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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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zu einem musterhaften Gemälde zusammengefaßt. Tiefer geht er dann auf die
letzten, wirtschaftlichen Ursachen der großen Erscheinung ein. Er weist darauf
hin, daß zwischen 1880 und 1890 die Vermehrung der Deutschen um 2,06 Prozent
zurückgeblieben sei hinter der gesamten Bevölkerungszunahme im österreichischen
Staate. Damit kommt er zu dem Kernsatze, daß die Massenbewegungen des
Zeitalters den Deutschen ungünstig seien. Aus den slawischen Gebieten, wo
auf den Gütern der Großen ein erbärmlicher Tagelohn, der bis auf zwanzig
und dreißig Kreuzer sinkt, das Volk zur Auswanderung drängt, strömen Tau¬
sende in das deutsche Sprachgebiet, drängen sich in die nahegelegnen deutscheu
Städte, bilden festgeschlossene Gemeinschaften, erzwingen sich tschechische und
slowenische Schulen, durchbrechen die uralte Sprachgrenze, steigen zu selbstän¬
digem Gewerbebetriebe auf und geben der neuen Heimat ein verändertes natio¬
nales Gepräge. Und hier setzt Dumreicher wieder mit überzeugenden politischen
Auseinandersetzungen ein. Solches Überfluten der Sprachgrenzen war nicht
zu verhindern, denn es beruht ans unabweisbaren wirtschaftlichen Ursachen.
Aber der Staat stand, wenn er nur wollte, dieser Erscheinung nicht wehrlos
gegenüber. Durch eine weitsichtige Unterrichtspolitik hätte er solche bedroh¬
liche Erscheinungen bezwingen können: es mußte dafür gesorgt werden, daß
diese Einwanderer durch die Schule der heimischen Bevölkerung zuletzt doch
sprachlich angegliedert wurden. Statt dessen hegte und fütterte der Staat die
entstehenden Minderheiten, schuf selbst Völkerfragmenten, wie den Slowenen,
durch bestellte Übersetzungen Lehrbücher, die sie sich aus eigner Kraft nie ge¬
schaffen hätten. "Von allen Übersetzungen -- so lautet eine Stelle bei Dum-
reicher -- meint Cervantes, sie seien wie die Kehrseiten von flandrischen Tapeten,
und wenn man auch die Figuren sehe, so erschienen sie doch von verdeckenden
Fäden so überspannen, daß der Glanz wie die Klarheit der Vorderseite ver-
loren gehen. Aus solchen umgedrehten Teppichen aber soll die reifere Jugend
in Österreichs südlichen Ländern das Bild der Welt und ihres Knlturschatzes
u> sich aufnehmen! Und überdies, wie wenig solcher umgedrehter Gobelins
kann man ihr bieten! Bisher ist für zwanzig Gulden die ganze jährliche litte¬
rarische Produktion der Slowenen zu kaufen." Geradezu verheerend aber
wirkt dieser Zustand auf die österreichische Armee, diese eiserne Klammer des
Staats; denn immer mehr schwindet die Kenntnis der deutschen Sprache nnter
den Unteroffizieren, selbst die Offiziere der Reserve können sich oft nur in ge-
brochner deutscher Rede mit einander verständigen. Es ist mit dem Heran¬
wachsen der neuen Generation ein Zustand im Werden, den der ehemalige
Minister Unger einmal treffend bezeichnete, wenn er sagte: "Wie sollen wir uns
verständigen, wenn wir uns nicht mehr verstehen?"

Es ist also eine durchaus melancholische Anschauung der Dinge, zu der
der Verfasser der "südostdeutschen Betrachtungen" gelangt. Nur schwache
Hoffnungsstrahlen durchdringen ihm das Gewölk. Er faßt die ganze Entwick-


zu einem musterhaften Gemälde zusammengefaßt. Tiefer geht er dann auf die
letzten, wirtschaftlichen Ursachen der großen Erscheinung ein. Er weist darauf
hin, daß zwischen 1880 und 1890 die Vermehrung der Deutschen um 2,06 Prozent
zurückgeblieben sei hinter der gesamten Bevölkerungszunahme im österreichischen
Staate. Damit kommt er zu dem Kernsatze, daß die Massenbewegungen des
Zeitalters den Deutschen ungünstig seien. Aus den slawischen Gebieten, wo
auf den Gütern der Großen ein erbärmlicher Tagelohn, der bis auf zwanzig
und dreißig Kreuzer sinkt, das Volk zur Auswanderung drängt, strömen Tau¬
sende in das deutsche Sprachgebiet, drängen sich in die nahegelegnen deutscheu
Städte, bilden festgeschlossene Gemeinschaften, erzwingen sich tschechische und
slowenische Schulen, durchbrechen die uralte Sprachgrenze, steigen zu selbstän¬
digem Gewerbebetriebe auf und geben der neuen Heimat ein verändertes natio¬
nales Gepräge. Und hier setzt Dumreicher wieder mit überzeugenden politischen
Auseinandersetzungen ein. Solches Überfluten der Sprachgrenzen war nicht
zu verhindern, denn es beruht ans unabweisbaren wirtschaftlichen Ursachen.
Aber der Staat stand, wenn er nur wollte, dieser Erscheinung nicht wehrlos
gegenüber. Durch eine weitsichtige Unterrichtspolitik hätte er solche bedroh¬
liche Erscheinungen bezwingen können: es mußte dafür gesorgt werden, daß
diese Einwanderer durch die Schule der heimischen Bevölkerung zuletzt doch
sprachlich angegliedert wurden. Statt dessen hegte und fütterte der Staat die
entstehenden Minderheiten, schuf selbst Völkerfragmenten, wie den Slowenen,
durch bestellte Übersetzungen Lehrbücher, die sie sich aus eigner Kraft nie ge¬
schaffen hätten. „Von allen Übersetzungen — so lautet eine Stelle bei Dum-
reicher — meint Cervantes, sie seien wie die Kehrseiten von flandrischen Tapeten,
und wenn man auch die Figuren sehe, so erschienen sie doch von verdeckenden
Fäden so überspannen, daß der Glanz wie die Klarheit der Vorderseite ver-
loren gehen. Aus solchen umgedrehten Teppichen aber soll die reifere Jugend
in Österreichs südlichen Ländern das Bild der Welt und ihres Knlturschatzes
u> sich aufnehmen! Und überdies, wie wenig solcher umgedrehter Gobelins
kann man ihr bieten! Bisher ist für zwanzig Gulden die ganze jährliche litte¬
rarische Produktion der Slowenen zu kaufen." Geradezu verheerend aber
wirkt dieser Zustand auf die österreichische Armee, diese eiserne Klammer des
Staats; denn immer mehr schwindet die Kenntnis der deutschen Sprache nnter
den Unteroffizieren, selbst die Offiziere der Reserve können sich oft nur in ge-
brochner deutscher Rede mit einander verständigen. Es ist mit dem Heran¬
wachsen der neuen Generation ein Zustand im Werden, den der ehemalige
Minister Unger einmal treffend bezeichnete, wenn er sagte: „Wie sollen wir uns
verständigen, wenn wir uns nicht mehr verstehen?"

Es ist also eine durchaus melancholische Anschauung der Dinge, zu der
der Verfasser der „südostdeutschen Betrachtungen" gelangt. Nur schwache
Hoffnungsstrahlen durchdringen ihm das Gewölk. Er faßt die ganze Entwick-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/445>, abgerufen am 23.11.2024.