Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.wissenschaftlicher Theorie, sondern von der Geistes- und Gemütsrichtung ans Man versuche uicht, uns einzureden, daß es die Aufgabe der Wissen¬ wissenschaftlicher Theorie, sondern von der Geistes- und Gemütsrichtung ans Man versuche uicht, uns einzureden, daß es die Aufgabe der Wissen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0495" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215585"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1749" prev="#ID_1748"> wissenschaftlicher Theorie, sondern von der Geistes- und Gemütsrichtung ans<lb/> das Materielle. Man könnte nun einwerfen, das; der Mensch von Natur ein<lb/> Materialist sei, daß wir einmal Materie seien, daß mithin diese Richtung<lb/> „natürlich" sei. Ganz recht; Goethe sagt auch deshalb von der Ehrfurcht, sie<lb/> sei „ein höherer Sinn, der unsrer Natur gegeben werden müsse." Aber er<lb/> wird ihr eben auch gegeben, kann und soll ihr gegeben werden; es heißt nicht<lb/> nur: „das Fleisch gelüstet wider den Geist," sondern auch: „den Geist gelüstet<lb/> Wider das Fleisch"; und wer, der sich selbst prüft und kennt, hätte nicht die<lb/> tiefe Weisheit und Wahrheit dieser einfachen Worte schon an sich erfahren!<lb/> Auch ist dieser lahmen Entschuldigung die Erfahrung entgegen, die uns tau¬<lb/> sendmal gezeigt hat, nach den verschiedensten Seiten, daß die Macht der Materie<lb/> nicht größer ist, als die des Geistes. Allerdings, wenn der Geist matt, gleich-<lb/> giltig, stumpf geworden ist, dann hat die Materie einen leichten Sieg über ihn.<lb/> Daran liegts! „Wenn das Salz dumm geworden ist, womit soll man salzen?"<lb/> Die Oberflächlichkeit, die Gleichgültigkeit gegen geistige Dinge, die ist es, die<lb/> der Genußsucht Thor und Thür öffnet, die ist es, gegen die wir den Kampf<lb/> aufnehmen müssen mit einem begeisterten: „Gott will es!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1750" next="#ID_1751"> Man versuche uicht, uns einzureden, daß es die Aufgabe der Wissen¬<lb/> schaften sei, die geistigen Interessen hoch zu halten gegenüber den materiellen.<lb/> Warum erfüllen sie denn diese Aufgabe in unsrer Zeit nicht? An dem Stande<lb/> der Wissenschaften liegt es nicht; der ist ans den meisten Gebieten höher, als<lb/> er je gewesen ist. Die fachwissenschaftliche Forschung wird auch nicht un¬<lb/> gründlicher, oberflächlicher betrieben, im Gegenteil. Aber für die gesamte<lb/> Geistesrichtung trägt diese Gründlichkeit keine Früchte, es ist vielmehr, als ob<lb/> man sie reservirte für das Spezialstndinm, für den Beruf, der (darauf läuft<lb/> es schließlich meistens hinaus) materiellen Nutzen oder einen Namen in der<lb/> Wissenschaft verspricht: Genuß, Erfolg, Ruhm. Es kommt uns nicht in den<lb/> Sinn, den Vertretern der Wissenschaft, auch solchen, die nur ihrer Wissenschaft<lb/> leben, alles selbstlose Streben absprechen zu wolle»; aber wenn sie nichts von<lb/> dem Idealismus des Glaubens, der Ehrfurcht in sich haben und ihren Schülern<lb/> mitzuteilen wisse», so wird ihre Wissenschaft allein dem jüngern Geschlecht<lb/> keinen Halt gebe» können gegen die Oberflächlichkeit und Genußsucht, die ihnen<lb/> auf allen Seiten entgegentritt. Nein, „es ist ein höherer Sinn, der unsrer<lb/> Natur gegeben werden muß," oder wie Carlyle an einer andern Stelle sagt:<lb/> „alles andre an einem Menschen ist zufällig; das einzig wesentliche an ihm,<lb/> sein eigentlicher Kern, ist seine Religion." Das scheint so einfach, so selbst¬<lb/> verständlich, daß man kaum noch etwas dazu sagen möchte. Was empfinden<lb/> wir denn unmittelbar als das Wesentliche in uns, als unsern eigentlichen Kern?<lb/> Doch nicht die Materie, die wir allerdings auch unmittelbar empfinden, aber<lb/> eher als Hülle, denn als Kern, oder besser als Medium, das zwischen dem<lb/> Kern unsers Seins und der Erscheinungswelt vermittelt. Zu dem aristotelischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0495]
wissenschaftlicher Theorie, sondern von der Geistes- und Gemütsrichtung ans
das Materielle. Man könnte nun einwerfen, das; der Mensch von Natur ein
Materialist sei, daß wir einmal Materie seien, daß mithin diese Richtung
„natürlich" sei. Ganz recht; Goethe sagt auch deshalb von der Ehrfurcht, sie
sei „ein höherer Sinn, der unsrer Natur gegeben werden müsse." Aber er
wird ihr eben auch gegeben, kann und soll ihr gegeben werden; es heißt nicht
nur: „das Fleisch gelüstet wider den Geist," sondern auch: „den Geist gelüstet
Wider das Fleisch"; und wer, der sich selbst prüft und kennt, hätte nicht die
tiefe Weisheit und Wahrheit dieser einfachen Worte schon an sich erfahren!
