Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Die ätherische Volksmoral im Drama und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬ Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt, Die Frage, ob frühzeitige Kenntnis oder lange Unkenntnis der geschlechtlichen Dinge der Keuschheit der Jugend förderlicher sei, hat von jeher zu den streitigen gehört und ist sehr schwer zu entscheiden. Thatsache ist, daß, wo die Jugend Personen des andern Geschlechts von früh auf unverhüllt zu sehen gewohnt ist, der Anblick nichts Erregendes hat, wie ja auch die antiken Skulpturen nicht reizen. Lüstern wird ein Bildwerk erst durch die Absicht des Künstlers, es lüstern zu machen, und das geschieht durch die Stellung der Figur, durch Mienen- und Geberdenspiel, namentlich aber durch halbe Verhüllung.? "*) Und das erste x^rrioiclium uach dem zweiten Punischen Kriege, wie Röscher in seiner "Politik" S. 422 nach Dionys von Halikarnaß und Plutarch erwähnt. Grenzboten 1U 1893
Die ätherische Volksmoral im Drama und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬ Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt, Die Frage, ob frühzeitige Kenntnis oder lange Unkenntnis der geschlechtlichen Dinge der Keuschheit der Jugend förderlicher sei, hat von jeher zu den streitigen gehört und ist sehr schwer zu entscheiden. Thatsache ist, daß, wo die Jugend Personen des andern Geschlechts von früh auf unverhüllt zu sehen gewohnt ist, der Anblick nichts Erregendes hat, wie ja auch die antiken Skulpturen nicht reizen. Lüstern wird ein Bildwerk erst durch die Absicht des Künstlers, es lüstern zu machen, und das geschieht durch die Stellung der Figur, durch Mienen- und Geberdenspiel, namentlich aber durch halbe Verhüllung.? "*) Und das erste x^rrioiclium uach dem zweiten Punischen Kriege, wie Röscher in seiner „Politik" S. 422 nach Dionys von Halikarnaß und Plutarch erwähnt. Grenzboten 1U 1893
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215611"/> <fw type="header" place="top"> Die ätherische Volksmoral im Drama</fw><lb/> <p xml:id="ID_1802" prev="#ID_1801"> und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬<lb/> stürzt und im tiefsten Kote versinkt." So zu sprechen wagt keiner mehr, und<lb/> so hat denn der Liberalismus, Nebenbuhlern und Nachfolgern das Feld räumend,<lb/> auch in dieser Hinsicht bankrott gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1803"> Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt,<lb/> dient sie als Schutzwehr für die Unschuld der Jugend^) und die Würde der<lb/> Frauen. Aber dieser Nutzen wird durch den Umstand aufgewogen, daß die<lb/> Verwechselung und Verschmelzung des sittlich Bösen mit dem Unanständigen<lb/> die Gewissen verwirrt und abstumpft, sodaß ein Mann, ohne Furcht, in der<lb/> Gesellschaft unmöglich zu werden, an seiner Frau oder an einem von ihm<lb/> verführten Mädchen gemein und niederträchtig handeln darf, wenn er nur weder<lb/> den äußern Anstand verletzt, noch das Strafgesetz übertritt. Andrerseits hat<lb/> die öffentliche Zulassung des Obseönen auf die Sittlichkeit der Alten keinen<lb/> nachweislich schlechten Einfluß geübt; denn sie war bei den Griechen wie bei<lb/> den Römern das Ursprüngliche, die Sittenverderbnis aber riß gerade in der<lb/> Zeit ein, wo Reichtum, Luxus und Bildung das ganze Leben und damit auch<lb/> den Begriff von Anstand verfeinerten. In der altitalischen Bauernreligion<lb/> scheint, wie meistens in den Naturreligionen, die vergöttlichte Zeugungskraft<lb/> den Mittelpunkt gebildet zu haben. Der Phallus spielte bei den Römern fast<lb/> dieselbe Rolle, wie heute in katholischen Ländern das Heiligenbild; überall war<lb/> er zu sehen: auf der Straße, im Garten, im Hause. In kleinem Format<lb/> diente er als Amulet für einzelne Personen, in großem hatte er die ganze<lb/> Familie, den Acker und Garten, die Gemeinde und das Kriegsheer zu schützen<lb/> und zu segnen. Und bei diesen Phallusverehrern war die Ehe so heilig, das;<lb/> Rom die erste Ehescheidung erst im Jahre 521 nach Erbauung der Stadt<lb/> erlebte.