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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Reisegedanken und Reisebilder

Damit sind wir einem Thema nahe gekommen, das schon zu sehr breit-
getreten ist, als daß es erlaubt wäre, sich an dieser Stelle noch einmal darnnf
zu tummeln. Nur das eine möchte ich bemerken, daß man weder den Schweizer
Wirten noch den Wirten im allgemeinen vorwerfen kann, sie übervorteilten die
Gäste -- die steigende Bodenrenke und die Güte dessen, was geboten wird,
rechtfertigen die Preise --, daß sie vielmehr selbst sozusagen ein Opfer jener
Entwicklung siud, die heute jedermann zwingt, vorwärts zu hasten, wenn
er nicht überrannt werden will. Da eine stetig wachsende Zahl reicher Leute,
die, mit dem notwendigen nicht zufrieden, Bequemlichkeit und Luxus verlangen,
alle schönen Gegenden überschwemmt, so muß die braune Holztäfelung des Gast¬
zimmers Tapeten und Goldleisten Platz macheu, müssen sich Treppe und Flur
mit Teppichen bedecken, die Treppenabsätze mit Spiegeln, Topfgewächsen und
Thonfiguren schmücken, und muß das Schwarzbrot, das ehedem die Haupt¬
nahrung des fußreisenden Gymnasiasten und Studenten war (täglich drei- oder
viermal um einen bis anderthalb Silbergroschen), gänzlich verschwinden. Ja,
Brot, Butterbrot mit Käse, kann überhaupt im "Hotel" -- und welches Vcrg-
wirtshaus hieße heute nicht Hotel! -- gar nicht mehr bestellt werden; man
bekommt das Brot nur als Zugabe zum Ausschnitt oder zur "Salami," bei
welchen Speisen aber wiederum nicht das bischen Fleisch die Hauptsache ist,
sondern das Geschirr: ein Teller zum Brot, ein Teller zur Butter, ein, auch
zwei Teller zum Fleisch, zwei Paar Messer und Gabeln, noch zwei einzelne
Messer, mehrere Servietten; bei einem Kaffee für zwei Personen wird ein
ganzer Porzellan- und Silberwarcnladen aufgeboten. Alle diese Dinge kosten
Geld, viel davon geht beim Gebrauch zu Grunde, und es ist klar, daß, was
sie kosten, entweder den Preis der Speisen erhöhen oder die Portionen ver¬
kleinern muß. Und wenn Bädeker hener noch den "Wilden Mann" oder den
"Blauen Engel" oder das "Nößli" als billiges Gasthaus empfehlen darf, so
leitet er damit einen solchen Strom von Gästen, darunter auch anspruchsvolle,
dahin, daß sich der Wirt dadurch veranlaßt sieht, seine bescheidne Herberge auf
eine höhere Stufe emporzuheben, und übers Jahr ist aus dem "Nößli" das
HStsl an LlWv geworden. Zwar kann man sogar in Jnterlaken noch
ein gutes vollständiges Mittagessen für einen Franken bekommen,^) aber nur,
wenn man keine gesellschaftlichen Rücksichten nimmt. Nicht jeder Mann von
bescheidnen Einkommen kann das, und nicht jeder, der es könnte, wagt es.

Ist die Sache selbst bekannt und beklagt genug, so wird doch ihre soziale
Seite uoch lauge nicht genug beachtet. Wir haben es hier mit einer jener
Erscheinungen zu thun, an denen der Übelstand zu Tage tritt, daß die Fort-



") In Breslau kostete vor vierzig Jahren die Portion Mittagessen in Speiseattstalteii,
die von Studenten besucht wurde", zwei Groschen bis drei Silbergroschen; ein Student, der
um vier Silbergroschen speiste, galt schon sür vornehm.
Reisegedanken und Reisebilder

Damit sind wir einem Thema nahe gekommen, das schon zu sehr breit-
getreten ist, als daß es erlaubt wäre, sich an dieser Stelle noch einmal darnnf
zu tummeln. Nur das eine möchte ich bemerken, daß man weder den Schweizer
Wirten noch den Wirten im allgemeinen vorwerfen kann, sie übervorteilten die
Gäste — die steigende Bodenrenke und die Güte dessen, was geboten wird,
rechtfertigen die Preise —, daß sie vielmehr selbst sozusagen ein Opfer jener
Entwicklung siud, die heute jedermann zwingt, vorwärts zu hasten, wenn
er nicht überrannt werden will. Da eine stetig wachsende Zahl reicher Leute,
die, mit dem notwendigen nicht zufrieden, Bequemlichkeit und Luxus verlangen,
alle schönen Gegenden überschwemmt, so muß die braune Holztäfelung des Gast¬
zimmers Tapeten und Goldleisten Platz macheu, müssen sich Treppe und Flur
mit Teppichen bedecken, die Treppenabsätze mit Spiegeln, Topfgewächsen und
Thonfiguren schmücken, und muß das Schwarzbrot, das ehedem die Haupt¬
nahrung des fußreisenden Gymnasiasten und Studenten war (täglich drei- oder
viermal um einen bis anderthalb Silbergroschen), gänzlich verschwinden. Ja,
Brot, Butterbrot mit Käse, kann überhaupt im „Hotel" — und welches Vcrg-
wirtshaus hieße heute nicht Hotel! — gar nicht mehr bestellt werden; man
bekommt das Brot nur als Zugabe zum Ausschnitt oder zur „Salami," bei
welchen Speisen aber wiederum nicht das bischen Fleisch die Hauptsache ist,
sondern das Geschirr: ein Teller zum Brot, ein Teller zur Butter, ein, auch
zwei Teller zum Fleisch, zwei Paar Messer und Gabeln, noch zwei einzelne
Messer, mehrere Servietten; bei einem Kaffee für zwei Personen wird ein
ganzer Porzellan- und Silberwarcnladen aufgeboten. Alle diese Dinge kosten
Geld, viel davon geht beim Gebrauch zu Grunde, und es ist klar, daß, was
sie kosten, entweder den Preis der Speisen erhöhen oder die Portionen ver¬
kleinern muß. Und wenn Bädeker hener noch den „Wilden Mann" oder den
„Blauen Engel" oder das „Nößli" als billiges Gasthaus empfehlen darf, so
leitet er damit einen solchen Strom von Gästen, darunter auch anspruchsvolle,
dahin, daß sich der Wirt dadurch veranlaßt sieht, seine bescheidne Herberge auf
eine höhere Stufe emporzuheben, und übers Jahr ist aus dem „Nößli" das
HStsl an LlWv geworden. Zwar kann man sogar in Jnterlaken noch
ein gutes vollständiges Mittagessen für einen Franken bekommen,^) aber nur,
wenn man keine gesellschaftlichen Rücksichten nimmt. Nicht jeder Mann von
bescheidnen Einkommen kann das, und nicht jeder, der es könnte, wagt es.

