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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

Seite bringen, den Bischof Cyrill vertreiben, sich von Byzanz frei machen und
sich zum Herrscher von Ägypten ausrufen lassen. Dies soll während eines
großen, nach alter heidnischer Sitte ausgeführten Volksfestes von seinen An¬
hängern und von Hypatia ins Werk gesetzt werden. Das Fest findet denn
auch statt. Die schöne Hetäre Pelagia tritt als Venus Anadyomene auf,
während eine von Hypatia gedichtete Ode gesungen wird. Philammon erkennt
in Pelagia seine Schwester. Voll Zorn und Scham stürzt er auf die Bühne.
Aber die Menge ist über diese Unterbrechung so wütend, daß Philammon nur
mit Mühe dem Tode entgeht. Sobald die Nuhe wieder hergestellt ist, erhebt
sich Orestes und hält seine einstudierte Rede an das Volk, worin er von der
Politischen Lage, von Heraklians Sieg und dem byzantinischen Joche spricht.
Einer aus der Menge ruft: "Heil Kaiser Orestes!" Und sofort ruft die ganze
Menge dieses Heil! nach. Hypatia kniet vor Orestes nieder und bittet ihn
uuter dem Jauchzen ihrer Schüler, die Herrschaft über Alexandria anzunehmen.
Da schreit ein Mönch: "Alles ist Lüge! Lüge! Lüge! Ihr seid betrogen! Er
ist betrogen! Herakliau hat bei Ossia eine völlige Niederlage erlitten und sich,
von der kaiserlichen Flotte verfolgt, nach Karthago geflüchtet." In der Ver¬
sammlung tritt sofort ein Rückschlag ein, und nur uuter dem Schutz der Wachen
vermögen sich Orestes nud Hypatia aus der tobenden Menge zu retten. Die
Wut des christlichen Pöbels gegen Hypatia steigt ins Grenzenlose. Auf ihrem
Wege nach dem Museum, wo sie ihre letzte Vorlesung halten will, wird sie
von fanatischen Mönchen überfallen, in eine Kirche geschleppt und dort vor
dem Altar unter einem Christusbilde erschlagen.

Philammon hat sie nicht retten können- Er ist wieder zum christlichen
Glauben zurückgekehrt und sucht seine Schwester Pelagia aus deu Händen des
Goten Amat zu befreien. Der Mönch ringt mit dem Goten auf dem Dache
eines Hauses, wohin sich Pelagia geflüchtet hat. Beide stürzen hinunter in
deu Kanal. Der Göte wird zerschmettert, aber Philammon bleibt am Leben.
Endlich mit seiner Schwester vereinigt, kehrt er als bußfertiger Sünder in die
Wüste zurück, in die einsame Zelle des Einsiedlers.

In diese reich bewegte, dramatische, oft stürmische Handlung spielen Epi¬
soden hinein, die das Kulturgemälde vervollständigen. Von besonderm Reiz
ist die Geschichte des reichen Juden Raphael Eben-Ezra, der von den Christen
aus Alexandria vertrieben wird, die Niederlage Heraklians in Italien erlebt,
den Präfekten Majorieus und dessen Tochter Victoria rettet und schließlich zum
Christentum übertritt, nachdem er alle Stadien der alten Philosophie, vom
Stoizismus bis zum Skeptizismus und Cynismus, durchlaufen hat. Die Szene
in der verwüsteten Campagna, wo Raphael mit seinem Hunde Bran umher¬
schweift und Betrachtungen über Gott, Welt und Menschheit anstellt, bis sich
Bran in eine Ruine zurückzieht und dort unter den Trümmern Junge zur
Welt bringt, ist von packender Wirkung. Raphael Eben-Ezra ist eine der ge-


Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer

Seite bringen, den Bischof Cyrill vertreiben, sich von Byzanz frei machen und
sich zum Herrscher von Ägypten ausrufen lassen. Dies soll während eines
großen, nach alter heidnischer Sitte ausgeführten Volksfestes von seinen An¬
hängern und von Hypatia ins Werk gesetzt werden. Das Fest findet denn
auch statt. Die schöne Hetäre Pelagia tritt als Venus Anadyomene auf,
während eine von Hypatia gedichtete Ode gesungen wird. Philammon erkennt
in Pelagia seine Schwester. Voll Zorn und Scham stürzt er auf die Bühne.
Aber die Menge ist über diese Unterbrechung so wütend, daß Philammon nur
mit Mühe dem Tode entgeht. Sobald die Nuhe wieder hergestellt ist, erhebt
sich Orestes und hält seine einstudierte Rede an das Volk, worin er von der
Politischen Lage, von Heraklians Sieg und dem byzantinischen Joche spricht.
Einer aus der Menge ruft: „Heil Kaiser Orestes!" Und sofort ruft die ganze
Menge dieses Heil! nach. Hypatia kniet vor Orestes nieder und bittet ihn
uuter dem Jauchzen ihrer Schüler, die Herrschaft über Alexandria anzunehmen.
Da schreit ein Mönch: „Alles ist Lüge! Lüge! Lüge! Ihr seid betrogen! Er
ist betrogen! Herakliau hat bei Ossia eine völlige Niederlage erlitten und sich,
von der kaiserlichen Flotte verfolgt, nach Karthago geflüchtet." In der Ver¬
sammlung tritt sofort ein Rückschlag ein, und nur uuter dem Schutz der Wachen
vermögen sich Orestes nud Hypatia aus der tobenden Menge zu retten. Die
Wut des christlichen Pöbels gegen Hypatia steigt ins Grenzenlose. Auf ihrem
Wege nach dem Museum, wo sie ihre letzte Vorlesung halten will, wird sie
von fanatischen Mönchen überfallen, in eine Kirche geschleppt und dort vor
dem Altar unter einem Christusbilde erschlagen.

