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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lharles Aingsley als Dichter und Sozialieformer

hängig von zufälligem Unfall oder zeitlicher Krankheit. Macht es so mit der
Kirche!" In der Bibel, sagt er, liege die christliche Freiheit der Menschen,
in der Taufe ihre Gleichheit und im Abendmahl ihre Brüderlichkeit. Des
Herrn Reich sei auch von dieser Welt; wer das leugne, sei ein Lügner. "Wie
könnt ihr -- ruft er aus -- uach dem Taufzcichen des reinen Wassers
wagen, Gottes Kinder dem Schmutz, der Brutalität und den Versuchungen
auszusetzen, die in euern Höfen und Gassen eitern, die die Reinlichkeit un¬
möglich, die Trunkenheit fast entschuldbar, die Prostitution fast selbstverständ¬
lich und Selbstachtung und Scham unbekannt machen?" Er will beweisen,
daß die Massen denn doch noch etwas andres seien als Maschinen und Hände.
Sie seien nicht bestimmt, verbraucht zu werden in der Produktion eines Reich¬
tums, den sie selbst niemals kosteten. Sie seien nicht bloße Waren, deren An¬
gebot durch kluge Volkswirte der Nachfrage des Marktes anzupassen sei. "O,
meine Freunde -- sagt er zum Schluß --, ich rede die Wahrheit. Gott ist
mein Zeuge, daß ich die Wahrheit rede, wenn ich euch sage, daß diese Ge¬
danken nicht Theorie sind, sondern Thatsachen der Erfahrung. Es giebt
gegenwärtig in dieser Kirche wenigstens einen Mann, der von den selbstsüch¬
tigen und üppigen Träumen seiner Jugend durch diese Botschaft der Bibel
und des Sakraments erweckt wordeu ist, den Adel der Sache des Volks zu
erkennen. Er empfindet es gerade jetzt als die gebieterischste Pflicht uno das
ruhmvollste Recht, im Namen von Jesus von Nazareth die Botschaft der
Kirche Christi zu verkünden, daß der Wille Gottes ist: frohe Botschaft den
Armen, Befreiung den Gefangnen, Heilung denen, die gebrochnen Herzens
sind, Licht den Unwissenden, Freiheit den Unterdrückten und den dnrnieder-
gehaltnen Massen das angenehme Jahr des Herrn, das heißt: für sie und
ihre Kinder ein Besitzrecht und ein Anteil an dein Boden, dem Reichtum, der
Zivilisation und der Regierung dieses Landes von England."

Eine solche Predigt, die in der christlichen Lehre die Forderungen der
Sozialdemokratie, ja des Kommunismus nachwies, hatten die Arbeiter noch
nicht gehört. Sie lauschten bis zum Schluß regungslos, gespannt, überrascht.
Kaum aber hatte Kingsley den Segen gesprochen, so erhob sich der Pfarrer
der Johanniskirche aufgeregt und forderte die Gemeinde auf, deu eben gehörten
Irrlehren keinen Glauben zu schenken, ein großer Teil der Rede sei falsch und
widerspreche den heiligen Satzungen der Kirche. Nach diesen Worten brach
unter den Arbeitern eine stürmische Bewegung aus. Alles verließ die Plätze und
drängte sich um Kingsley, der, ohne ein Wort auf die Anschuldigung zu erwidern,
ernst und traurig in die Sakristei trat. Am nächsten Tage waren alle Zeitungen
voll aufregender Nachrichten über seine Predigt. Der Bischof von London er¬
teilte ihm einen scharfen Verweis und verbot ihm, jemals wieder in London zu
predigen. Als aber die Predigt im Druck erschien, stand alle Welt auf Seiten
Kingsleys, und der Bischof war gezwungen, sein Verbot zurückzunehmen.


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Lharles Aingsley als Dichter und Sozialieformer

hängig von zufälligem Unfall oder zeitlicher Krankheit. Macht es so mit der
Kirche!" In der Bibel, sagt er, liege die christliche Freiheit der Menschen,
in der Taufe ihre Gleichheit und im Abendmahl ihre Brüderlichkeit. Des
Herrn Reich sei auch von dieser Welt; wer das leugne, sei ein Lügner. „Wie
könnt ihr — ruft er aus — uach dem Taufzcichen des reinen Wassers
wagen, Gottes Kinder dem Schmutz, der Brutalität und den Versuchungen
auszusetzen, die in euern Höfen und Gassen eitern, die die Reinlichkeit un¬
möglich, die Trunkenheit fast entschuldbar, die Prostitution fast selbstverständ¬
lich und Selbstachtung und Scham unbekannt machen?" Er will beweisen,
daß die Massen denn doch noch etwas andres seien als Maschinen und Hände.
Sie seien nicht bestimmt, verbraucht zu werden in der Produktion eines Reich¬
tums, den sie selbst niemals kosteten. Sie seien nicht bloße Waren, deren An¬
gebot durch kluge Volkswirte der Nachfrage des Marktes anzupassen sei. „O,
meine Freunde — sagt er zum Schluß —, ich rede die Wahrheit. Gott ist
mein Zeuge, daß ich die Wahrheit rede, wenn ich euch sage, daß diese Ge¬
danken nicht Theorie sind, sondern Thatsachen der Erfahrung. Es giebt
gegenwärtig in dieser Kirche wenigstens einen Mann, der von den selbstsüch¬
tigen und üppigen Träumen seiner Jugend durch diese Botschaft der Bibel
und des Sakraments erweckt wordeu ist, den Adel der Sache des Volks zu
erkennen. Er empfindet es gerade jetzt als die gebieterischste Pflicht uno das
ruhmvollste Recht, im Namen von Jesus von Nazareth die Botschaft der
Kirche Christi zu verkünden, daß der Wille Gottes ist: frohe Botschaft den
Armen, Befreiung den Gefangnen, Heilung denen, die gebrochnen Herzens
sind, Licht den Unwissenden, Freiheit den Unterdrückten und den dnrnieder-
gehaltnen Massen das angenehme Jahr des Herrn, das heißt: für sie und
ihre Kinder ein Besitzrecht und ein Anteil an dein Boden, dem Reichtum, der
Zivilisation und der Regierung dieses Landes von England."

