Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Anmerkunzen zur Judenfrage

schwer bedrückt würden, wollte der Staat den jüdischen Taufakt in seiner
üblichen brutalen Form verbieten. Aber wer sagt uns denn, daß der Schwarze
in Afrika uicht auch schwere Gewissenskämpfe durchmacht, wenn wir ihn hindern,
dann und wann aus religiösem Bedürfnis einen Mitbruder zu verspeisen? Die
moderne Kultur zwingt ihm rücksichtslos ihre Ansicht von solchen Dingen ans,
und sie thut Recht daran. Ja ich behaupte, der moderne Staat kann nicht
nur die Beschneidung verbieten, er muß sie sogar verbieten. Wie kann das
Gesetz, das einen Menschen mit schweren Strafen belegt, der sich selbst ver¬
stümmelt, um dem Militärdienst zu entgehen, wie kann es dieses selbe Gesetz
dulden, daß einige seiner Bürger zu einer Zeit, wo sie noch keinen freien
Willen haben, an ihrem Leibe geschädigt werden? Ist das nicht ein Verstoß
gegen denselben Grundsatz, dem die Befreiung der Juden von allen Sonder¬
gesetzen entsprang, des Grundsatzes, daß Bürgern eines Staates das Recht
nicht mit zweierlei Maß zugemessen werden darf? Wünscht man sich ein un¬
parteiisches Urteil darüber zu bilden, wie eng der jüdische Taufakt mit der
jüdischen Religion zusammenhängt, so verbiete man es bei hoher Strafe, ihn
an Personen unter fünfundzwanzig Jahren zu vollziehen. Wenn dann mehr
als ein Prozent ihn im höhern Alter noch vornehmen läßt, so kann man ihn
ja wieder freigeben. Daß aber der Staat das Recht, die Pflicht und die Macht
hat, diesen Gebrauch zu untersagen, das scheint mir außer allem Zweifel zu
stehen. Wenn etwa die Sozialdemokratie auf den Einfall geriete, sich einen
eisernen Bestand an Mitgliedern dadurch zu sichern, daß sie ihrer unmündigen
Nachkommenschaft ein L I) auf die Stirne brennen ließe, ich glaube, der Staat
würde keinen Augenblick schwanken, was er hier zu thun Hütte.

Die Schweiz hat kürzlich mit überraschender Mehrheit das jüdische Schächten
verboten, und sie hat Recht daran gethan. Um ein solches Verbot zu erlassen,
bedarf es gar nicht einmal gelehrter Gutachten, ob das Schächten dem Tiere
Qual verursache oder nicht. Dem Bewußtsein eines modernen Volks gilt es
als unwürdig, religiöse Vorstellungen mit der blutigen Hantirung des Schlächters
zu verknüpfen. Dieser Grund reicht vollkommen aus. Wer will es denn einem
Volke verwehren, die ihm widerwärtigen Reste eines barbarischen, seit Jahr¬
hunderten überwnndnen Kulturzustandes aus seiner Mitte zu entfernen? Ob
diese Gebräuche den Juden heilig sind oder nicht, das geht die modernen Völker
ganz und gar nichts an. Sind diese äußerlichen Verrichtungen mit der Re¬
ligion so verknüpft, daß diese nicht ohne jene bestehen kann, dann sind die
Juden eben in der Kultur hinter uus zurückgeblieben, und wir haben das
Recht, thuen unsre Kultur aufzuzwingen, so gut wir sie unsern neuen Unter¬
thanen in Afrika aufzwingen, denen wir auch verbieten, was uns an ihren
Sitten barbarisch erscheint, ohne uns darüber sonderliche Gewissensbisse zu
machen. Sind diese rituellen Absonderlichkeiten aber keine unzertrennlichen Be¬
standteile der jüdischen Religion, sind sie vielmehr Merkmale eines längst unter-


Anmerkunzen zur Judenfrage

schwer bedrückt würden, wollte der Staat den jüdischen Taufakt in seiner
