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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬
stürzt und im tiefsten Kote versinkt." So zu sprechen wagt keiner mehr, und
so hat denn der Liberalismus, Nebenbuhlern und Nachfolgern das Feld räumend,
auch in dieser Hinsicht bankrott gemacht.

Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt,
dient sie als Schutzwehr für die Unschuld der Jugend^) und die Würde der
Frauen. Aber dieser Nutzen wird durch den Umstand aufgewogen, daß die
Verwechselung und Verschmelzung des sittlich Bösen mit dem Unanständigen
die Gewissen verwirrt und abstumpft, sodaß ein Mann, ohne Furcht, in der
Gesellschaft unmöglich zu werden, an seiner Frau oder an einem von ihm
verführten Mädchen gemein und niederträchtig handeln darf, wenn er nur weder
den äußern Anstand verletzt, noch das Strafgesetz übertritt. Andrerseits hat
die öffentliche Zulassung des Obseönen auf die Sittlichkeit der Alten keinen
nachweislich schlechten Einfluß geübt; denn sie war bei den Griechen wie bei
den Römern das Ursprüngliche, die Sittenverderbnis aber riß gerade in der
Zeit ein, wo Reichtum, Luxus und Bildung das ganze Leben und damit auch
den Begriff von Anstand verfeinerten. In der altitalischen Bauernreligion
scheint, wie meistens in den Naturreligionen, die vergöttlichte Zeugungskraft
den Mittelpunkt gebildet zu haben. Der Phallus spielte bei den Römern fast
dieselbe Rolle, wie heute in katholischen Ländern das Heiligenbild; überall war
er zu sehen: auf der Straße, im Garten, im Hause. In kleinem Format
diente er als Amulet für einzelne Personen, in großem hatte er die ganze
Familie, den Acker und Garten, die Gemeinde und das Kriegsheer zu schützen
und zu segnen. Und bei diesen Phallusverehrern war die Ehe so heilig, das;
Rom die erste Ehescheidung erst im Jahre 521 nach Erbauung der Stadt
erlebte.^) Auch ist es charakteristisch, daß Rom zwei seiner großen Staats-
umwälzungen auf Entehrung, das einemal einer Matrone, das andremal einer
Jungfrau, zurückgeführt hat. Wie viel Revolutionen müßten wir da heute in
Deutschland erleiden!






Die Frage, ob frühzeitige Kenntnis oder lange Unkenntnis der geschlechtlichen Dinge
der Keuschheit der Jugend förderlicher sei, hat von jeher zu den streitigen gehört und ist sehr
schwer zu entscheiden. Thatsache ist, daß, wo die Jugend Personen des andern Geschlechts von
früh auf unverhüllt zu sehen gewohnt ist, der Anblick nichts Erregendes hat, wie ja auch die
antiken Skulpturen nicht reizen. Lüstern wird ein Bildwerk erst durch die Absicht des Künstlers,
es lüstern zu machen, und das geschieht durch die Stellung der Figur, durch Mienen- und
Geberdenspiel, namentlich aber durch halbe Verhüllung.?
"*) Und das erste x^rrioiclium uach dem zweiten Punischen Kriege, wie Röscher in seiner
"Politik" S. 422 nach Dionys von Halikarnaß und Plutarch erwähnt.
Grenzboten 1U 1893
Die ätherische Volksmoral im Drama

und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬
stürzt und im tiefsten Kote versinkt." So zu sprechen wagt keiner mehr, und
so hat denn der Liberalismus, Nebenbuhlern und Nachfolgern das Feld räumend,
auch in dieser Hinsicht bankrott gemacht.

Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt,
dient sie als Schutzwehr für die Unschuld der Jugend^) und die Würde der
Frauen. Aber dieser Nutzen wird durch den Umstand aufgewogen, daß die
Verwechselung und Verschmelzung des sittlich Bösen mit dem Unanständigen
die Gewissen verwirrt und abstumpft, sodaß ein Mann, ohne Furcht, in der
Gesellschaft unmöglich zu werden, an seiner Frau oder an einem von ihm
verführten Mädchen gemein und niederträchtig handeln darf, wenn er nur weder
den äußern Anstand verletzt, noch das Strafgesetz übertritt. Andrerseits hat
die öffentliche Zulassung des Obseönen auf die Sittlichkeit der Alten keinen
nachweislich schlechten Einfluß geübt; denn sie war bei den Griechen wie bei
den Römern das Ursprüngliche, die Sittenverderbnis aber riß gerade in der
Zeit ein, wo Reichtum, Luxus und Bildung das ganze Leben und damit auch
den Begriff von Anstand verfeinerten. In der altitalischen Bauernreligion
scheint, wie meistens in den Naturreligionen, die vergöttlichte Zeugungskraft
den Mittelpunkt gebildet zu haben. Der Phallus spielte bei den Römern fast
dieselbe Rolle, wie heute in katholischen Ländern das Heiligenbild; überall war
er zu sehen: auf der Straße, im Garten, im Hause. In kleinem Format
diente er als Amulet für einzelne Personen, in großem hatte er die ganze
Familie, den Acker und Garten, die Gemeinde und das Kriegsheer zu schützen
und zu segnen. Und bei diesen Phallusverehrern war die Ehe so heilig, das;
Rom die erste Ehescheidung erst im Jahre 521 nach Erbauung der Stadt
erlebte.^) Auch ist es charakteristisch, daß Rom zwei seiner großen Staats-
umwälzungen auf Entehrung, das einemal einer Matrone, das andremal einer
Jungfrau, zurückgeführt hat. Wie viel Revolutionen müßten wir da heute in
Deutschland erleiden!






Die Frage, ob frühzeitige Kenntnis oder lange Unkenntnis der geschlechtlichen Dinge
der Keuschheit der Jugend förderlicher sei, hat von jeher zu den streitigen gehört und ist sehr
schwer zu entscheiden. Thatsache ist, daß, wo die Jugend Personen des andern Geschlechts von
früh auf unverhüllt zu sehen gewohnt ist, der Anblick nichts Erregendes hat, wie ja auch die
antiken Skulpturen nicht reizen. Lüstern wird ein Bildwerk erst durch die Absicht des Künstlers,
es lüstern zu machen, und das geschieht durch die Stellung der Figur, durch Mienen- und
Geberdenspiel, namentlich aber durch halbe Verhüllung.?
"*) Und das erste x^rrioiclium uach dem zweiten Punischen Kriege, wie Röscher in seiner
„Politik" S. 422 nach Dionys von Halikarnaß und Plutarch erwähnt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/521>, abgerufen am 27.07.2024.