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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Dissentcrgemeinde übernehmen konnte. Auch andre praktische Erfolge blieben
nicht aus. Wahrend der im Herbst 1849 in England wütenden Cholera eilten
die christlichen Sozialisten sofort den Arbeitern zur Hilfe und suchten durch
praktische Maßregeln der Seuche entgegenzuwirken. Sie gewannen dadurch mit
einem Schlage das Vertrauen der untern Volksschichten.

Es trat aber noch ein andres Ereignis hinzu, das zur Verbreitung ihrer
Grundsätze mitwirkte. Ju der Zeitung I'Ire Norning' Llbronivlö waren im De¬
zember 1849 entsetzenerregende Schilderungen von dein Elend nnter den Lon¬
doner Schneidergesellen erschienen. Das Sweatersystcm der Afterunternehmer,
die den Arbeitern mit einem Hungerlohn den Schweiß (s>vög.t) austreiben, um
durch unglaublich billige Preise jede Konkurrenz tot zu machen und alle Käufer
nach ihren "licnv-sliops zu ziehen, hatte einen ganz gefährlichen Umfang an¬
genommen. Selbst die englische Bibelgesellschaft arbeitete mit dem Schwitzer¬
system, sodaß die armen Mädchen, die die Bibeln einzubinden hatten, ihren
Lebensunterhalt nebenbei nur durch die Prostitution finden konnten. Die in
verpesteten Höhlen angefertigten billigen Kleidungsstücke hatten wiederholt an¬
steckende Krankheiten. Schwindsucht, Scharlach, Blattern n. s. w. bis in die
höchsten Kreise verschleppt, eine Folge der Geldgier der Unternehmer. Dagegen
mußte einmal rücksichtslos zu Felde gezogen werden. '

Unter dein angenommenen Namen Parson Lot schrieb Kingsley im Jahre
1850 seine Broschüre: dluZÄx <Ac)t1is8 -ruck ^lilsty, Billige Kleider und ekel¬
hafte. "König Ryenee, so beginnt Pfarrer Lot, trug nach der Legende vom
Prinzen Arthur einen Überrock, besetzt mit den Bärten von Königen. In der
ersten französischen Revolution, so versichert uns Cnrlyle, gab es zu Meudon
Gerbereien für Menschenhand. Mammon, gleichzeitig Tyrann und Revolutionär,
folgt diesen beiden edeln Beispielen -- in einer ehrbaren Weise unzweifelhaft,
denn Mammon haßt Grausamkeit. Körperliche Pein ist ihm der Teufel, das
schlimmste aller Übel, das er sich in seiner Verweichlichung vorstellen kann.
So schreit er voll Mitleid auf, wenn ein besoffner Soldat gepeitscht wird,
aber er besetzt seine Überröcke und schmückt seine Beine mit dem Fleisch von
Männern und der Haut von Weibern, mit Entehrung, Seuchen, Heidentum
und Berzweiflnng, und dann schmunzelt er voll Behagen über die Kleinheit
seiner Schneiderrechnung. Heuchler! der du Mücken selbest und Kamele ver¬
schluckst! Was ist Peitschen und Hängen, was der Überrock des König Ryenee
oder die Gerbereien von Meudon verglichen mit der Sklaverei, dem Verhungern,
der Aufreibung des Lebens, der jahrelangen Gefangenschaft in Höhlen, die
enger und schmutziger als die der Inquisition sind, und worin Tausende von
englischen Arbeitern leben!" Die Schrift erregte einen Sturm der Entrüstung.
Man wurde von dem Elend ergriffen, und alle Welt sammelte zur eignen Be¬
ruhigung Almosen für die armen Schneider, ohne zu bedeuten, daß ein ganzes
falsches System nicht durch Geldspenden beseitigt werden kann.


Dissentcrgemeinde übernehmen konnte. Auch andre praktische Erfolge blieben
nicht aus. Wahrend der im Herbst 1849 in England wütenden Cholera eilten
die christlichen Sozialisten sofort den Arbeitern zur Hilfe und suchten durch
praktische Maßregeln der Seuche entgegenzuwirken. Sie gewannen dadurch mit
einem Schlage das Vertrauen der untern Volksschichten.

Es trat aber noch ein andres Ereignis hinzu, das zur Verbreitung ihrer
Grundsätze mitwirkte. Ju der Zeitung I'Ire Norning' Llbronivlö waren im De¬
zember 1849 entsetzenerregende Schilderungen von dein Elend nnter den Lon¬
doner Schneidergesellen erschienen. Das Sweatersystcm der Afterunternehmer,
die den Arbeitern mit einem Hungerlohn den Schweiß (s>vög.t) austreiben, um
durch unglaublich billige Preise jede Konkurrenz tot zu machen und alle Käufer
nach ihren »licnv-sliops zu ziehen, hatte einen ganz gefährlichen Umfang an¬
genommen. Selbst die englische Bibelgesellschaft arbeitete mit dem Schwitzer¬
system, sodaß die armen Mädchen, die die Bibeln einzubinden hatten, ihren
Lebensunterhalt nebenbei nur durch die Prostitution finden konnten. Die in
verpesteten Höhlen angefertigten billigen Kleidungsstücke hatten wiederholt an¬
steckende Krankheiten. Schwindsucht, Scharlach, Blattern n. s. w. bis in die
höchsten Kreise verschleppt, eine Folge der Geldgier der Unternehmer. Dagegen
mußte einmal rücksichtslos zu Felde gezogen werden. '

Unter dein angenommenen Namen Parson Lot schrieb Kingsley im Jahre
1850 seine Broschüre: dluZÄx <Ac)t1is8 -ruck ^lilsty, Billige Kleider und ekel¬
hafte. „König Ryenee, so beginnt Pfarrer Lot, trug nach der Legende vom
Prinzen Arthur einen Überrock, besetzt mit den Bärten von Königen. In der
ersten französischen Revolution, so versichert uns Cnrlyle, gab es zu Meudon
Gerbereien für Menschenhand. Mammon, gleichzeitig Tyrann und Revolutionär,
folgt diesen beiden edeln Beispielen — in einer ehrbaren Weise unzweifelhaft,
denn Mammon haßt Grausamkeit. Körperliche Pein ist ihm der Teufel, das
schlimmste aller Übel, das er sich in seiner Verweichlichung vorstellen kann.
So schreit er voll Mitleid auf, wenn ein besoffner Soldat gepeitscht wird,
aber er besetzt seine Überröcke und schmückt seine Beine mit dem Fleisch von
Männern und der Haut von Weibern, mit Entehrung, Seuchen, Heidentum
und Berzweiflnng, und dann schmunzelt er voll Behagen über die Kleinheit
seiner Schneiderrechnung. Heuchler! der du Mücken selbest und Kamele ver¬
schluckst! Was ist Peitschen und Hängen, was der Überrock des König Ryenee
oder die Gerbereien von Meudon verglichen mit der Sklaverei, dem Verhungern,
der Aufreibung des Lebens, der jahrelangen Gefangenschaft in Höhlen, die
enger und schmutziger als die der Inquisition sind, und worin Tausende von
englischen Arbeitern leben!" Die Schrift erregte einen Sturm der Entrüstung.
Man wurde von dem Elend ergriffen, und alle Welt sammelte zur eignen Be¬
ruhigung Almosen für die armen Schneider, ohne zu bedeuten, daß ein ganzes
falsches System nicht durch Geldspenden beseitigt werden kann.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/370>, abgerufen am 28.07.2024.