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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

tige Maß zurückzuführen. Mau muß bedenken, daß die übrigen vier Fünftel
aus Eingebornen bestanden. Erst wenn wir uns der Bedeutung dieser That¬
sache bewußt werden, verstehen wir das Wesen dieser sogenannten "Eroberung
Indiens." Dann erst erscheint sie uns als das, was sie ist: nämlich weniger
eine Eroberung als eine Umwälzung (Seeleh). Indien ist nicht durch die
Engländer, sondern durch die Inder selbst erobert worden, freilich durch Inder
unter englischer Führung. Das Ergebnis ist deshalb auch die Herstellung der
englischen Herrschaft über die Halbinsel gewesen.

Es bleibt also nur noch zu erkläre", warum sich die Inder selbst in den
Dienst der Briten gestellt haben, warum sie einer fremden Macht geholfen
haben, ihr Land zu unterwerfen. Was würden wir sagen, wenn deutsche
Männer zur Bezwingung ihres Vaterlandes ihren Arm deu Franzosen leihe"
wollten! Und doch ist auch das dagewesen. Hat doch Napoleon Baier"
und Württemberger, Hessen und Sachsen zu den Trügern seiner Zwingherr¬
schaft über den deutschen Norden machen können. Freilich war damals infolge
der traurigen Zersplitterung unsers Vaterlandes das deutsche Nationalgefühl
fast bis auf deu Nullpunkt gesunken. Der Ausländer konnte mit Recht fragen,
wo denn dieses sogenannte Deutschland eigentlich liege; der gewaltige Korse
konnte "die Völker Sachsens" aufrufen zum Kampf für ihre "nationale Un¬
abhängigkeit"; die große "schwäbische Nation" konnte ihre Waffen erheben
gegen deu "preußischen Erbfeind"; und der Geograph Mannert konnte die Ent¬
deckung machen, "daß die Vaiern keine Deutschen seien, sondern ein keltisches
Volk, den Franzosen blutsverwandt, wie man schon an ihrem nationalen
Schnauzbart erkenne." Ist es denn aber nicht gerade dieser Mangel jedes
nationalen Bandes, der die politischen Zustände der indischen Halbinsel kenn¬
zeichnet? Haben wir nicht gesehen, daß das Bewußtsein ihrer Zusammen¬
gehörigkeit den Millionen Indiens gänzlich abgeht? daß es, anßer im geo¬
graphischen Sinne, ein Indien gar nicht giebt? Und man glaube nicht, daß
das Beispiel des napoleonischen Deutschlands anch nur annähernd einen Be¬
griff geben könne von der politischen Leblosigkeit und der gesellschaftlichen Zer¬
splitterung Indiens. Die Deutschen mußte doch die gemeinsame Sprache, mußte
die Erinnerung an die alte Kaiserherrlichkeit immer wieder darau mahne", daß
sie Brüder seien. Die Millionen Indiens dagegen eint kein sprachliches Band;
ihnen sitzt kein Barbarossa in den Windhjas, der Zeit harrend, wo sich das
Reich erneuern werde. Und weiter: wohl gab es bei uns zur Zeit des Rhein¬
bundes kaum ein deutsches Nationalgefühl mehr; aber dafür lebte doch ein
preußisches, ein bairisches, ein sächsisches Stammesbewnßtsein. Napoleon konnte
Baiern gegen Österreich, Sachsen gegen Preußen ausspielen, doch er konnte
nicht einfach für Geld ein Heer von Preußen anwerben zum Kampf gegen die
Monarchie Friedrichs des Großen. Der Einzelne fühlte sich, wenn auch nicht
als Bürger Alldeutschlands, so doch wenigstens als Bürger dieses oder jenes


Indische Zustände

tige Maß zurückzuführen. Mau muß bedenken, daß die übrigen vier Fünftel
aus Eingebornen bestanden. Erst wenn wir uns der Bedeutung dieser That¬
sache bewußt werden, verstehen wir das Wesen dieser sogenannten „Eroberung
Indiens." Dann erst erscheint sie uns als das, was sie ist: nämlich weniger
eine Eroberung als eine Umwälzung (Seeleh). Indien ist nicht durch die
Engländer, sondern durch die Inder selbst erobert worden, freilich durch Inder
unter englischer Führung. Das Ergebnis ist deshalb auch die Herstellung der
englischen Herrschaft über die Halbinsel gewesen.

Es bleibt also nur noch zu erkläre», warum sich die Inder selbst in den
Dienst der Briten gestellt haben, warum sie einer fremden Macht geholfen
haben, ihr Land zu unterwerfen. Was würden wir sagen, wenn deutsche
Männer zur Bezwingung ihres Vaterlandes ihren Arm deu Franzosen leihe»
wollten! Und doch ist auch das dagewesen. Hat doch Napoleon Baier»
und Württemberger, Hessen und Sachsen zu den Trügern seiner Zwingherr¬
schaft über den deutschen Norden machen können. Freilich war damals infolge
der traurigen Zersplitterung unsers Vaterlandes das deutsche Nationalgefühl
fast bis auf deu Nullpunkt gesunken. Der Ausländer konnte mit Recht fragen,
wo denn dieses sogenannte Deutschland eigentlich liege; der gewaltige Korse
konnte „die Völker Sachsens" aufrufen zum Kampf für ihre „nationale Un¬
abhängigkeit"; die große „schwäbische Nation" konnte ihre Waffen erheben
gegen deu „preußischen Erbfeind"; und der Geograph Mannert konnte die Ent¬
deckung machen, „daß die Vaiern keine Deutschen seien, sondern ein keltisches
Volk, den Franzosen blutsverwandt, wie man schon an ihrem nationalen
Schnauzbart erkenne." Ist es denn aber nicht gerade dieser Mangel jedes
nationalen Bandes, der die politischen Zustände der indischen Halbinsel kenn¬
zeichnet? Haben wir nicht gesehen, daß das Bewußtsein ihrer Zusammen¬
gehörigkeit den Millionen Indiens gänzlich abgeht? daß es, anßer im geo¬
graphischen Sinne, ein Indien gar nicht giebt? Und man glaube nicht, daß
das Beispiel des napoleonischen Deutschlands anch nur annähernd einen Be¬
griff geben könne von der politischen Leblosigkeit und der gesellschaftlichen Zer¬
splitterung Indiens. Die Deutschen mußte doch die gemeinsame Sprache, mußte
die Erinnerung an die alte Kaiserherrlichkeit immer wieder darau mahne«, daß
sie Brüder seien. Die Millionen Indiens dagegen eint kein sprachliches Band;
ihnen sitzt kein Barbarossa in den Windhjas, der Zeit harrend, wo sich das
Reich erneuern werde. Und weiter: wohl gab es bei uns zur Zeit des Rhein¬
bundes kaum ein deutsches Nationalgefühl mehr; aber dafür lebte doch ein
preußisches, ein bairisches, ein sächsisches Stammesbewnßtsein. Napoleon konnte
Baiern gegen Österreich, Sachsen gegen Preußen ausspielen, doch er konnte
nicht einfach für Geld ein Heer von Preußen anwerben zum Kampf gegen die
Monarchie Friedrichs des Großen. Der Einzelne fühlte sich, wenn auch nicht
als Bürger Alldeutschlands, so doch wenigstens als Bürger dieses oder jenes


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[0556] Indische Zustände tige Maß zurückzuführen. Mau muß bedenken, daß die übrigen vier Fünftel aus Eingebornen bestanden. Erst wenn wir uns der Bedeutung dieser That¬ sache bewußt werden, verstehen wir das Wesen dieser sogenannten „Eroberung Indiens." Dann erst erscheint sie uns als das, was sie ist: nämlich weniger eine Eroberung als eine Umwälzung (Seeleh). Indien ist nicht durch die Engländer, sondern durch die Inder selbst erobert worden, freilich durch Inder unter englischer Führung. Das Ergebnis ist deshalb auch die Herstellung der englischen Herrschaft über die Halbinsel gewesen. Es bleibt also nur noch zu erkläre», warum sich die Inder selbst in den Dienst der Briten gestellt haben, warum sie einer fremden Macht geholfen haben, ihr Land zu unterwerfen. Was würden wir sagen, wenn deutsche Männer zur Bezwingung ihres Vaterlandes ihren Arm deu Franzosen leihe» wollten! Und doch ist auch das dagewesen. Hat doch Napoleon Baier» und Württemberger, Hessen und Sachsen zu den Trügern seiner Zwingherr¬ schaft über den deutschen Norden machen können. Freilich war damals infolge der traurigen Zersplitterung unsers Vaterlandes das deutsche Nationalgefühl fast bis auf deu Nullpunkt gesunken. Der Ausländer konnte mit Recht fragen, wo denn dieses sogenannte Deutschland eigentlich liege; der gewaltige Korse konnte „die Völker Sachsens" aufrufen zum Kampf für ihre „nationale Un¬ abhängigkeit"; die große „schwäbische Nation" konnte ihre Waffen erheben gegen deu „preußischen Erbfeind"; und der Geograph Mannert konnte die Ent¬ deckung machen, „daß die Vaiern keine Deutschen seien, sondern ein keltisches Volk, den Franzosen blutsverwandt, wie man schon an ihrem nationalen Schnauzbart erkenne." Ist es denn aber nicht gerade dieser Mangel jedes nationalen Bandes, der die politischen Zustände der indischen Halbinsel kenn¬ zeichnet? Haben wir nicht gesehen, daß das Bewußtsein ihrer Zusammen¬ gehörigkeit den Millionen Indiens gänzlich abgeht? daß es, anßer im geo¬ graphischen Sinne, ein Indien gar nicht giebt? Und man glaube nicht, daß das Beispiel des napoleonischen Deutschlands anch nur annähernd einen Be¬ griff geben könne von der politischen Leblosigkeit und der gesellschaftlichen Zer¬ splitterung Indiens. Die Deutschen mußte doch die gemeinsame Sprache, mußte die Erinnerung an die alte Kaiserherrlichkeit immer wieder darau mahne«, daß sie Brüder seien. Die Millionen Indiens dagegen eint kein sprachliches Band; ihnen sitzt kein Barbarossa in den Windhjas, der Zeit harrend, wo sich das Reich erneuern werde. Und weiter: wohl gab es bei uns zur Zeit des Rhein¬ bundes kaum ein deutsches Nationalgefühl mehr; aber dafür lebte doch ein preußisches, ein bairisches, ein sächsisches Stammesbewnßtsein. Napoleon konnte Baiern gegen Österreich, Sachsen gegen Preußen ausspielen, doch er konnte nicht einfach für Geld ein Heer von Preußen anwerben zum Kampf gegen die Monarchie Friedrichs des Großen. Der Einzelne fühlte sich, wenn auch nicht als Bürger Alldeutschlands, so doch wenigstens als Bürger dieses oder jenes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/556>, abgerufen am 01.09.2024.