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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Alcissenl'ewegung und Nationalitätenpolitik in (Österreich

trug dahin zusammen: "Große wirtschaftliche Veränderungen haben gewisse
Verschiebungen der Bevölkerung in Fluß gebracht, und durch das Zusammen¬
treffen dieses Prozesses mit politischen Ereignissen, die die Staatstradition ans
ihrer Bahn warfen, ist Osterreich vor eine dunkle Zukunft gestellt, die sich jedem
seiner Vergangenheit entnvmmnen Beurteilungsmaßstabe entzieht. Niemand
weiß, wohin das Staatsschiff steuert."

Mit der bestimmten Absicht, seine leichtlebigen, optimistischen Landsleute
aus der Täuschung über ihre Lage herauszureißen, hat Dumreicher dieses ein¬
drucksvolle, düstere Gemälde entworfen. Tief in die Seele soll ihnen das Be¬
wußtsein brennen, daß das lebende Geschlecht ein reiches nationales Erbe hat
zerrinnen lassen. Der Verfasser will nicht Geschichtschreiber, er will Publizist
fein, er will den Leser in eine gewisse Stimmung versetzen; er will in ihm
den Entschluß hervorrufen, sich einzusetzen für die Erhaltung des deutscheu
Volksbesitzes in Österreich.

Aber eine gewichtige Einwendung muß doch gegen diese Betrachtungen
erhoben werden. Ist die Schwermut, die in jedem Augenblick in thatenlose
Resignation umschlagen kaun, das Gefühl, aus dem nationale Mannhaftigkeit
emporzuwachsen Pflegt? Offenbar ist es doch Dumreicher vor allem darauf an¬
gekommen, eine Voraussetzung zu zerstören, die die Deutschen Österreichs von
1848 bis 1880 vollständig beherrschte, die ihre besten politischen Köpfe irre¬
führte und jene verworrene Sprachengesetzgebung hervorrief, die unter den
gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr reformirt werden kann. Die Männer von
1848 und die, die die Verfassung von 1868 schufen, also die Zeitgenossen
Herbsts, Kaiscrfelds, Hasncrs und Anastasius Grüns gingen von der Ansicht
ans, daß das Nationalgefühl, zumal der kleinern slawischen Stämme in Öster¬
reich, eine nnr augenblicklich aufrauschende Massenempfiuduug sei, die bald ver-
brauseu werde; sie glaubten Zeugen einer vergänglichen Bewegung zu sein;
sie schnitten den Staat in der Voraussetzung zu, daß Staatsbewußtsein und
Freiheitsgefühl, daß eine liberale, rein menschliche Gesinnung die irregeführten
slawischen nationalen Massen bald zur Anerkennung der Überlegenheit der
deutschen Staatssprache zurückführen müsse. Sie unterschätzten die Macht des
Nationalismus. Sie gingen so weit, daß sie ihre eignen Stammesgenossen
unaufhörlich warnten, sich die rein menschliche Empfindung des Kosmopolitis-
mus nicht verdunkeln zu lassen durch schroffe Betonung des deutschen Rechts¬
und Machtgefühls. Sie glaubten, vorsichtig abzuwägen, wenn sie dem Fieber¬
schauer des Nationalismus die Zeit von etwa dreißig Jahren gaben, wenn sie
die mit ihnen lebende Generation der Slawen verloren gaben, jedoch die Über¬
zeugung uührteu, daß das nächste Geschlecht, durch die Irrtümer seiner Väter
gewarnt, die neuerrichteten tschechischen, magyarischen, slowenischen Schulen
leerstehen lasse" und seine Kiuder wieder deutsche" Anstalten anvertrauen werde.
Sie stellten demnach fest, daß, wo sich vierzig Kinder einer Nationalität be-


Alcissenl'ewegung und Nationalitätenpolitik in (Österreich

trug dahin zusammen: „Große wirtschaftliche Veränderungen haben gewisse
Verschiebungen der Bevölkerung in Fluß gebracht, und durch das Zusammen¬
treffen dieses Prozesses mit politischen Ereignissen, die die Staatstradition ans
ihrer Bahn warfen, ist Osterreich vor eine dunkle Zukunft gestellt, die sich jedem
seiner Vergangenheit entnvmmnen Beurteilungsmaßstabe entzieht. Niemand
weiß, wohin das Staatsschiff steuert."

Mit der bestimmten Absicht, seine leichtlebigen, optimistischen Landsleute
aus der Täuschung über ihre Lage herauszureißen, hat Dumreicher dieses ein¬
drucksvolle, düstere Gemälde entworfen. Tief in die Seele soll ihnen das Be¬
wußtsein brennen, daß das lebende Geschlecht ein reiches nationales Erbe hat
zerrinnen lassen. Der Verfasser will nicht Geschichtschreiber, er will Publizist
fein, er will den Leser in eine gewisse Stimmung versetzen; er will in ihm
den Entschluß hervorrufen, sich einzusetzen für die Erhaltung des deutscheu
Volksbesitzes in Österreich.

