Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Leipzig, Bacmeisters Verlag) lernen wir ein neues Glied der Bellamhfamilie
kennen. A. von der Passer dreht den Spieß, mit dem Engen Richter einher¬
schreitet, einfach um, er malt das Geschick Europas, nachdem eine siegreiche
Reaktion die Sozialdemokratie besiegt und jeden sozialen Gedanken aus der
Welt getilgt hat. Die große Kapitalbildung, die in wenigen Hunden alle
Reichtümer und Mittel gehäuft hat, ist noch ein Jahrhundert ihren Weg weiter
gegangen, die Muffen sind im Elend immer jammervoller versklavt, immer
tierischer geworden, und dann ist eine Revolution ausgebrochen, die die alte
Kultur bis auf den letzten Nest verwischt hat, sodaß, als im Jahre 2398 eine
Flotte des in Afrika gegründeten Freilandstaates die deutschen Küsten erreicht,
sie nur Trümmer und Wilde vorfindet. Das Büchlein erweist freilich, wie
leicht es ist, wenn die Natur der Phantasie keine Schranken setzt, kühne Gegen-
fntzbilder zu malen und Licht und Dunkel nach Willkür zu verteilen.

Dennoch muß man diese Art von Traumfresken, mich wo sie viel zu
tendenziös lehrhaft sind, um irgend eine politische Wirkung hervorbringen zu
können, gewissen Wirklichkeitsschilderungen noch vorziehen. Wie häßlich
wirkt zum Beispiel der Roman Zwei Dichter von Carl Eduard Klopfer
(Leipzig, Carl Reißner), der das unselige Ende Alfred Meißners, den Konflikt
mit Franz Hedrich "poetisch" zu verwerten sucht, ohne das psychologische
Rätsel, das der "Fall Meißner-Hedrich" darbot, irgend glaubhaft lösen zu
können. Wie roh und bis zum Ekel peinlich erscheint die Erfindung des
"Berliner Romans" von Paul Oskar Höcker: Dem Glücke nach (Berlin,
Richard Ecksteins Nachfolger). Ein wirklich kenntnisreicher Arzt, Dr. David
Rischgvde, und ein Maler Fritz Sponnagel werden hier inmitten des ärmsten
Berliner Proletariats vorgeführt, dem sie mit Leib und Seele verpflichtet er¬
scheinen. Wenigstens bekommt dem Dr, Nischgode der leidenschaftlich hastige
Versuch, sich wieder emporzuarbeiten, schlecht genug, er endet nach einem
kurzen Giückstraum als Selbstmörder und ans dem Armenkirchhvf. Der Effekt
dieser in ihrer Spannung platt-alltäglichen Berliner Geschichte liegt teils in
dem prickelnden Gegensatze, daß so viel Wissen und Können, ja Genie und
Arbeitskraft, wie die beiden gebildeten jungen Männer angeblich besitzen, ihnen
kaum die armselige Existenz des gedrücktesten Handarbeiters oder Fabrikarbeiters
sichern, und in der naturalistischen Schilderung einer Berliner Proletarier-
wvhnuug oben am Wedding. Wir wissen, daß das Elend des geistigen Prole¬
tariats, von dem Berlin wimmelt, groß ist, aber das Elend sieht anders aus,
und der Kampf gegen den Hunger zeigt bei diesem geistigen Proletariat andre,
viel ergreifendere Züge, als dies ganz äußerliche, auf den alltäglichen Erfolg
gestellte Gebilde ahnen läßt.