üblichen brutalen Form verbieten. Aber wer sagt uns denn, daß der Schwarze
in Afrika uicht auch schwere Gewissenskämpfe durchmacht, wenn wir ihn hindern,
dann und wann aus religiösem Bedürfnis einen Mitbruder zu verspeisen? Die
moderne Kultur zwingt ihm rücksichtslos ihre Ansicht von solchen Dingen ans,
und sie thut Recht daran. Ja ich behaupte, der moderne Staat kann nicht
nur die Beschneidung verbieten, er muß sie sogar verbieten. Wie kann das
Gesetz, das einen Menschen mit schweren Strafen belegt, der sich selbst ver¬
stümmelt, um dem Militärdienst zu entgehen, wie kann es dieses selbe Gesetz
dulden, daß einige seiner Bürger zu einer Zeit, wo sie noch keinen freien
Willen haben, an ihrem Leibe geschädigt werden? Ist das nicht ein Verstoß
gegen denselben Grundsatz, dem die Befreiung der Juden von allen Sonder¬
gesetzen entsprang, des Grundsatzes, daß Bürgern eines Staates das Recht
nicht mit zweierlei Maß zugemessen werden darf? Wünscht man sich ein un¬
parteiisches Urteil darüber zu bilden, wie eng der jüdische Taufakt mit der
jüdischen Religion zusammenhängt, so verbiete man es bei hoher Strafe, ihn
an Personen unter fünfundzwanzig Jahren zu vollziehen. Wenn dann mehr
als ein Prozent ihn im höhern Alter noch vornehmen läßt, so kann man ihn
ja wieder freigeben. Daß aber der Staat das Recht, die Pflicht und die Macht
hat, diesen Gebrauch zu untersagen, das scheint mir außer allem Zweifel zu
stehen. Wenn etwa die Sozialdemokratie auf den Einfall geriete, sich einen
eisernen Bestand an Mitgliedern dadurch zu sichern, daß sie ihrer unmündigen
Nachkommenschaft ein L I) auf die Stirne brennen ließe, ich glaube, der Staat
würde keinen Augenblick schwanken, was er hier zu thun Hütte.

Die Schweiz hat kürzlich mit überraschender Mehrheit das jüdische Schächten
verboten, und sie hat Recht daran gethan. Um ein solches Verbot zu erlassen,
bedarf es gar nicht einmal gelehrter Gutachten, ob das Schächten dem Tiere
Qual verursache oder nicht. Dem Bewußtsein eines modernen Volks gilt es
als unwürdig, religiöse Vorstellungen mit der blutigen Hantirung des Schlächters
zu verknüpfen. Dieser Grund reicht vollkommen aus. Wer will es denn einem
Volke verwehren, die ihm widerwärtigen Reste eines barbarischen, seit Jahr¬
hunderten überwnndnen Kulturzustandes aus seiner Mitte zu entfernen? Ob
diese Gebräuche den Juden heilig sind oder nicht, das geht die modernen Völker
ganz und gar nichts an. Sind diese äußerlichen Verrichtungen mit der Re¬
ligion so verknüpft, daß diese nicht ohne jene bestehen kann, dann sind die
Juden eben in der Kultur hinter uus zurückgeblieben, und wir haben das
Recht, thuen unsre Kultur aufzuzwingen, so gut wir sie unsern neuen Unter¬
thanen in Afrika aufzwingen, denen wir auch verbieten, was uns an ihren
Sitten barbarisch erscheint, ohne uns darüber sonderliche Gewissensbisse zu
machen. Sind diese rituellen Absonderlichkeiten aber keine unzertrennlichen Be¬
standteile der jüdischen Religion, sind sie vielmehr Merkmale eines längst unter-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0594" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215684"/>
          <fw type="header" place="top"> Anmerkunzen zur Judenfrage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2025" prev="#ID_2024"> schwer bedrückt würden, wollte der Staat den jüdischen Taufakt in seiner<lb/>
