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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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von unsern Hochschulen

Kehrseite übersieht. Daß über der ängstlichen Beobachtung einer geistlosen
Form ein gutes Stück des urwüchsigen Humors verloren gegangen ist, wie
er in Scheffels Studentenliederu noch lebt, mag hingehen; unsre Zeit ist nicht
sür Poesie und Gemütlichkeit. Bedenklicher aber ist es, daß die studentische
Erziehung unter dem Scheine äußerer Sicherheit innerlich höchst unselbständige
Naturen heranbildet. Was beweisen denn die vielen Witze, die unsre humo¬
ristischen Blätter mit vollem Recht über den deutschen Verbinduugsstndenteu
loslassen, anders, als daß ihm jedes Talent zum Leben abgeht! In den ihm
geläufigen Formen bewegt er sich mit tadelloser Sicherheit, und der Herr
Amtsrichter weiß noch recht gut, was er zu thun hat, wenn ein Kvuleurbruder
von der Universität ihm "einen Halben über Kreuz" kommt -- wohlgemerkt,
nicht übers Kreuz, denn der deutsche Student vermeidet den richtigen Gebrauch
seiner Muttersprache gern so weit als möglich; wird aber solch ein patentirter
Vertreter deutscher wissenschaftlicher Bildung in nichtakademische Kreise ver¬
schlagen, so benimmt er sich, als wäre er geradeswegs vom nächsten Fixstern
zugereist, und muß mit vieler Mühe erst für den menschlichen Umgang er¬
zogen werden. Das angenehme Gegenstück zu dieser Unfähigkeit, sich im bürger¬
lichen Leben zu bewegen, ist die hilflose Kurzsichtigkeit, mit der unsre Bureau¬
kraten, niedere und hohe, den treibenden Kräften unsrer Zeit gegenüber stehen.
Was sind denn in den letzten Jahren aus den Kreisen unsrer höher" Beamten
für schöpferische Gedanken emporgestiegen? Die Putttamersche Orthographie,
das preußische BolkSschulgesetz und die lox Heinze, ein edles Kleeblatt! Wer
gelesen hat, wie bitter sich Fürst Bismarck kürzlich über die Unterstützung be¬
klagte, die ihm von der Bureaukratie geworden ist, der weiß genug. Die
Presse freilich hat sich beeilt, nachzuweisen, des Kanzlers Worte widersprächen
seinen Thaten. Wer aber kein sonderlich pikantes Vergnügen darin findet,
dein großen Manne kleine Widersprüche nachzuweisen, dem sind seine Worte
ein unschätzbares Zeugnis für die Unfähigkeit unsers höhern Beamtentums
und für die Fäulnis seiner Wurzel, der deutschen Universitäten.

Schlimmer noch als die gesellschaftliche Verbildung des deutschen Ver¬
bindungsstudenten ist seine moralische Unselbständigkeit. Der junge Fuchs, der
als Primaner noch nicht recht wußte, was er mit sich anfangen sollte, be¬
kommt zwar eine ganz hervorragende Charakterstürke durch das Bewußtsein,
daß zwanzig Kommilitonen hinter ihm stehen, die ihm In zweifelhaften Lagen
sagen, was er zu thun habe, und schlimmsten Falls für ihn eintreten. Be¬
taue er sie nnr nicht mit so unvermittelter Plötzlichkeit! Dann freilich hätten
die Recht, die bei 8. (1. nud I). und was weiß ich für hieroglhphisch be¬
zeichnete" Festen ein langes Loblied singen von straffer Zucht und Stählung
des Charakters. Wer das Ding in der Nähe- geschaut hat, läßt sich dadurch
keinen Sand in die Augen streuen. Die straffe Zucht äußert sich im Leben
in der Regel als beschränkter Beamtendünkel, und der gestählte Charakter als


von unsern Hochschulen

Kehrseite übersieht. Daß über der ängstlichen Beobachtung einer geistlosen
Form ein gutes Stück des urwüchsigen Humors verloren gegangen ist, wie
er in Scheffels Studentenliederu noch lebt, mag hingehen; unsre Zeit ist nicht
sür Poesie und Gemütlichkeit. Bedenklicher aber ist es, daß die studentische
Erziehung unter dem Scheine äußerer Sicherheit innerlich höchst unselbständige
Naturen heranbildet. Was beweisen denn die vielen Witze, die unsre humo¬
ristischen Blätter mit vollem Recht über den deutschen Verbinduugsstndenteu
loslassen, anders, als daß ihm jedes Talent zum Leben abgeht! In den ihm
geläufigen Formen bewegt er sich mit tadelloser Sicherheit, und der Herr
Amtsrichter weiß noch recht gut, was er zu thun hat, wenn ein Kvuleurbruder
von der Universität ihm „einen Halben über Kreuz" kommt — wohlgemerkt,
nicht übers Kreuz, denn der deutsche Student vermeidet den richtigen Gebrauch
seiner Muttersprache gern so weit als möglich; wird aber solch ein patentirter
Vertreter deutscher wissenschaftlicher Bildung in nichtakademische Kreise ver¬
schlagen, so benimmt er sich, als wäre er geradeswegs vom nächsten Fixstern
zugereist, und muß mit vieler Mühe erst für den menschlichen Umgang er¬
zogen werden. Das angenehme Gegenstück zu dieser Unfähigkeit, sich im bürger¬
lichen Leben zu bewegen, ist die hilflose Kurzsichtigkeit, mit der unsre Bureau¬
kraten, niedere und hohe, den treibenden Kräften unsrer Zeit gegenüber stehen.
Was sind denn in den letzten Jahren aus den Kreisen unsrer höher» Beamten
für schöpferische Gedanken emporgestiegen? Die Putttamersche Orthographie,
das preußische BolkSschulgesetz und die lox Heinze, ein edles Kleeblatt! Wer
gelesen hat, wie bitter sich Fürst Bismarck kürzlich über die Unterstützung be¬
klagte, die ihm von der Bureaukratie geworden ist, der weiß genug. Die
Presse freilich hat sich beeilt, nachzuweisen, des Kanzlers Worte widersprächen
seinen Thaten. Wer aber kein sonderlich pikantes Vergnügen darin findet,
dein großen Manne kleine Widersprüche nachzuweisen, dem sind seine Worte
ein unschätzbares Zeugnis für die Unfähigkeit unsers höhern Beamtentums
und für die Fäulnis seiner Wurzel, der deutschen Universitäten.