^) Auch ist es charakteristisch, daß Rom zwei seiner großen Staats-<lb/> umwälzungen auf Entehrung, das einemal einer Matrone, das andremal einer<lb/> Jungfrau, zurückgeführt hat. Wie viel Revolutionen müßten wir da heute in<lb/> Deutschland erleiden!</p><lb/> <note xml:id="FID_67" place="foot"> Die Frage, ob frühzeitige Kenntnis oder lange Unkenntnis der geschlechtlichen Dinge<lb/> der Keuschheit der Jugend förderlicher sei, hat von jeher zu den streitigen gehört und ist sehr<lb/> schwer zu entscheiden. Thatsache ist, daß, wo die Jugend Personen des andern Geschlechts von<lb/> früh auf unverhüllt zu sehen gewohnt ist, der Anblick nichts Erregendes hat, wie ja auch die<lb/> antiken Skulpturen nicht reizen. Lüstern wird ein Bildwerk erst durch die Absicht des Künstlers,<lb/> es lüstern zu machen, und das geschieht durch die Stellung der Figur, durch Mienen- und<lb/> Geberdenspiel, namentlich aber durch halbe Verhüllung.?</note><lb/> <note xml:id="FID_68" place="foot"> "*) Und das erste x^rrioiclium uach dem zweiten Punischen Kriege, wie Röscher in seiner<lb/> „Politik" S. 422 nach Dionys von Halikarnaß und Plutarch erwähnt.</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 1U 1893</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0521]
Die ätherische Volksmoral im Drama
und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬
stürzt und im tiefsten Kote versinkt." So zu sprechen wagt keiner mehr, und
so hat denn der Liberalismus, Nebenbuhlern und Nachfolgern das Feld räumend,
auch in dieser Hinsicht bankrott gemacht.
Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt,
dient sie als Schutzwehr für die Unschuld der Jugend^) und die Würde der
Frauen. Aber dieser Nutzen wird durch den Umstand aufgewogen, daß die
Verwechselung und Verschmelzung des sittlich Bösen mit dem Unanständigen
die Gewissen verwirrt und abstumpft, sodaß ein Mann, ohne Furcht, in der
Gesellschaft unmöglich zu werden, an seiner Frau oder an einem von ihm
verführten Mädchen gemein und niederträchtig handeln darf, wenn er nur weder
den äußern Anstand verletzt, noch das Strafgesetz übertritt. Andrerseits hat
die öffentliche Zulassung des Obseönen auf die Sittlichkeit der Alten keinen
nachweislich schlechten Einfluß geübt; denn sie war bei den Griechen wie bei
den Römern das Ursprüngliche, die Sittenverderbnis aber riß gerade in der
Zeit ein, wo Reichtum, Luxus und Bildung das ganze Leben und damit auch
den Begriff von Anstand verfeinerten. In der altitalischen Bauernreligion
scheint, wie meistens in den Naturreligionen, die vergöttlichte Zeugungskraft
den Mittelpunkt gebildet zu haben. Der Phallus spielte bei den Römern fast
dieselbe Rolle, wie heute in katholischen Ländern das Heiligenbild; überall war
er zu sehen: auf der Straße, im Garten, im Hause. In kleinem Format
diente er als Amulet für einzelne Personen, in großem hatte er die ganze
Familie, den Acker und Garten, die Gemeinde und das Kriegsheer zu schützen
und zu segnen. Und bei diesen Phallusverehrern war die Ehe so heilig, das;
Rom die erste Ehescheidung erst im Jahre 521 nach Erbauung der Stadt
erlebte.^) Auch ist es charakteristisch, daß Rom zwei seiner großen Staats-
umwälzungen auf Entehrung, das einemal einer Matrone, das andremal einer
Jungfrau, zurückgeführt hat. Wie viel Revolutionen müßten wir da heute in
Deutschland erleiden!
Die Frage, ob frühzeitige Kenntnis oder lange Unkenntnis der geschlechtlichen Dinge
der Keuschheit der Jugend förderlicher sei, hat von jeher zu den streitigen gehört und ist sehr
schwer zu entscheiden. Thatsache ist, daß, wo die Jugend Personen des andern Geschlechts von
früh auf unverhüllt zu sehen gewohnt ist, der Anblick nichts Erregendes hat, wie ja auch die
antiken Skulpturen nicht reizen. Lüstern wird ein Bildwerk erst durch die Absicht des Künstlers,
es lüstern zu machen, und das geschieht durch die Stellung der Figur, durch Mienen- und
Geberdenspiel, namentlich aber durch halbe Verhüllung.?
"*) Und das erste x^rrioiclium uach dem zweiten Punischen Kriege, wie Röscher in seiner
„Politik" S. 422 nach Dionys von Halikarnaß und Plutarch erwähnt.
Grenzboten 1U 1893
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |