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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Fällen hat meines Wissens nur ein Seitenstück, das ist die Solidarität der
Verbrecher,

Viele von den Personen, die Wuttke damals gezeichnet hat, leben heute
noch; der Angriff hat ihnen wenig geschadet, das Publikum ist im allgemeinen
"och genau so unerfahren in Zeitungssachen wie damals. Und doch sind die
Dinge eher schlimmer geworden. Wie viel Zeitungen in Deutschland dürfen
heute überhaupt noch den Anspruch erheben, selbständige Blätter zu sein? Ich
würde kein halbes hundert zusammenbringen. Der Inhalt der meisten Zei¬
tungen ist Abdruck vervielfältigter Korrespondenzen oder Nachdruck bis zur
äußersten Grenze des Erlaubten; großartiger als manche Redakteure stiehlt
ein Rabe nicht. Leitartikel, Feuilletons, Tagesberichte, Lokalnachrichten,
Mord, Totschlag, Ehebruch -- alles wird su Aros fabrizirt. Ich kenne cm-
gcsehne Blätter, deren Redakteure wochenlang keine Feder zur Hand nehmen;
Blaustift, Schere und Kleistertopf genügen vollständig. Daß ganze Zeitungen
unter verschiednen Namen (ohne Kopf versandt) erscheinen, selbst in der Reichs-
hauptstadt, oder als "Ableger" größerer Blätter, dürfte bekannt sein.

Die geistige" Kosten der Zeitungsschreibers tragen uicht die Redakteure,
sondern die Korrespo"de"zbüreaus, die meist einen ganz unverhältnismäßig
hohen Ertrag abwerfen. Ein Berliner Gerichtsreferent, der sich eine Art
Monopol zu schaffen gewußt hat, wird auf jährlich 36000 Mark "geschätzt";
nicht viel weniger sollen die Inhaber eines Berliner Lokalnachrichtenbüreaus,
zwei frühere Polizeileutuants, verdienen. Im Verhältnis zu dem Aufwand
an Geistesarbeit sind die Einkünfte der meisten dieser Bureaus von unglaub¬
licher Größe.

An sich hätte ja nun die Arbeitsteilung im Zeitungswesen nichts Bedenk¬
liches, die Sache wird erst dadurch gefährlich und anrüchig, daß mit solchen
Korrespondenzen ein unerhörter Mißbrauch getrieben wird. Das lesende Publikum
wird wissentlich belogen und betrogen, man setzt ihm -- es ist das ein be¬
liebtes Mittel, Abonnenten zu fangen -- "Originalkvrrespondenzen," "Eigen¬
berichte," "Privattelegramme" vor, die gleichzeitig in einer ganzen Reihe
andrer Zeitungen als "Originalkorrespondenzen" erscheine"; die "Privattele¬
gramme" sind niemals durch einen Draht gegangen, selbst Nedaktionszeichen
werden gefälscht, um glauben zu machen, ein Leitartikel oder irgend ein andrer
Teil des Blattes rühre aus einer besonders beliebten Feder her.

Alles das weiß ein großer Teil des Publikums, es weiß, daß es tag¬
täglich belogen wird, es verachtet vielleicht auch die kleinliche Erbärmlichkeit
dieser Lügen, aber das gedruckte Wort gilt weiter als Autorität, weil die
Zeitungen bei unserm riesigen Verkehr unentbehrlich geworden sind, weil
sie bei der zunehmenden Schwierigkeit des Erwerbs, der immer größer werdenden
Notwendigkeit der Anspannung aller Kräfte in dem Kampf ums tägliche Brot
seist die einzigen Gednnkenvermittler und so seltsam es klingen mag -- die


Grenzboten III 1893 7l)

Fällen hat meines Wissens nur ein Seitenstück, das ist die Solidarität der
Verbrecher,

Viele von den Personen, die Wuttke damals gezeichnet hat, leben heute
noch; der Angriff hat ihnen wenig geschadet, das Publikum ist im allgemeinen
»och genau so unerfahren in Zeitungssachen wie damals. Und doch sind die
Dinge eher schlimmer geworden. Wie viel Zeitungen in Deutschland dürfen
heute überhaupt noch den Anspruch erheben, selbständige Blätter zu sein? Ich
würde kein halbes hundert zusammenbringen. Der Inhalt der meisten Zei¬
tungen ist Abdruck vervielfältigter Korrespondenzen oder Nachdruck bis zur
äußersten Grenze des Erlaubten; großartiger als manche Redakteure stiehlt
ein Rabe nicht. Leitartikel, Feuilletons, Tagesberichte, Lokalnachrichten,
Mord, Totschlag, Ehebruch — alles wird su Aros fabrizirt. Ich kenne cm-
gcsehne Blätter, deren Redakteure wochenlang keine Feder zur Hand nehmen;
Blaustift, Schere und Kleistertopf genügen vollständig. Daß ganze Zeitungen
unter verschiednen Namen (ohne Kopf versandt) erscheinen, selbst in der Reichs-
hauptstadt, oder als „Ableger" größerer Blätter, dürfte bekannt sein.

Die geistige» Kosten der Zeitungsschreibers tragen uicht die Redakteure,
sondern die Korrespo»de»zbüreaus, die meist einen ganz unverhältnismäßig
hohen Ertrag abwerfen. Ein Berliner Gerichtsreferent, der sich eine Art
Monopol zu schaffen gewußt hat, wird auf jährlich 36000 Mark „geschätzt";
nicht viel weniger sollen die Inhaber eines Berliner Lokalnachrichtenbüreaus,
zwei frühere Polizeileutuants, verdienen. Im Verhältnis zu dem Aufwand
an Geistesarbeit sind die Einkünfte der meisten dieser Bureaus von unglaub¬
licher Größe.