üblichen brutalen Form verbieten. Aber wer sagt uns denn, daß der Schwarze<lb/>
in Afrika uicht auch schwere Gewissenskämpfe durchmacht, wenn wir ihn hindern,<lb/>
dann und wann aus religiösem Bedürfnis einen Mitbruder zu verspeisen? Die<lb/>
moderne Kultur zwingt ihm rücksichtslos ihre Ansicht von solchen Dingen ans,<lb/>
und sie thut Recht daran. Ja ich behaupte, der moderne Staat kann nicht<lb/>
nur die Beschneidung verbieten, er muß sie sogar verbieten. Wie kann das<lb/>
Gesetz, das einen Menschen mit schweren Strafen belegt, der sich selbst ver¬<lb/>
stümmelt, um dem Militärdienst zu entgehen, wie kann es dieses selbe Gesetz<lb/>
dulden, daß einige seiner Bürger zu einer Zeit, wo sie noch keinen freien<lb/>
Willen haben, an ihrem Leibe geschädigt werden? Ist das nicht ein Verstoß<lb/>
gegen denselben Grundsatz, dem die Befreiung der Juden von allen Sonder¬<lb/>
gesetzen entsprang, des Grundsatzes, daß Bürgern eines Staates das Recht<lb/>
nicht mit zweierlei Maß zugemessen werden darf? Wünscht man sich ein un¬<lb/>
parteiisches Urteil darüber zu bilden, wie eng der jüdische Taufakt mit der<lb/>
jüdischen Religion zusammenhängt, so verbiete man es bei hoher Strafe, ihn<lb/>
an Personen unter fünfundzwanzig Jahren zu vollziehen. Wenn dann mehr<lb/>
als ein Prozent ihn im höhern Alter noch vornehmen läßt, so kann man ihn<lb/>
ja wieder freigeben. Daß aber der Staat das Recht, die Pflicht und die Macht<lb/>
hat, diesen Gebrauch zu untersagen, das scheint mir außer allem Zweifel zu<lb/>
stehen. Wenn etwa die Sozialdemokratie auf den Einfall geriete, sich einen<lb/>
eisernen Bestand an Mitgliedern dadurch zu sichern, daß sie ihrer unmündigen<lb/>
Nachkommenschaft ein L I) auf die Stirne brennen ließe, ich glaube, der Staat<lb/>
würde keinen Augenblick schwanken, was er hier zu thun Hütte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2026" next="#ID_2027"> Die Schweiz hat kürzlich mit überraschender Mehrheit das jüdische Schächten<lb/>
verboten, und sie hat Recht daran gethan. Um ein solches Verbot zu erlassen,<lb/>
bedarf es gar nicht einmal gelehrter Gutachten, ob das Schächten dem Tiere<lb/>
Qual verursache oder nicht. Dem Bewußtsein eines modernen Volks gilt es<lb/>
als unwürdig, religiöse Vorstellungen mit der blutigen Hantirung des Schlächters<lb/>
zu verknüpfen. Dieser Grund reicht vollkommen aus. Wer will es denn einem<lb/>
Volke verwehren, die ihm widerwärtigen Reste eines barbarischen, seit Jahr¬<lb/>
hunderten überwnndnen Kulturzustandes aus seiner Mitte zu entfernen? Ob<lb/>
diese Gebräuche den Juden heilig sind oder nicht, das geht die modernen Völker<lb/>
ganz und gar nichts an. Sind diese äußerlichen Verrichtungen mit der Re¬<lb/>
ligion so verknüpft, daß diese nicht ohne jene bestehen kann, dann sind die<lb/>
Juden eben in der Kultur hinter uus zurückgeblieben, und wir haben das<lb/>
Recht, thuen unsre Kultur aufzuzwingen, so gut wir sie unsern neuen Unter¬<lb/>
thanen in Afrika aufzwingen, denen wir auch verbieten, was uns an ihren<lb/>
Sitten barbarisch erscheint, ohne uns darüber sonderliche Gewissensbisse zu<lb/>
machen. Sind diese rituellen Absonderlichkeiten aber keine unzertrennlichen Be¬<lb/>
