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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

waren, und sahen sich genötigt, alle freiern, nach Revolution schmeckenden An¬
sichten zu verleugnen. Die Verteidigung der Volksrechte überließen sie den
Ultramontanen, Partikularsten und Sozialdemokraten; sie selbst waren allemal
an der Seite der Polizei und des Staatsanwalts zu finden. Indem sie aber auf
die schöne Bezeichnung liberal, die ihnen so viel Ehre eingetragen hatte, und
die immer noch viel Anziehungskraft auf die Massen ausübte, nicht verzichten
mochten, gerieten sie in eine äußerst schiefe Stellung, sahen sich zur UnWahr¬
haftigkeit gezwungen und erschienen denen als Feiglinge, die die vorgegangne
innere Umwandlung nicht begriffen.

Mit Beziehung auf unsern Gegenstand darf man den meisten der Herren
Heuchelei vorwerfen. Sie für ihre Person stehen auf dem Standpunkte der
Humanisten, und viele von ihnen gehen noch ein gutes Stück darüber hinaus,
indem sie nicht allein den Geschmack der Alten sür aristophanische Komik teilen,
sondern sich auch so manches erlauben, was diese als unsittlich verurteilt haben
würden. Aber als herrschende Klasse halten sie zur Wahrung ihrer Würde
streng auf Wohlanständigkeit, und durch die Sozialdemokratin die mit dem in
höhern Regionen wissenschaftlich begründeten Naturalismus die Massen durch¬
säuert hat, erschreckt, hegen sie ängstliche Sorge um die bürgerliche Ordnung.
Daher stellen sie sich auch in diesem Punkte auf die Seite der Polizei; die
Rechte der Natur zu verteidige" überlassen sie einer Gesellschaft unreifer Stürmer
und Dränger, die nicht, gleich unsern Klassikern, das Maß in sich selber tragen.
Auch in dieser Beziehung sind sie daher in eine schiefe Stellung geraten, die
jedesmal recht auffällig wird, wenn es gilt, Angriffe der Ultramontanen auf
Luther und auf unsre Klassiker abzuwehren. Beide werden von den Ultra¬
montanen verleumdet, indem das, was vom streng christlichen Standpunkte um
ihnen anstößig erscheint, einseitig hervorgehoben, das Große und Edle aber,
was der rechtgläubige Katholik auch von seinem Standpunkte aus anerkennen
müßte, verschwiegen wird. Aber unsre modernen "Liberalen" begnügen sich
nicht damit, diese Art der Verleumdung zu brandmarken; sie stellen sich, als
hielten sie es schon für Verleumdung, daß überhaupt von Luthers Cynismen
und von der Erotik in Goethes Leben und Dichtung gesprochen wird. Wären
unsre Liberalen echte Liberale, und wären sie vom Geiste Luthers und Goethes
beseelt, so würden sie den Angreifern entgegnen: "Bildet euch doch nicht ein,
daß wir uns darüber ärgern! Das wissen wir selber, daß weder Luther noch
Goethe ein Frömmler, Duckmäuser oder Asket gewesen ist. Gerade darin
besteht ja eben das Verdienst dieser beiden Männer, daß sie der Natur zu
ihrem Rechte verholfen und aller Psasferei und Möncherei ein Ende gemacht
oder ihr wenigstens den Nimbus genommen haben. Unsre Moral ist nicht so
erhaben wie die eure, aber dafür brauchen wir auch nicht so zu heucheln wie
ihr, und dafür kommt es bei uns nicht vor, daß einer mit den Jkarusflügeln
einer eingebildeten übernatürlichen Hilfe die irdische Schwerkraft zu überwinden


Die ätherische Volksmoral im Drama

waren, und sahen sich genötigt, alle freiern, nach Revolution schmeckenden An¬
sichten zu verleugnen. Die Verteidigung der Volksrechte überließen sie den
Ultramontanen, Partikularsten und Sozialdemokraten; sie selbst waren allemal
an der Seite der Polizei und des Staatsanwalts zu finden. Indem sie aber auf
die schöne Bezeichnung liberal, die ihnen so viel Ehre eingetragen hatte, und
die immer noch viel Anziehungskraft auf die Massen ausübte, nicht verzichten
mochten, gerieten sie in eine äußerst schiefe Stellung, sahen sich zur UnWahr¬
haftigkeit gezwungen und erschienen denen als Feiglinge, die die vorgegangne
innere Umwandlung nicht begriffen.