Aber eine gewichtige Einwendung muß doch gegen diese Betrachtungen
erhoben werden. Ist die Schwermut, die in jedem Augenblick in thatenlose
Resignation umschlagen kaun, das Gefühl, aus dem nationale Mannhaftigkeit
emporzuwachsen Pflegt? Offenbar ist es doch Dumreicher vor allem darauf an¬
gekommen, eine Voraussetzung zu zerstören, die die Deutschen Österreichs von
1848 bis 1880 vollständig beherrschte, die ihre besten politischen Köpfe irre¬
führte und jene verworrene Sprachengesetzgebung hervorrief, die unter den
gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr reformirt werden kann. Die Männer von
1848 und die, die die Verfassung von 1868 schufen, also die Zeitgenossen
Herbsts, Kaiscrfelds, Hasncrs und Anastasius Grüns gingen von der Ansicht
ans, daß das Nationalgefühl, zumal der kleinern slawischen Stämme in Öster¬
reich, eine nnr augenblicklich aufrauschende Massenempfiuduug sei, die bald ver-
brauseu werde; sie glaubten Zeugen einer vergänglichen Bewegung zu sein;
sie schnitten den Staat in der Voraussetzung zu, daß Staatsbewußtsein und
Freiheitsgefühl, daß eine liberale, rein menschliche Gesinnung die irregeführten
slawischen nationalen Massen bald zur Anerkennung der Überlegenheit der
deutschen Staatssprache zurückführen müsse. Sie unterschätzten die Macht des
Nationalismus. Sie gingen so weit, daß sie ihre eignen Stammesgenossen
unaufhörlich warnten, sich die rein menschliche Empfindung des Kosmopolitis-
mus nicht verdunkeln zu lassen durch schroffe Betonung des deutschen Rechts¬
und Machtgefühls. Sie glaubten, vorsichtig abzuwägen, wenn sie dem Fieber¬
schauer des Nationalismus die Zeit von etwa dreißig Jahren gaben, wenn sie
die mit ihnen lebende Generation der Slawen verloren gaben, jedoch die Über¬
zeugung uührteu, daß das nächste Geschlecht, durch die Irrtümer seiner Väter
gewarnt, die neuerrichteten tschechischen, magyarischen, slowenischen Schulen
leerstehen lasse» und seine Kiuder wieder deutsche« Anstalten anvertrauen werde.
Sie stellten demnach fest, daß, wo sich vierzig Kinder einer Nationalität be-


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[0446] Alcissenl'ewegung und Nationalitätenpolitik in (Österreich trug dahin zusammen: „Große wirtschaftliche Veränderungen haben gewisse Verschiebungen der Bevölkerung in Fluß gebracht, und durch das Zusammen¬ treffen dieses Prozesses mit politischen Ereignissen, die die Staatstradition ans ihrer Bahn warfen, ist Osterreich vor eine dunkle Zukunft gestellt, die sich jedem seiner Vergangenheit entnvmmnen Beurteilungsmaßstabe entzieht. Niemand weiß, wohin das Staatsschiff steuert." Mit der bestimmten Absicht, seine leichtlebigen, optimistischen Landsleute aus der Täuschung über ihre Lage herauszureißen, hat Dumreicher dieses ein¬ drucksvolle, düstere Gemälde entworfen. Tief in die Seele soll ihnen das Be¬ wußtsein brennen, daß das lebende Geschlecht ein reiches nationales Erbe hat zerrinnen lassen. Der Verfasser will nicht Geschichtschreiber, er will Publizist fein, er will den Leser in eine gewisse Stimmung versetzen; er will in ihm den Entschluß hervorrufen, sich einzusetzen für die Erhaltung des deutscheu Volksbesitzes in Österreich. Aber eine gewichtige Einwendung muß doch gegen diese Betrachtungen erhoben werden. Ist die Schwermut, die in jedem Augenblick in thatenlose Resignation umschlagen kaun, das Gefühl, aus dem nationale Mannhaftigkeit emporzuwachsen Pflegt? Offenbar ist es doch Dumreicher vor allem darauf an¬ gekommen, eine Voraussetzung zu zerstören, die die Deutschen Österreichs von 1848 bis 1880 vollständig beherrschte, die ihre besten politischen Köpfe irre¬ führte und jene verworrene Sprachengesetzgebung hervorrief, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr reformirt werden kann. Die Männer von 1848 und die, die die Verfassung von 1868 schufen, also die Zeitgenossen Herbsts, Kaiscrfelds, Hasncrs und Anastasius Grüns gingen von der Ansicht ans, daß das Nationalgefühl, zumal der kleinern slawischen Stämme in Öster¬ reich, eine nnr augenblicklich aufrauschende Massenempfiuduug sei, die bald ver- brauseu werde; sie glaubten Zeugen einer vergänglichen Bewegung zu sein; sie schnitten den Staat in der Voraussetzung zu, daß Staatsbewußtsein und Freiheitsgefühl, daß eine liberale, rein menschliche Gesinnung die irregeführten slawischen nationalen Massen bald zur Anerkennung der Überlegenheit der deutschen Staatssprache zurückführen müsse. Sie unterschätzten die Macht des Nationalismus. Sie gingen so weit, daß sie ihre eignen Stammesgenossen unaufhörlich warnten, sich die rein menschliche Empfindung des Kosmopolitis- mus nicht verdunkeln zu lassen durch schroffe Betonung des deutschen Rechts¬ und Machtgefühls. Sie glaubten, vorsichtig abzuwägen, wenn sie dem Fieber¬ schauer des Nationalismus die Zeit von etwa dreißig Jahren gaben, wenn sie die mit ihnen lebende Generation der Slawen verloren gaben, jedoch die Über¬ zeugung uührteu, daß das nächste Geschlecht, durch die Irrtümer seiner Väter gewarnt, die neuerrichteten tschechischen, magyarischen, slowenischen Schulen leerstehen lasse» und seine Kiuder wieder deutsche« Anstalten anvertrauen werde. Sie stellten demnach fest, daß, wo sich vierzig Kinder einer Nationalität be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/446>, abgerufen am 28.07.2024.