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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

deutschen Kleinstaates. Er hatte als Ersatz für das Verlorne weitere Vaterland
wenigstens ein engeres, dem seine Liebe, seine Kräfte, sein Blut gehörten. In
Indien dagegen ist politische Bürgerschaft fast ein unbekanntes Ding. Der
Deutsche, befragt, was er sei, hätte Wohl vergessen können, daß er ein Deutscher
war, aber er hätte doch geantwortet: ich bin ein Preuße, oder: ich bin ein
Baier. Der Inder würde höchstens sagen: ich gehöre zur Sloanischen Schneider¬
gilde von Kalkutta, oder: ich bin ein wischnnitischer Goldschmied ans Madras.
Die Beziehungen des Einzelnen zum Staate sind den engern Verhältnissen, die
das ganze gesellschaftliche Leben beherrschen, untergeordnet. Die Regierung,
unter der ein Mann lebt, ist ihm eine ganz nebensächliche Einrichtung, die
gestern aus blindem Zufall entstanden und morgen vielleicht verschwunden ist.
Auf irgend welche Anhänglichkeit hat sie keinen Anspruch. Er wechselt seine
Herrscher, seine Staatsangehörigkeit, wie wir unsre Kleider wechseln. Er hat
nicht einmal ein "engeres" Vaterland, er hat nur seine Kaste. Darum hat
er auch nicht einmal Lokalpatriotismus. Wenn er überhaupt Neigung zum
Kriegshandwerk hat, so hindert ihn kein moralisches Band, sich von irgend
einer beliebigen Regierung anwerben zu lassen, die nur einen guten Sold ver¬
spricht. Und warum uicht auch von den Engländern, zumal wenn sie besser
und regelmäßiger zahlen als die übrigen, und unter ihren Fahnen mehr Ruhm
winkt als anderwärts? Der Umstand, daß sie Fremde sind, kann ihn nicht
abhalten. Denn was ist ihm überhaupt "ein Fremder" ? Der PandschM ist
dem Bengali, der Radschpute dem Madrassi nicht weniger ein Fremder als
der Brite. Ja selbst "innerhalb jeder einzelnen indischen Provinz sind die
politischen Sympathien der verschiednen Volksgruppen sür Männer, die in
geographischem Sinne ihre Landsleute sind, oft ebenso unvollkommen, wie für
ihre englischen Herren" (Stranses). Wo der Begriff "Vaterland" fehlt, muß
sich auch der Gegensatz von "fremd" und "einheimisch" verwischen. So erklärt
sich denn, was auf deu ersten Blick so rätselhaft erschien, auf die einfachste Weise.

Auch die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses brauchte kein Hin¬
dernis zu sein. In Algerien hatten die Franzosen ebenfalls verschiedne über-
einandergeschichtete und bis dahin einander feindliche Nassen vorgefunden: die
eingebornen Numiden oder Kabylen, die ersten arabischen Eroberer und die
letzten türkischen Herren. Aber die Ankunft des Christen vereinigte sie bald
alle in dem fanatischen Haß des Muhammedaners gegen den Ungläubigen.
Nichts derartiges geschah in Indien. Hier standen sich zunächst Vrcchmanismns
und Islam in grundsätzlicher Feindschaft gegenüber. Auf der einen Seite hatte
der Islam die politische Führerschaft bereits wieder verloren; er umfaßte eine
kleine Minderzahl der Bevölkerung; er war in die feindlichen Lager der Sun¬
niten und Schiiten gespalten und hatte von früh an ein Gepräge religiöser
Gleichgültigkeit getragen, wie es ihm anderwärts nicht eigen ist. Akbar, der
größte der mongolischen Kaiser, war Rationalist und in einer Weise duldsam,


Indische Zustände

deutschen Kleinstaates. Er hatte als Ersatz für das Verlorne weitere Vaterland
wenigstens ein engeres, dem seine Liebe, seine Kräfte, sein Blut gehörten. In
Indien dagegen ist politische Bürgerschaft fast ein unbekanntes Ding. Der
Deutsche, befragt, was er sei, hätte Wohl vergessen können, daß er ein Deutscher
war, aber er hätte doch geantwortet: ich bin ein Preuße, oder: ich bin ein
Baier. Der Inder würde höchstens sagen: ich gehöre zur Sloanischen Schneider¬
gilde von Kalkutta, oder: ich bin ein wischnnitischer Goldschmied ans Madras.
Die Beziehungen des Einzelnen zum Staate sind den engern Verhältnissen, die
das ganze gesellschaftliche Leben beherrschen, untergeordnet. Die Regierung,
unter der ein Mann lebt, ist ihm eine ganz nebensächliche Einrichtung, die
gestern aus blindem Zufall entstanden und morgen vielleicht verschwunden ist.
Auf irgend welche Anhänglichkeit hat sie keinen Anspruch. Er wechselt seine
Herrscher, seine Staatsangehörigkeit, wie wir unsre Kleider wechseln. Er hat
nicht einmal ein „engeres" Vaterland, er hat nur seine Kaste. Darum hat
er auch nicht einmal Lokalpatriotismus. Wenn er überhaupt Neigung zum
Kriegshandwerk hat, so hindert ihn kein moralisches Band, sich von irgend
einer beliebigen Regierung anwerben zu lassen, die nur einen guten Sold ver¬
spricht. Und warum uicht auch von den Engländern, zumal wenn sie besser
und regelmäßiger zahlen als die übrigen, und unter ihren Fahnen mehr Ruhm
winkt als anderwärts? Der Umstand, daß sie Fremde sind, kann ihn nicht
abhalten. Denn was ist ihm überhaupt „ein Fremder" ? Der PandschM ist
dem Bengali, der Radschpute dem Madrassi nicht weniger ein Fremder als
der Brite. Ja selbst „innerhalb jeder einzelnen indischen Provinz sind die
politischen Sympathien der verschiednen Volksgruppen sür Männer, die in
geographischem Sinne ihre Landsleute sind, oft ebenso unvollkommen, wie für
ihre englischen Herren" (Stranses). Wo der Begriff „Vaterland" fehlt, muß
sich auch der Gegensatz von „fremd" und „einheimisch" verwischen. So erklärt
sich denn, was auf deu ersten Blick so rätselhaft erschien, auf die einfachste Weise.