Doch wohin geraten wir? Wir sind dem Gebiet des Leihbibliotheks¬
und Kolportagervmans schon hübsch nahe gekommen. Bemerkenswert ist es,
daß sich auch diese Art Litteratur, die früher ohne große Ausdehnung gar


Leipzig, Bacmeisters Verlag) lernen wir ein neues Glied der Bellamhfamilie
kennen. A. von der Passer dreht den Spieß, mit dem Engen Richter einher¬
schreitet, einfach um, er malt das Geschick Europas, nachdem eine siegreiche
Reaktion die Sozialdemokratie besiegt und jeden sozialen Gedanken aus der
Welt getilgt hat. Die große Kapitalbildung, die in wenigen Hunden alle
Reichtümer und Mittel gehäuft hat, ist noch ein Jahrhundert ihren Weg weiter
gegangen, die Muffen sind im Elend immer jammervoller versklavt, immer
tierischer geworden, und dann ist eine Revolution ausgebrochen, die die alte
Kultur bis auf den letzten Nest verwischt hat, sodaß, als im Jahre 2398 eine
Flotte des in Afrika gegründeten Freilandstaates die deutschen Küsten erreicht,
sie nur Trümmer und Wilde vorfindet. Das Büchlein erweist freilich, wie
leicht es ist, wenn die Natur der Phantasie keine Schranken setzt, kühne Gegen-
fntzbilder zu malen und Licht und Dunkel nach Willkür zu verteilen.

Dennoch muß man diese Art von Traumfresken, mich wo sie viel zu
tendenziös lehrhaft sind, um irgend eine politische Wirkung hervorbringen zu
können, gewissen Wirklichkeitsschilderungen noch vorziehen. Wie häßlich
wirkt zum Beispiel der Roman Zwei Dichter von Carl Eduard Klopfer
(Leipzig, Carl Reißner), der das unselige Ende Alfred Meißners, den Konflikt
mit Franz Hedrich „poetisch" zu verwerten sucht, ohne das psychologische
Rätsel, das der „Fall Meißner-Hedrich" darbot, irgend glaubhaft lösen zu
können. Wie roh und bis zum Ekel peinlich erscheint die Erfindung des
„Berliner Romans" von Paul Oskar Höcker: Dem Glücke nach (Berlin,
Richard Ecksteins Nachfolger). Ein wirklich kenntnisreicher Arzt, Dr. David
Rischgvde, und ein Maler Fritz Sponnagel werden hier inmitten des ärmsten
Berliner Proletariats vorgeführt, dem sie mit Leib und Seele verpflichtet er¬
scheinen. Wenigstens bekommt dem Dr, Nischgode der leidenschaftlich hastige
Versuch, sich wieder emporzuarbeiten, schlecht genug, er endet nach einem
kurzen Giückstraum als Selbstmörder und ans dem Armenkirchhvf. Der Effekt
dieser in ihrer Spannung platt-alltäglichen Berliner Geschichte liegt teils in
dem prickelnden Gegensatze, daß so viel Wissen und Können, ja Genie und
Arbeitskraft, wie die beiden gebildeten jungen Männer angeblich besitzen, ihnen
kaum die armselige Existenz des gedrücktesten Handarbeiters oder Fabrikarbeiters
sichern, und in der naturalistischen Schilderung einer Berliner Proletarier-
wvhnuug oben am Wedding. Wir wissen, daß das Elend des geistigen Prole¬
tariats, von dem Berlin wimmelt, groß ist, aber das Elend sieht anders aus,
und der Kampf gegen den Hunger zeigt bei diesem geistigen Proletariat andre,
viel ergreifendere Züge, als dies ganz äußerliche, auf den alltäglichen Erfolg
gestellte Gebilde ahnen läßt.