Eine solche Predigt, die in der christlichen Lehre die Forderungen der
Sozialdemokratie, ja des Kommunismus nachwies, hatten die Arbeiter noch
nicht gehört. Sie lauschten bis zum Schluß regungslos, gespannt, überrascht.
Kaum aber hatte Kingsley den Segen gesprochen, so erhob sich der Pfarrer
der Johanniskirche aufgeregt und forderte die Gemeinde auf, deu eben gehörten
Irrlehren keinen Glauben zu schenken, ein großer Teil der Rede sei falsch und
widerspreche den heiligen Satzungen der Kirche. Nach diesen Worten brach
unter den Arbeitern eine stürmische Bewegung aus. Alles verließ die Plätze und
drängte sich um Kingsley, der, ohne ein Wort auf die Anschuldigung zu erwidern,
ernst und traurig in die Sakristei trat. Am nächsten Tage waren alle Zeitungen
voll aufregender Nachrichten über seine Predigt. Der Bischof von London er¬
teilte ihm einen scharfen Verweis und verbot ihm, jemals wieder in London zu
predigen. Als aber die Predigt im Druck erschien, stand alle Welt auf Seiten
Kingsleys, und der Bischof war gezwungen, sein Verbot zurückzunehmen.


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[0458] Lharles Aingsley als Dichter und Sozialieformer hängig von zufälligem Unfall oder zeitlicher Krankheit. Macht es so mit der Kirche!" In der Bibel, sagt er, liege die christliche Freiheit der Menschen, in der Taufe ihre Gleichheit und im Abendmahl ihre Brüderlichkeit. Des Herrn Reich sei auch von dieser Welt; wer das leugne, sei ein Lügner. „Wie könnt ihr — ruft er aus — uach dem Taufzcichen des reinen Wassers wagen, Gottes Kinder dem Schmutz, der Brutalität und den Versuchungen auszusetzen, die in euern Höfen und Gassen eitern, die die Reinlichkeit un¬ möglich, die Trunkenheit fast entschuldbar, die Prostitution fast selbstverständ¬ lich und Selbstachtung und Scham unbekannt machen?" Er will beweisen, daß die Massen denn doch noch etwas andres seien als Maschinen und Hände. Sie seien nicht bestimmt, verbraucht zu werden in der Produktion eines Reich¬ tums, den sie selbst niemals kosteten. Sie seien nicht bloße Waren, deren An¬ gebot durch kluge Volkswirte der Nachfrage des Marktes anzupassen sei. „O, meine Freunde — sagt er zum Schluß —, ich rede die Wahrheit. Gott ist mein Zeuge, daß ich die Wahrheit rede, wenn ich euch sage, daß diese Ge¬ danken nicht Theorie sind, sondern Thatsachen der Erfahrung. Es giebt gegenwärtig in dieser Kirche wenigstens einen Mann, der von den selbstsüch¬ tigen und üppigen Träumen seiner Jugend durch diese Botschaft der Bibel und des Sakraments erweckt wordeu ist, den Adel der Sache des Volks zu erkennen. Er empfindet es gerade jetzt als die gebieterischste Pflicht uno das ruhmvollste Recht, im Namen von Jesus von Nazareth die Botschaft der Kirche Christi zu verkünden, daß der Wille Gottes ist: frohe Botschaft den Armen, Befreiung den Gefangnen, Heilung denen, die gebrochnen Herzens sind, Licht den Unwissenden, Freiheit den Unterdrückten und den dnrnieder- gehaltnen Massen das angenehme Jahr des Herrn, das heißt: für sie und ihre Kinder ein Besitzrecht und ein Anteil an dein Boden, dem Reichtum, der Zivilisation und der Regierung dieses Landes von England." Eine solche Predigt, die in der christlichen Lehre die Forderungen der Sozialdemokratie, ja des Kommunismus nachwies, hatten die Arbeiter noch nicht gehört. Sie lauschten bis zum Schluß regungslos, gespannt, überrascht. Kaum aber hatte Kingsley den Segen gesprochen, so erhob sich der Pfarrer der Johanniskirche aufgeregt und forderte die Gemeinde auf, deu eben gehörten Irrlehren keinen Glauben zu schenken, ein großer Teil der Rede sei falsch und widerspreche den heiligen Satzungen der Kirche. Nach diesen Worten brach unter den Arbeitern eine stürmische Bewegung aus. Alles verließ die Plätze und drängte sich um Kingsley, der, ohne ein Wort auf die Anschuldigung zu erwidern, ernst und traurig in die Sakristei trat. Am nächsten Tage waren alle Zeitungen voll aufregender Nachrichten über seine Predigt. Der Bischof von London er¬ teilte ihm einen scharfen Verweis und verbot ihm, jemals wieder in London zu predigen. Als aber die Predigt im Druck erschien, stand alle Welt auf Seiten Kingsleys, und der Bischof war gezwungen, sein Verbot zurückzunehmen. 450

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/458>, abgerufen am 27.11.2024.