An sich hätte ja nun die Arbeitsteilung im Zeitungswesen nichts Bedenk¬
liches, die Sache wird erst dadurch gefährlich und anrüchig, daß mit solchen
Korrespondenzen ein unerhörter Mißbrauch getrieben wird. Das lesende Publikum
wird wissentlich belogen und betrogen, man setzt ihm — es ist das ein be¬
liebtes Mittel, Abonnenten zu fangen — „Originalkvrrespondenzen," „Eigen¬
berichte," „Privattelegramme" vor, die gleichzeitig in einer ganzen Reihe
andrer Zeitungen als „Originalkorrespondenzen" erscheine»; die „Privattele¬
gramme" sind niemals durch einen Draht gegangen, selbst Nedaktionszeichen
werden gefälscht, um glauben zu machen, ein Leitartikel oder irgend ein andrer
Teil des Blattes rühre aus einer besonders beliebten Feder her.

Alles das weiß ein großer Teil des Publikums, es weiß, daß es tag¬
täglich belogen wird, es verachtet vielleicht auch die kleinliche Erbärmlichkeit
dieser Lügen, aber das gedruckte Wort gilt weiter als Autorität, weil die
Zeitungen bei unserm riesigen Verkehr unentbehrlich geworden sind, weil
sie bei der zunehmenden Schwierigkeit des Erwerbs, der immer größer werdenden
Notwendigkeit der Anspannung aller Kräfte in dem Kampf ums tägliche Brot
seist die einzigen Gednnkenvermittler und so seltsam es klingen mag — die


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[0561] Fällen hat meines Wissens nur ein Seitenstück, das ist die Solidarität der Verbrecher, Viele von den Personen, die Wuttke damals gezeichnet hat, leben heute noch; der Angriff hat ihnen wenig geschadet, das Publikum ist im allgemeinen »och genau so unerfahren in Zeitungssachen wie damals. Und doch sind die Dinge eher schlimmer geworden. Wie viel Zeitungen in Deutschland dürfen heute überhaupt noch den Anspruch erheben, selbständige Blätter zu sein? Ich würde kein halbes hundert zusammenbringen. Der Inhalt der meisten Zei¬ tungen ist Abdruck vervielfältigter Korrespondenzen oder Nachdruck bis zur äußersten Grenze des Erlaubten; großartiger als manche Redakteure stiehlt ein Rabe nicht. Leitartikel, Feuilletons, Tagesberichte, Lokalnachrichten, Mord, Totschlag, Ehebruch — alles wird su Aros fabrizirt. Ich kenne cm- gcsehne Blätter, deren Redakteure wochenlang keine Feder zur Hand nehmen; Blaustift, Schere und Kleistertopf genügen vollständig. Daß ganze Zeitungen unter verschiednen Namen (ohne Kopf versandt) erscheinen, selbst in der Reichs- hauptstadt, oder als „Ableger" größerer Blätter, dürfte bekannt sein. Die geistige» Kosten der Zeitungsschreibers tragen uicht die Redakteure, sondern die Korrespo»de»zbüreaus, die meist einen ganz unverhältnismäßig hohen Ertrag abwerfen. Ein Berliner Gerichtsreferent, der sich eine Art Monopol zu schaffen gewußt hat, wird auf jährlich 36000 Mark „geschätzt"; nicht viel weniger sollen die Inhaber eines Berliner Lokalnachrichtenbüreaus, zwei frühere Polizeileutuants, verdienen. Im Verhältnis zu dem Aufwand an Geistesarbeit sind die Einkünfte der meisten dieser Bureaus von unglaub¬ licher Größe. An sich hätte ja nun die Arbeitsteilung im Zeitungswesen nichts Bedenk¬ liches, die Sache wird erst dadurch gefährlich und anrüchig, daß mit solchen Korrespondenzen ein unerhörter Mißbrauch getrieben wird. Das lesende Publikum wird wissentlich belogen und betrogen, man setzt ihm — es ist das ein be¬ liebtes Mittel, Abonnenten zu fangen — „Originalkvrrespondenzen," „Eigen¬ berichte," „Privattelegramme" vor, die gleichzeitig in einer ganzen Reihe andrer Zeitungen als „Originalkorrespondenzen" erscheine»; die „Privattele¬ gramme" sind niemals durch einen Draht gegangen, selbst Nedaktionszeichen werden gefälscht, um glauben zu machen, ein Leitartikel oder irgend ein andrer Teil des Blattes rühre aus einer besonders beliebten Feder her. Alles das weiß ein großer Teil des Publikums, es weiß, daß es tag¬ täglich belogen wird, es verachtet vielleicht auch die kleinliche Erbärmlichkeit dieser Lügen, aber das gedruckte Wort gilt weiter als Autorität, weil die Zeitungen bei unserm riesigen Verkehr unentbehrlich geworden sind, weil sie bei der zunehmenden Schwierigkeit des Erwerbs, der immer größer werdenden Notwendigkeit der Anspannung aller Kräfte in dem Kampf ums tägliche Brot seist die einzigen Gednnkenvermittler und so seltsam es klingen mag — die Grenzboten III 1893 7l)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/561>, abgerufen am 01.09.2024.