Doch wohin geraten wir? Wir sind dem Gebiet des Leihbibliotheks¬
und Kolportagervmans schon hübsch nahe gekommen. Bemerkenswert ist es,
daß sich auch diese Art Litteratur, die früher ohne große Ausdehnung gar


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0423" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215513"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1509" prev="#ID_1508"> Leipzig, Bacmeisters Verlag) lernen wir ein neues Glied der Bellamhfamilie<lb/>
kennen. A. von der Passer dreht den Spieß, mit dem Engen Richter einher¬<lb/>
schreitet, einfach um, er malt das Geschick Europas, nachdem eine siegreiche<lb/>
Reaktion die Sozialdemokratie besiegt und jeden sozialen Gedanken aus der<lb/>
Welt getilgt hat. Die große Kapitalbildung, die in wenigen Hunden alle<lb/>
Reichtümer und Mittel gehäuft hat, ist noch ein Jahrhundert ihren Weg weiter<lb/>
gegangen, die Muffen sind im Elend immer jammervoller versklavt, immer<lb/>
tierischer geworden, und dann ist eine Revolution ausgebrochen, die die alte<lb/>
Kultur bis auf den letzten Nest verwischt hat, sodaß, als im Jahre 2398 eine<lb/>
Flotte des in Afrika gegründeten Freilandstaates die deutschen Küsten erreicht,<lb/>
sie nur Trümmer und Wilde vorfindet. Das Büchlein erweist freilich, wie<lb/>
leicht es ist, wenn die Natur der Phantasie keine Schranken setzt, kühne Gegen-<lb/>
fntzbilder zu malen und Licht und Dunkel nach Willkür zu verteilen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1510"> Dennoch muß man diese Art von Traumfresken, mich wo sie viel zu<lb/>
tendenziös lehrhaft sind, um irgend eine politische Wirkung hervorbringen zu<lb/>
können, gewissen Wirklichkeitsschilderungen noch vorziehen. Wie häßlich<lb/>
wirkt zum Beispiel der Roman Zwei Dichter von Carl Eduard Klopfer<lb/>
(Leipzig, Carl Reißner), der das unselige Ende Alfred Meißners, den Konflikt<lb/>
mit Franz Hedrich &#x201E;poetisch" zu verwerten sucht, ohne das psychologische<lb/>
Rätsel, das der &#x201E;Fall Meißner-Hedrich" darbot, irgend glaubhaft lösen zu<lb/>
können. Wie roh und bis zum Ekel peinlich erscheint die Erfindung des<lb/>
&#x201E;Berliner Romans" von Paul Oskar Höcker: Dem Glücke nach (Berlin,<lb/>
Richard Ecksteins Nachfolger). Ein wirklich kenntnisreicher Arzt, Dr. David<lb/>
Rischgvde, und ein Maler Fritz Sponnagel werden hier inmitten des ärmsten<lb/>
Berliner Proletariats vorgeführt, dem sie mit Leib und Seele verpflichtet er¬<lb/>
scheinen. Wenigstens bekommt dem Dr, Nischgode der leidenschaftlich hastige<lb/>
Versuch, sich wieder emporzuarbeiten, schlecht genug, er endet nach einem<lb/>
kurzen Giückstraum als Selbstmörder und ans dem Armenkirchhvf. Der Effekt<lb/>
dieser in ihrer Spannung platt-alltäglichen Berliner Geschichte liegt teils in<lb/>
dem prickelnden Gegensatze, daß so viel Wissen und Können, ja Genie und<lb/>
Arbeitskraft, wie die beiden gebildeten jungen Männer angeblich besitzen, ihnen<lb/>
kaum die armselige Existenz des gedrücktesten Handarbeiters oder Fabrikarbeiters<lb/>
sichern, und in der naturalistischen Schilderung einer Berliner Proletarier-<lb/>
wvhnuug oben am Wedding. Wir wissen, daß das Elend des geistigen Prole¬<lb/>
tariats, von dem Berlin wimmelt, groß ist, aber das Elend sieht anders aus,<lb/>
und der Kampf gegen den Hunger zeigt bei diesem geistigen Proletariat andre,<lb/>
viel ergreifendere Züge, als dies ganz äußerliche, auf den alltäglichen Erfolg<lb/>
