Unbewußten aufgetauchte, nach einer
kurzen Zeitspanne zerplatzende Seifenblase, ein Ding ohne alle Snbstantialität, für eine Per¬
sönlichkeit halten, niemals auch im Ernste Pflichten anerkenne», wenn kein persönlicher Gott
da ist, der sie auferlegt. Ein guter Mensch, der nicht an Gott glaubt, handelt gut und edel,
weil und soweit ihn sein Herz dazu treibt, aber eine Verpflichtung dazu braucht er nicht an¬
zuerkennen. So hat auch Leibniz die Sache angesehen. Ki Dorf non ossst, s-MsntW (von
den Umreisen, vom großen Haufen spricht er gar nicht erst) aä ouritatsm mein ultrs, odli-
Mrontnr, «la-^in sx U8v. 8no söffe, nocino act Iionvstatsin, nisi suao portsc-tionis «irusa, onjns
in das vit,A,o drsvItÄtc,, si a>rima> immort-üis non söffe, rarto satis Inchsri non xossst, (Mit¬
teilungen ans Leibnizens ungedruckten Schriften. Von Dr. so.ri3 G. Mollat. Zweite Auf¬
lage. Kassel, Friedrich Scheel, 1837. Das Schriftchen enthält eine Reihe höchst interessanter
rechtsphilosophischer Abhandlungen Leibnizens.)
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[0609] Die ätherische Volksmoral im Drama Platonischen Dialoge. „Wenn die Toten nicht auferstehen — sagt Paulus im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefcs —, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus uicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, und so sind wir elender als alle andern Menschen." Der Durchschnittschrist vertauscht die ersten beiden Glieder dieser Schlußkette und spricht: ist Christus nicht auferstanden, so habe ich auch keine Gewähr für meine eigne Auferstehung; giebt es aber kein Jenseits, so bin ich, der ich um einer eiteln Hoffnung willen auf so manchen irdischen Genuß verzichte, ein Narr und elender als die übrigen Menschen.*) Erst durch diesen Glauben ans Jenseits erhalten die übrigen Grundlehren des Christentums Wert fürs sittliche und Gemütsleben. An und für sich be¬ friedigen jene Erklärungen des Welträtsels, die der Katechismus enthält, die Vernunft und das Herz so wenig, wie irgeud eine alte Mythologie oder Philo¬ sophie. Haben wir aber den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ge¬ wonnen und zugleich den Glauben, daß der Gott, den Nur im Jenseits finden sollen, weder ein kinderfressender Moloch, noch ein blindes Verhängnis, noch die Naturnotwendigkeit sei, sondern ein Wesen, das nach Christi Worten am besten nnter dein Bilde eines gütigen Vaters vorgestellt wird, so vertrösten wir unser Verlangen nach der Lösung des Lebensrätsels zuversichtlich aufs Jenseits. Die Bibel- und Katechismuslehren darüber haben dann nur die Bedeutung solcher vorläufigen Erklärungen, wie wir sie den Kindern zu geben Pflegen, wenn diese uns über Dinge fragen, die ihnen auf ihrer gegenwärtigen Erkenutnisstufe noch nicht begreiflich gemacht werden können. Die Dogmen vom Teufel und vom Sündenfall, von der Erbsünde und der Erlösung bedeute« dann bloß, das Gott weder das Böse noch die Unseligkeit des Menschen will, sondern *) Nur der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit macht jenen Begriff der Persön¬ lichkeit möglich, auf dem die Moralsysteme Kants und Fichtes beruhen. Was alles in der Welt sollte uns denn abhalten, einen Menschen von schwachem Geiste und niedriger Ge¬ sinnung, der nichts als tierisches Behagen erstrebt, rein als Werkzeug zu behandeln, wenn wir nicht glnnben, daß der Keim einer ewigen Persönlichkeit in ihm stecke? Denn vorläufig ist ''r gar keine Persönlichkeit. Den Philosophen, die den Glauben an die persönliche Fort¬ dauer preisgeben, die daraus gebaute Moral aber retten wollen, nützen alle ihre Kunststücke nichts; niemals wird man eine aus dem Schoße des Unbewußten aufgetauchte, nach einer kurzen Zeitspanne zerplatzende Seifenblase, ein Ding ohne alle Snbstantialität, für eine Per¬ sönlichkeit halten, niemals auch im Ernste Pflichten anerkenne», wenn kein persönlicher Gott da ist, der sie auferlegt. Ein guter Mensch, der nicht an Gott glaubt, handelt gut und edel, weil und soweit ihn sein Herz dazu treibt, aber eine Verpflichtung dazu braucht er nicht an¬ zuerkennen. So hat auch Leibniz die Sache angesehen. Ki Dorf non ossst, s-MsntW (von den Umreisen, vom großen Haufen spricht er gar nicht erst) aä ouritatsm mein ultrs, odli- Mrontnr, «la-^in sx U8v. 8no söffe, nocino act Iionvstatsin, nisi suao portsc-tionis «irusa, onjns in das vit,A,o drsvItÄtc,, si a>rima> immort-üis non söffe, rarto satis Inchsri non xossst, (Mit¬ teilungen ans Leibnizens ungedruckten Schriften. Von Dr. so.ri3 G. Mollat. Zweite Auf¬ lage. Kassel, Friedrich Scheel, 1837. Das Schriftchen enthält eine Reihe höchst interessanter rechtsphilosophischer Abhandlungen Leibnizens.) Grenzboten III 1893 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/609>, abgerufen am 23.11.2024.