Philammon hat sie nicht retten können- Er ist wieder zum christlichen
Glauben zurückgekehrt und sucht seine Schwester Pelagia aus deu Händen des
Goten Amat zu befreien. Der Mönch ringt mit dem Goten auf dem Dache
eines Hauses, wohin sich Pelagia geflüchtet hat. Beide stürzen hinunter in
deu Kanal. Der Göte wird zerschmettert, aber Philammon bleibt am Leben.
Endlich mit seiner Schwester vereinigt, kehrt er als bußfertiger Sünder in die
Wüste zurück, in die einsame Zelle des Einsiedlers.

In diese reich bewegte, dramatische, oft stürmische Handlung spielen Epi¬
soden hinein, die das Kulturgemälde vervollständigen. Von besonderm Reiz
ist die Geschichte des reichen Juden Raphael Eben-Ezra, der von den Christen
aus Alexandria vertrieben wird, die Niederlage Heraklians in Italien erlebt,
den Präfekten Majorieus und dessen Tochter Victoria rettet und schließlich zum
Christentum übertritt, nachdem er alle Stadien der alten Philosophie, vom
Stoizismus bis zum Skeptizismus und Cynismus, durchlaufen hat. Die Szene
in der verwüsteten Campagna, wo Raphael mit seinem Hunde Bran umher¬
schweift und Betrachtungen über Gott, Welt und Menschheit anstellt, bis sich
Bran in eine Ruine zurückzieht und dort unter den Trümmern Junge zur
Welt bringt, ist von packender Wirkung. Raphael Eben-Ezra ist eine der ge-


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[0463] Charles Aingsley als Dichter und Sozialreformer Seite bringen, den Bischof Cyrill vertreiben, sich von Byzanz frei machen und sich zum Herrscher von Ägypten ausrufen lassen. Dies soll während eines großen, nach alter heidnischer Sitte ausgeführten Volksfestes von seinen An¬ hängern und von Hypatia ins Werk gesetzt werden. Das Fest findet denn auch statt. Die schöne Hetäre Pelagia tritt als Venus Anadyomene auf, während eine von Hypatia gedichtete Ode gesungen wird. Philammon erkennt in Pelagia seine Schwester. Voll Zorn und Scham stürzt er auf die Bühne. Aber die Menge ist über diese Unterbrechung so wütend, daß Philammon nur mit Mühe dem Tode entgeht. Sobald die Nuhe wieder hergestellt ist, erhebt sich Orestes und hält seine einstudierte Rede an das Volk, worin er von der Politischen Lage, von Heraklians Sieg und dem byzantinischen Joche spricht. Einer aus der Menge ruft: „Heil Kaiser Orestes!" Und sofort ruft die ganze Menge dieses Heil! nach. Hypatia kniet vor Orestes nieder und bittet ihn uuter dem Jauchzen ihrer Schüler, die Herrschaft über Alexandria anzunehmen. Da schreit ein Mönch: „Alles ist Lüge! Lüge! Lüge! Ihr seid betrogen! Er ist betrogen! Herakliau hat bei Ossia eine völlige Niederlage erlitten und sich, von der kaiserlichen Flotte verfolgt, nach Karthago geflüchtet." In der Ver¬ sammlung tritt sofort ein Rückschlag ein, und nur uuter dem Schutz der Wachen vermögen sich Orestes nud Hypatia aus der tobenden Menge zu retten. Die Wut des christlichen Pöbels gegen Hypatia steigt ins Grenzenlose. Auf ihrem Wege nach dem Museum, wo sie ihre letzte Vorlesung halten will, wird sie von fanatischen Mönchen überfallen, in eine Kirche geschleppt und dort vor dem Altar unter einem Christusbilde erschlagen. Philammon hat sie nicht retten können- Er ist wieder zum christlichen Glauben zurückgekehrt und sucht seine Schwester Pelagia aus deu Händen des Goten Amat zu befreien. Der Mönch ringt mit dem Goten auf dem Dache eines Hauses, wohin sich Pelagia geflüchtet hat. Beide stürzen hinunter in deu Kanal. Der Göte wird zerschmettert, aber Philammon bleibt am Leben. Endlich mit seiner Schwester vereinigt, kehrt er als bußfertiger Sünder in die Wüste zurück, in die einsame Zelle des Einsiedlers. In diese reich bewegte, dramatische, oft stürmische Handlung spielen Epi¬ soden hinein, die das Kulturgemälde vervollständigen. Von besonderm Reiz ist die Geschichte des reichen Juden Raphael Eben-Ezra, der von den Christen aus Alexandria vertrieben wird, die Niederlage Heraklians in Italien erlebt, den Präfekten Majorieus und dessen Tochter Victoria rettet und schließlich zum Christentum übertritt, nachdem er alle Stadien der alten Philosophie, vom Stoizismus bis zum Skeptizismus und Cynismus, durchlaufen hat. Die Szene in der verwüsteten Campagna, wo Raphael mit seinem Hunde Bran umher¬ schweift und Betrachtungen über Gott, Welt und Menschheit anstellt, bis sich Bran in eine Ruine zurückzieht und dort unter den Trümmern Junge zur Welt bringt, ist von packender Wirkung. Raphael Eben-Ezra ist eine der ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/463>, abgerufen am 01.09.2024.