Schlimmer noch als die gesellschaftliche Verbildung des deutschen Ver¬
bindungsstudenten ist seine moralische Unselbständigkeit. Der junge Fuchs, der
als Primaner noch nicht recht wußte, was er mit sich anfangen sollte, be¬
kommt zwar eine ganz hervorragende Charakterstürke durch das Bewußtsein,
daß zwanzig Kommilitonen hinter ihm stehen, die ihm In zweifelhaften Lagen
sagen, was er zu thun habe, und schlimmsten Falls für ihn eintreten. Be¬
taue er sie nnr nicht mit so unvermittelter Plötzlichkeit! Dann freilich hätten
die Recht, die bei 8. (1. nud I). und was weiß ich für hieroglhphisch be¬
zeichnete» Festen ein langes Loblied singen von straffer Zucht und Stählung
des Charakters. Wer das Ding in der Nähe- geschaut hat, läßt sich dadurch
keinen Sand in die Augen streuen. Die straffe Zucht äußert sich im Leben
in der Regel als beschränkter Beamtendünkel, und der gestählte Charakter als


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[0427] von unsern Hochschulen Kehrseite übersieht. Daß über der ängstlichen Beobachtung einer geistlosen Form ein gutes Stück des urwüchsigen Humors verloren gegangen ist, wie er in Scheffels Studentenliederu noch lebt, mag hingehen; unsre Zeit ist nicht sür Poesie und Gemütlichkeit. Bedenklicher aber ist es, daß die studentische Erziehung unter dem Scheine äußerer Sicherheit innerlich höchst unselbständige Naturen heranbildet. Was beweisen denn die vielen Witze, die unsre humo¬ ristischen Blätter mit vollem Recht über den deutschen Verbinduugsstndenteu loslassen, anders, als daß ihm jedes Talent zum Leben abgeht! In den ihm geläufigen Formen bewegt er sich mit tadelloser Sicherheit, und der Herr Amtsrichter weiß noch recht gut, was er zu thun hat, wenn ein Kvuleurbruder von der Universität ihm „einen Halben über Kreuz" kommt — wohlgemerkt, nicht übers Kreuz, denn der deutsche Student vermeidet den richtigen Gebrauch seiner Muttersprache gern so weit als möglich; wird aber solch ein patentirter Vertreter deutscher wissenschaftlicher Bildung in nichtakademische Kreise ver¬ schlagen, so benimmt er sich, als wäre er geradeswegs vom nächsten Fixstern zugereist, und muß mit vieler Mühe erst für den menschlichen Umgang er¬ zogen werden. Das angenehme Gegenstück zu dieser Unfähigkeit, sich im bürger¬ lichen Leben zu bewegen, ist die hilflose Kurzsichtigkeit, mit der unsre Bureau¬ kraten, niedere und hohe, den treibenden Kräften unsrer Zeit gegenüber stehen. Was sind denn in den letzten Jahren aus den Kreisen unsrer höher» Beamten für schöpferische Gedanken emporgestiegen? Die Putttamersche Orthographie, das preußische BolkSschulgesetz und die lox Heinze, ein edles Kleeblatt! Wer gelesen hat, wie bitter sich Fürst Bismarck kürzlich über die Unterstützung be¬ klagte, die ihm von der Bureaukratie geworden ist, der weiß genug. Die Presse freilich hat sich beeilt, nachzuweisen, des Kanzlers Worte widersprächen seinen Thaten. Wer aber kein sonderlich pikantes Vergnügen darin findet, dein großen Manne kleine Widersprüche nachzuweisen, dem sind seine Worte ein unschätzbares Zeugnis für die Unfähigkeit unsers höhern Beamtentums und für die Fäulnis seiner Wurzel, der deutschen Universitäten. Schlimmer noch als die gesellschaftliche Verbildung des deutschen Ver¬ bindungsstudenten ist seine moralische Unselbständigkeit. Der junge Fuchs, der als Primaner noch nicht recht wußte, was er mit sich anfangen sollte, be¬ kommt zwar eine ganz hervorragende Charakterstürke durch das Bewußtsein, daß zwanzig Kommilitonen hinter ihm stehen, die ihm In zweifelhaften Lagen sagen, was er zu thun habe, und schlimmsten Falls für ihn eintreten. Be¬ taue er sie nnr nicht mit so unvermittelter Plötzlichkeit! Dann freilich hätten die Recht, die bei 8. (1. nud I). und was weiß ich für hieroglhphisch be¬ zeichnete» Festen ein langes Loblied singen von straffer Zucht und Stählung des Charakters. Wer das Ding in der Nähe- geschaut hat, läßt sich dadurch keinen Sand in die Augen streuen. Die straffe Zucht äußert sich im Leben in der Regel als beschränkter Beamtendünkel, und der gestählte Charakter als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/427>, abgerufen am 23.11.2024.