standteile der jüdischen Religion, sind sie vielmehr Merkmale eines längst unter-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0594] Anmerkunzen zur Judenfrage schwer bedrückt würden, wollte der Staat den jüdischen Taufakt in seiner üblichen brutalen Form verbieten. Aber wer sagt uns denn, daß der Schwarze in Afrika uicht auch schwere Gewissenskämpfe durchmacht, wenn wir ihn hindern, dann und wann aus religiösem Bedürfnis einen Mitbruder zu verspeisen? Die moderne Kultur zwingt ihm rücksichtslos ihre Ansicht von solchen Dingen ans, und sie thut Recht daran. Ja ich behaupte, der moderne Staat kann nicht nur die Beschneidung verbieten, er muß sie sogar verbieten. Wie kann das Gesetz, das einen Menschen mit schweren Strafen belegt, der sich selbst ver¬ stümmelt, um dem Militärdienst zu entgehen, wie kann es dieses selbe Gesetz dulden, daß einige seiner Bürger zu einer Zeit, wo sie noch keinen freien Willen haben, an ihrem Leibe geschädigt werden? Ist das nicht ein Verstoß gegen denselben Grundsatz, dem die Befreiung der Juden von allen Sonder¬ gesetzen entsprang, des Grundsatzes, daß Bürgern eines Staates das Recht nicht mit zweierlei Maß zugemessen werden darf? Wünscht man sich ein un¬ parteiisches Urteil darüber zu bilden, wie eng der jüdische Taufakt mit der jüdischen Religion zusammenhängt, so verbiete man es bei hoher Strafe, ihn an Personen unter fünfundzwanzig Jahren zu vollziehen. Wenn dann mehr als ein Prozent ihn im höhern Alter noch vornehmen läßt, so kann man ihn ja wieder freigeben. Daß aber der Staat das Recht, die Pflicht und die Macht hat, diesen Gebrauch zu untersagen, das scheint mir außer allem Zweifel zu stehen. Wenn etwa die Sozialdemokratie auf den Einfall geriete, sich einen eisernen Bestand an Mitgliedern dadurch zu sichern, daß sie ihrer unmündigen Nachkommenschaft ein L I) auf die Stirne brennen ließe, ich glaube, der Staat würde keinen Augenblick schwanken, was er hier zu thun Hütte. Die Schweiz hat kürzlich mit überraschender Mehrheit das jüdische Schächten verboten, und sie hat Recht daran gethan. Um ein solches Verbot zu erlassen, bedarf es gar nicht einmal gelehrter Gutachten, ob das Schächten dem Tiere Qual verursache oder nicht. Dem Bewußtsein eines modernen Volks gilt es als unwürdig, religiöse Vorstellungen mit der blutigen Hantirung des Schlächters zu verknüpfen. Dieser Grund reicht vollkommen aus. Wer will es denn einem Volke verwehren, die ihm widerwärtigen Reste eines barbarischen, seit Jahr¬ hunderten überwnndnen Kulturzustandes aus seiner Mitte zu entfernen? Ob diese Gebräuche den Juden heilig sind oder nicht, das geht die modernen Völker ganz und gar nichts an. Sind diese äußerlichen Verrichtungen mit der Re¬ ligion so verknüpft, daß diese nicht ohne jene bestehen kann, dann sind die Juden eben in der Kultur hinter uus zurückgeblieben, und wir haben das Recht, thuen unsre Kultur aufzuzwingen, so gut wir sie unsern neuen Unter¬ thanen in Afrika aufzwingen, denen wir auch verbieten, was uns an ihren Sitten barbarisch erscheint, ohne uns darüber sonderliche Gewissensbisse zu machen. Sind diese rituellen Absonderlichkeiten aber keine unzertrennlichen Be¬ standteile der jüdischen Religion, sind sie vielmehr Merkmale eines längst unter-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/594
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/594>, abgerufen am 28.07.2024.