gestellte Gebilde ahnen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1511" next="#ID_1512"> Doch wohin geraten wir? Wir sind dem Gebiet des Leihbibliotheks¬<lb/>
und Kolportagervmans schon hübsch nahe gekommen. Bemerkenswert ist es,<lb/>
daß sich auch diese Art Litteratur, die früher ohne große Ausdehnung gar</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0423] Leipzig, Bacmeisters Verlag) lernen wir ein neues Glied der Bellamhfamilie kennen. A. von der Passer dreht den Spieß, mit dem Engen Richter einher¬ schreitet, einfach um, er malt das Geschick Europas, nachdem eine siegreiche Reaktion die Sozialdemokratie besiegt und jeden sozialen Gedanken aus der Welt getilgt hat. Die große Kapitalbildung, die in wenigen Hunden alle Reichtümer und Mittel gehäuft hat, ist noch ein Jahrhundert ihren Weg weiter gegangen, die Muffen sind im Elend immer jammervoller versklavt, immer tierischer geworden, und dann ist eine Revolution ausgebrochen, die die alte Kultur bis auf den letzten Nest verwischt hat, sodaß, als im Jahre 2398 eine Flotte des in Afrika gegründeten Freilandstaates die deutschen Küsten erreicht, sie nur Trümmer und Wilde vorfindet. Das Büchlein erweist freilich, wie leicht es ist, wenn die Natur der Phantasie keine Schranken setzt, kühne Gegen- fntzbilder zu malen und Licht und Dunkel nach Willkür zu verteilen. Dennoch muß man diese Art von Traumfresken, mich wo sie viel zu tendenziös lehrhaft sind, um irgend eine politische Wirkung hervorbringen zu können, gewissen Wirklichkeitsschilderungen noch vorziehen. Wie häßlich wirkt zum Beispiel der Roman Zwei Dichter von Carl Eduard Klopfer (Leipzig, Carl Reißner), der das unselige Ende Alfred Meißners, den Konflikt mit Franz Hedrich „poetisch" zu verwerten sucht, ohne das psychologische Rätsel, das der „Fall Meißner-Hedrich" darbot, irgend glaubhaft lösen zu können. Wie roh und bis zum Ekel peinlich erscheint die Erfindung des „Berliner Romans" von Paul Oskar Höcker: Dem Glücke nach (Berlin, Richard Ecksteins Nachfolger). Ein wirklich kenntnisreicher Arzt, Dr. David Rischgvde, und ein Maler Fritz Sponnagel werden hier inmitten des ärmsten Berliner Proletariats vorgeführt, dem sie mit Leib und Seele verpflichtet er¬ scheinen. Wenigstens bekommt dem Dr, Nischgode der leidenschaftlich hastige Versuch, sich wieder emporzuarbeiten, schlecht genug, er endet nach einem kurzen Giückstraum als Selbstmörder und ans dem Armenkirchhvf. Der Effekt dieser in ihrer Spannung platt-alltäglichen Berliner Geschichte liegt teils in dem prickelnden Gegensatze, daß so viel Wissen und Können, ja Genie und Arbeitskraft, wie die beiden gebildeten jungen Männer angeblich besitzen, ihnen kaum die armselige Existenz des gedrücktesten Handarbeiters oder Fabrikarbeiters sichern, und in der naturalistischen Schilderung einer Berliner Proletarier- wvhnuug oben am Wedding. Wir wissen, daß das Elend des geistigen Prole¬ tariats, von dem Berlin wimmelt, groß ist, aber das Elend sieht anders aus, und der Kampf gegen den Hunger zeigt bei diesem geistigen Proletariat andre, viel ergreifendere Züge, als dies ganz äußerliche, auf den alltäglichen Erfolg gestellte Gebilde ahnen läßt. Doch wohin geraten wir? Wir sind dem Gebiet des Leihbibliotheks¬ und Kolportagervmans schon hübsch nahe gekommen. Bemerkenswert ist es, daß sich auch diese Art Litteratur, die früher ohne große Ausdehnung gar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/423
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/423>, abgerufen am 01.09.2024.