Auch ist dieser lahmen Entschuldigung die Erfahrung entgegen, die uns tau¬
sendmal gezeigt hat, nach den verschiedensten Seiten, daß die Macht der Materie
nicht größer ist, als die des Geistes. Allerdings, wenn der Geist matt, gleich-
giltig, stumpf geworden ist, dann hat die Materie einen leichten Sieg über ihn.
Daran liegts! „Wenn das Salz dumm geworden ist, womit soll man salzen?"
Die Oberflächlichkeit, die Gleichgültigkeit gegen geistige Dinge, die ist es, die
der Genußsucht Thor und Thür öffnet, die ist es, gegen die wir den Kampf
aufnehmen müssen mit einem begeisterten: „Gott will es!"
Man versuche uicht, uns einzureden, daß es die Aufgabe der Wissen¬
schaften sei, die geistigen Interessen hoch zu halten gegenüber den materiellen.
Warum erfüllen sie denn diese Aufgabe in unsrer Zeit nicht? An dem Stande
der Wissenschaften liegt es nicht; der ist ans den meisten Gebieten höher, als
er je gewesen ist. Die fachwissenschaftliche Forschung wird auch nicht un¬
gründlicher, oberflächlicher betrieben, im Gegenteil. Aber für die gesamte
Geistesrichtung trägt diese Gründlichkeit keine Früchte, es ist vielmehr, als ob
man sie reservirte für das Spezialstndinm, für den Beruf, der (darauf läuft
es schließlich meistens hinaus) materiellen Nutzen oder einen Namen in der
Wissenschaft verspricht: Genuß, Erfolg, Ruhm. Es kommt uns nicht in den
Sinn, den Vertretern der Wissenschaft, auch solchen, die nur ihrer Wissenschaft
leben, alles selbstlose Streben absprechen zu wolle»; aber wenn sie nichts von
dem Idealismus des Glaubens, der Ehrfurcht in sich haben und ihren Schülern
mitzuteilen wisse», so wird ihre Wissenschaft allein dem jüngern Geschlecht
keinen Halt gebe» können gegen die Oberflächlichkeit und Genußsucht, die ihnen
auf allen Seiten entgegentritt. Nein, „es ist ein höherer Sinn, der unsrer
Natur gegeben werden muß," oder wie Carlyle an einer andern Stelle sagt:
„alles andre an einem Menschen ist zufällig; das einzig wesentliche an ihm,
sein eigentlicher Kern, ist seine Religion." Das scheint so einfach, so selbst¬
verständlich, daß man kaum noch etwas dazu sagen möchte. Was empfinden
wir denn unmittelbar als das Wesentliche in uns, als unsern eigentlichen Kern?
Doch nicht die Materie, die wir allerdings auch unmittelbar empfinden, aber
eher als Hülle, denn als Kern, oder besser als Medium, das zwischen dem
Kern unsers Seins und der Erscheinungswelt vermittelt. Zu dem aristotelischen
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