Ist die Sache selbst bekannt und beklagt genug, so wird doch ihre soziale
Seite uoch lauge nicht genug beachtet. Wir haben es hier mit einer jener
Erscheinungen zu thun, an denen der Übelstand zu Tage tritt, daß die Fort-



") In Breslau kostete vor vierzig Jahren die Portion Mittagessen in Speiseattstalteii,
die von Studenten besucht wurde», zwei Groschen bis drei Silbergroschen; ein Student, der
um vier Silbergroschen speiste, galt schon sür vornehm.
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[0572] Reisegedanken und Reisebilder Damit sind wir einem Thema nahe gekommen, das schon zu sehr breit- getreten ist, als daß es erlaubt wäre, sich an dieser Stelle noch einmal darnnf zu tummeln. Nur das eine möchte ich bemerken, daß man weder den Schweizer Wirten noch den Wirten im allgemeinen vorwerfen kann, sie übervorteilten die Gäste — die steigende Bodenrenke und die Güte dessen, was geboten wird, rechtfertigen die Preise —, daß sie vielmehr selbst sozusagen ein Opfer jener Entwicklung siud, die heute jedermann zwingt, vorwärts zu hasten, wenn er nicht überrannt werden will. Da eine stetig wachsende Zahl reicher Leute, die, mit dem notwendigen nicht zufrieden, Bequemlichkeit und Luxus verlangen, alle schönen Gegenden überschwemmt, so muß die braune Holztäfelung des Gast¬ zimmers Tapeten und Goldleisten Platz macheu, müssen sich Treppe und Flur mit Teppichen bedecken, die Treppenabsätze mit Spiegeln, Topfgewächsen und Thonfiguren schmücken, und muß das Schwarzbrot, das ehedem die Haupt¬ nahrung des fußreisenden Gymnasiasten und Studenten war (täglich drei- oder viermal um einen bis anderthalb Silbergroschen), gänzlich verschwinden. Ja, Brot, Butterbrot mit Käse, kann überhaupt im „Hotel" — und welches Vcrg- wirtshaus hieße heute nicht Hotel! — gar nicht mehr bestellt werden; man bekommt das Brot nur als Zugabe zum Ausschnitt oder zur „Salami," bei welchen Speisen aber wiederum nicht das bischen Fleisch die Hauptsache ist, sondern das Geschirr: ein Teller zum Brot, ein Teller zur Butter, ein, auch zwei Teller zum Fleisch, zwei Paar Messer und Gabeln, noch zwei einzelne Messer, mehrere Servietten; bei einem Kaffee für zwei Personen wird ein ganzer Porzellan- und Silberwarcnladen aufgeboten. Alle diese Dinge kosten Geld, viel davon geht beim Gebrauch zu Grunde, und es ist klar, daß, was sie kosten, entweder den Preis der Speisen erhöhen oder die Portionen ver¬ kleinern muß. Und wenn Bädeker hener noch den „Wilden Mann" oder den „Blauen Engel" oder das „Nößli" als billiges Gasthaus empfehlen darf, so leitet er damit einen solchen Strom von Gästen, darunter auch anspruchsvolle, dahin, daß sich der Wirt dadurch veranlaßt sieht, seine bescheidne Herberge auf eine höhere Stufe emporzuheben, und übers Jahr ist aus dem „Nößli" das HStsl an LlWv geworden. Zwar kann man sogar in Jnterlaken noch ein gutes vollständiges Mittagessen für einen Franken bekommen,^) aber nur, wenn man keine gesellschaftlichen Rücksichten nimmt. Nicht jeder Mann von bescheidnen Einkommen kann das, und nicht jeder, der es könnte, wagt es. Ist die Sache selbst bekannt und beklagt genug, so wird doch ihre soziale Seite uoch lauge nicht genug beachtet. Wir haben es hier mit einer jener Erscheinungen zu thun, an denen der Übelstand zu Tage tritt, daß die Fort- ") In Breslau kostete vor vierzig Jahren die Portion Mittagessen in Speiseattstalteii, die von Studenten besucht wurde», zwei Groschen bis drei Silbergroschen; ein Student, der um vier Silbergroschen speiste, galt schon sür vornehm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/572>, abgerufen am 23.11.2024.