Auch die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses brauchte kein Hin¬
dernis zu sein. In Algerien hatten die Franzosen ebenfalls verschiedne über-
einandergeschichtete und bis dahin einander feindliche Nassen vorgefunden: die
eingebornen Numiden oder Kabylen, die ersten arabischen Eroberer und die
letzten türkischen Herren. Aber die Ankunft des Christen vereinigte sie bald
alle in dem fanatischen Haß des Muhammedaners gegen den Ungläubigen.
Nichts derartiges geschah in Indien. Hier standen sich zunächst Vrcchmanismns
und Islam in grundsätzlicher Feindschaft gegenüber. Auf der einen Seite hatte
der Islam die politische Führerschaft bereits wieder verloren; er umfaßte eine
kleine Minderzahl der Bevölkerung; er war in die feindlichen Lager der Sun¬
niten und Schiiten gespalten und hatte von früh an ein Gepräge religiöser
Gleichgültigkeit getragen, wie es ihm anderwärts nicht eigen ist. Akbar, der
größte der mongolischen Kaiser, war Rationalist und in einer Weise duldsam,


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[0557] Indische Zustände deutschen Kleinstaates. Er hatte als Ersatz für das Verlorne weitere Vaterland wenigstens ein engeres, dem seine Liebe, seine Kräfte, sein Blut gehörten. In Indien dagegen ist politische Bürgerschaft fast ein unbekanntes Ding. Der Deutsche, befragt, was er sei, hätte Wohl vergessen können, daß er ein Deutscher war, aber er hätte doch geantwortet: ich bin ein Preuße, oder: ich bin ein Baier. Der Inder würde höchstens sagen: ich gehöre zur Sloanischen Schneider¬ gilde von Kalkutta, oder: ich bin ein wischnnitischer Goldschmied ans Madras. Die Beziehungen des Einzelnen zum Staate sind den engern Verhältnissen, die das ganze gesellschaftliche Leben beherrschen, untergeordnet. Die Regierung, unter der ein Mann lebt, ist ihm eine ganz nebensächliche Einrichtung, die gestern aus blindem Zufall entstanden und morgen vielleicht verschwunden ist. Auf irgend welche Anhänglichkeit hat sie keinen Anspruch. Er wechselt seine Herrscher, seine Staatsangehörigkeit, wie wir unsre Kleider wechseln. Er hat nicht einmal ein „engeres" Vaterland, er hat nur seine Kaste. Darum hat er auch nicht einmal Lokalpatriotismus. Wenn er überhaupt Neigung zum Kriegshandwerk hat, so hindert ihn kein moralisches Band, sich von irgend einer beliebigen Regierung anwerben zu lassen, die nur einen guten Sold ver¬ spricht. Und warum uicht auch von den Engländern, zumal wenn sie besser und regelmäßiger zahlen als die übrigen, und unter ihren Fahnen mehr Ruhm winkt als anderwärts? Der Umstand, daß sie Fremde sind, kann ihn nicht abhalten. Denn was ist ihm überhaupt „ein Fremder" ? Der PandschM ist dem Bengali, der Radschpute dem Madrassi nicht weniger ein Fremder als der Brite. Ja selbst „innerhalb jeder einzelnen indischen Provinz sind die politischen Sympathien der verschiednen Volksgruppen sür Männer, die in geographischem Sinne ihre Landsleute sind, oft ebenso unvollkommen, wie für ihre englischen Herren" (Stranses). Wo der Begriff „Vaterland" fehlt, muß sich auch der Gegensatz von „fremd" und „einheimisch" verwischen. So erklärt sich denn, was auf deu ersten Blick so rätselhaft erschien, auf die einfachste Weise. Auch die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses brauchte kein Hin¬ dernis zu sein. In Algerien hatten die Franzosen ebenfalls verschiedne über- einandergeschichtete und bis dahin einander feindliche Nassen vorgefunden: die eingebornen Numiden oder Kabylen, die ersten arabischen Eroberer und die letzten türkischen Herren. Aber die Ankunft des Christen vereinigte sie bald alle in dem fanatischen Haß des Muhammedaners gegen den Ungläubigen. Nichts derartiges geschah in Indien. Hier standen sich zunächst Vrcchmanismns und Islam in grundsätzlicher Feindschaft gegenüber. Auf der einen Seite hatte der Islam die politische Führerschaft bereits wieder verloren; er umfaßte eine kleine Minderzahl der Bevölkerung; er war in die feindlichen Lager der Sun¬ niten und Schiiten gespalten und hatte von früh an ein Gepräge religiöser Gleichgültigkeit getragen, wie es ihm anderwärts nicht eigen ist. Akbar, der größte der mongolischen Kaiser, war Rationalist und in einer Weise duldsam,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/557>, abgerufen am 01.09.2024.