Mit Beziehung auf unsern Gegenstand darf man den meisten der Herren
Heuchelei vorwerfen. Sie für ihre Person stehen auf dem Standpunkte der
Humanisten, und viele von ihnen gehen noch ein gutes Stück darüber hinaus,
indem sie nicht allein den Geschmack der Alten sür aristophanische Komik teilen,
sondern sich auch so manches erlauben, was diese als unsittlich verurteilt haben
würden. Aber als herrschende Klasse halten sie zur Wahrung ihrer Würde
streng auf Wohlanständigkeit, und durch die Sozialdemokratin die mit dem in
höhern Regionen wissenschaftlich begründeten Naturalismus die Massen durch¬
säuert hat, erschreckt, hegen sie ängstliche Sorge um die bürgerliche Ordnung.
Daher stellen sie sich auch in diesem Punkte auf die Seite der Polizei; die
Rechte der Natur zu verteidige» überlassen sie einer Gesellschaft unreifer Stürmer
und Dränger, die nicht, gleich unsern Klassikern, das Maß in sich selber tragen.
Auch in dieser Beziehung sind sie daher in eine schiefe Stellung geraten, die
jedesmal recht auffällig wird, wenn es gilt, Angriffe der Ultramontanen auf
Luther und auf unsre Klassiker abzuwehren. Beide werden von den Ultra¬
montanen verleumdet, indem das, was vom streng christlichen Standpunkte um
ihnen anstößig erscheint, einseitig hervorgehoben, das Große und Edle aber,
was der rechtgläubige Katholik auch von seinem Standpunkte aus anerkennen
müßte, verschwiegen wird. Aber unsre modernen „Liberalen" begnügen sich
nicht damit, diese Art der Verleumdung zu brandmarken; sie stellen sich, als
hielten sie es schon für Verleumdung, daß überhaupt von Luthers Cynismen
und von der Erotik in Goethes Leben und Dichtung gesprochen wird. Wären
unsre Liberalen echte Liberale, und wären sie vom Geiste Luthers und Goethes
beseelt, so würden sie den Angreifern entgegnen: „Bildet euch doch nicht ein,
daß wir uns darüber ärgern! Das wissen wir selber, daß weder Luther noch
Goethe ein Frömmler, Duckmäuser oder Asket gewesen ist. Gerade darin
besteht ja eben das Verdienst dieser beiden Männer, daß sie der Natur zu
ihrem Rechte verholfen und aller Psasferei und Möncherei ein Ende gemacht
oder ihr wenigstens den Nimbus genommen haben. Unsre Moral ist nicht so
erhaben wie die eure, aber dafür brauchen wir auch nicht so zu heucheln wie
ihr, und dafür kommt es bei uns nicht vor, daß einer mit den Jkarusflügeln
einer eingebildeten übernatürlichen Hilfe die irdische Schwerkraft zu überwinden


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[0520] Die ätherische Volksmoral im Drama waren, und sahen sich genötigt, alle freiern, nach Revolution schmeckenden An¬ sichten zu verleugnen. Die Verteidigung der Volksrechte überließen sie den Ultramontanen, Partikularsten und Sozialdemokraten; sie selbst waren allemal an der Seite der Polizei und des Staatsanwalts zu finden. Indem sie aber auf die schöne Bezeichnung liberal, die ihnen so viel Ehre eingetragen hatte, und die immer noch viel Anziehungskraft auf die Massen ausübte, nicht verzichten mochten, gerieten sie in eine äußerst schiefe Stellung, sahen sich zur UnWahr¬ haftigkeit gezwungen und erschienen denen als Feiglinge, die die vorgegangne innere Umwandlung nicht begriffen. Mit Beziehung auf unsern Gegenstand darf man den meisten der Herren Heuchelei vorwerfen. Sie für ihre Person stehen auf dem Standpunkte der Humanisten, und viele von ihnen gehen noch ein gutes Stück darüber hinaus, indem sie nicht allein den Geschmack der Alten sür aristophanische Komik teilen, sondern sich auch so manches erlauben, was diese als unsittlich verurteilt haben würden. Aber als herrschende Klasse halten sie zur Wahrung ihrer Würde streng auf Wohlanständigkeit, und durch die Sozialdemokratin die mit dem in höhern Regionen wissenschaftlich begründeten Naturalismus die Massen durch¬ säuert hat, erschreckt, hegen sie ängstliche Sorge um die bürgerliche Ordnung. Daher stellen sie sich auch in diesem Punkte auf die Seite der Polizei; die Rechte der Natur zu verteidige» überlassen sie einer Gesellschaft unreifer Stürmer und Dränger, die nicht, gleich unsern Klassikern, das Maß in sich selber tragen. Auch in dieser Beziehung sind sie daher in eine schiefe Stellung geraten, die jedesmal recht auffällig wird, wenn es gilt, Angriffe der Ultramontanen auf Luther und auf unsre Klassiker abzuwehren. Beide werden von den Ultra¬ montanen verleumdet, indem das, was vom streng christlichen Standpunkte um ihnen anstößig erscheint, einseitig hervorgehoben, das Große und Edle aber, was der rechtgläubige Katholik auch von seinem Standpunkte aus anerkennen müßte, verschwiegen wird. Aber unsre modernen „Liberalen" begnügen sich nicht damit, diese Art der Verleumdung zu brandmarken; sie stellen sich, als hielten sie es schon für Verleumdung, daß überhaupt von Luthers Cynismen und von der Erotik in Goethes Leben und Dichtung gesprochen wird. Wären unsre Liberalen echte Liberale, und wären sie vom Geiste Luthers und Goethes beseelt, so würden sie den Angreifern entgegnen: „Bildet euch doch nicht ein, daß wir uns darüber ärgern! Das wissen wir selber, daß weder Luther noch Goethe ein Frömmler, Duckmäuser oder Asket gewesen ist. Gerade darin besteht ja eben das Verdienst dieser beiden Männer, daß sie der Natur zu ihrem Rechte verholfen und aller Psasferei und Möncherei ein Ende gemacht oder ihr wenigstens den Nimbus genommen haben. Unsre Moral ist nicht so erhaben wie die eure, aber dafür brauchen wir auch nicht so zu heucheln wie ihr, und dafür kommt es bei uns nicht vor, daß einer mit den Jkarusflügeln einer eingebildeten übernatürlichen Hilfe die irdische Schwerkraft zu überwinden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/520>, abgerufen am 23.11.2024.