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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Erziehung

Auch hierin geben wir dem Verfasser vollständig Recht. Wie Herbart,
vielleicht angeregt durch den persönlichen Verkehr mit Schiller, auf die nahe
Verwandtschaft des Schönen und Sittlichen seine allgemeine Ästhetik im Sinne
der Kalokagathie der Griechen gründete, so betrachtet auch Schultze das wahr¬
haft Schöne als Vorstufe zum Guten. Durch das ästhetisch Reine kommen
wir auch dem sittlich Reinen nahe, die Anbetung des Schönen führt zum Gottes¬
dienst des Guten. Aber auch wenn dies nicht so wäre -- und Gegner betonen
ja hänfig, daß sich gerade Künstler durch Frivolität auszeichneten --, so würde
doch die Nötigung bestehen bleiben, in unsre Jugend das ästhetische Interesse
so stark als möglich einzupflanzen. Und zwar aus zwei Gründen. Dem ein¬
zelnen entgeht ein großer und reiner Genuß, der ihm aus den Gebilden der
Kunst zuwächst, wem: er für diese Gebilde ganz verständnislos bleibt; ein so
groszer Genuß, daß, wer ihn gekostet hat, ihn um die Welt nicht hergeben
möchte gegen irgend einen Eindruck, der ihm aus andern Quellen zuwächst.
Wie sehr ist jeder einzelne zu bedauern, dem solche Höhepunkte des Menschen¬
lebens fremd bleiben! Bei dem ästhetischen Genießen wird die Lebendigkeit des
Seelenlebens in einer Weise gesteigert, wie sie kaum von andrer Seite her in
solcher Tiefe hervorgerufen werden kann. Bei der Vertiefung in das Kunst¬
werk sucht der Mensch dieses innerlich zu erfassen; dabei fühlt er, hinaus-
gehoben über die gemeine Wirklichkeit, eine starke Erhöhung und Erweite¬
rung seines geistigen Seins. Seine Seele wird von dieser Freudigkeit ganz
erfüllt. Indem er die Seele des Kunstschöpfers gleichsam in sich aufnehmen
will, um das wahrhafte Große zu erfahren, das die Wirklichkeit überfliegt,
werden die Sinnes- und Geisteskräfte zu erhöhter Thätigkeit gesteigert und be¬
lebt. Und das geschieht ohne merkliche Anstrengung, da sich ja der Mensch
bei Betrachtung des Kunstwerks wesentlich nachsühlend verhält. Alle Teile
unsers Seelenlebens werden mit innerer Befriedigung gleichsam getränkt in der
Ahnung eines unergründlichen, aus vielen Quellen im Kunstwerk zusammen¬
fließenden Reichtums. Wenn uns auch die Fortschritte im Denken mit starken
Lustgefühlen erfüllen, so ist hier die Befriedigung noch eine andre, da der
Genuß des Kunstwerks zugleich unsre Sinne befriedigt und die Seele erweitert.
Und dieser Genuß sollte dem Zögling unsrer Erziehungsschulen fremd bleiben?

Das wäre auch aus einem nationalen Grunde zu bedauern. Für jeden,
der sehen will, ist es offenkundig, daß die Entwicklung des Schönheitssinnes
in nnserm Volke sehr zurückgeblieben ist. Für die Fachschulen hat man diesen
Mangel in den letzten Jahrzehnten durch einen zweckmüßigen Zeichenunterricht
auszugleichen gesucht, aber in den Erziehungsschulen, namentlich im Gym¬
nasium, ist man von dieser Bewegung ganz unberührt geblieben.

Wenn daher der Verfasser schreibt: "Mit richtigem Verständnis ihres
Wertes hat die Schule die Kunst auf einen hohen Thron gesetzt und huldigt
ilr^. wie einer Königin," so können wir dies nur in sehr beschränktem Sinne


Deutsche Erziehung

Auch hierin geben wir dem Verfasser vollständig Recht. Wie Herbart,
vielleicht angeregt durch den persönlichen Verkehr mit Schiller, auf die nahe
Verwandtschaft des Schönen und Sittlichen seine allgemeine Ästhetik im Sinne
der Kalokagathie der Griechen gründete, so betrachtet auch Schultze das wahr¬
haft Schöne als Vorstufe zum Guten. Durch das ästhetisch Reine kommen
wir auch dem sittlich Reinen nahe, die Anbetung des Schönen führt zum Gottes¬
dienst des Guten. Aber auch wenn dies nicht so wäre — und Gegner betonen
ja hänfig, daß sich gerade Künstler durch Frivolität auszeichneten —, so würde
doch die Nötigung bestehen bleiben, in unsre Jugend das ästhetische Interesse
so stark als möglich einzupflanzen. Und zwar aus zwei Gründen. Dem ein¬
zelnen entgeht ein großer und reiner Genuß, der ihm aus den Gebilden der
Kunst zuwächst, wem: er für diese Gebilde ganz verständnislos bleibt; ein so
groszer Genuß, daß, wer ihn gekostet hat, ihn um die Welt nicht hergeben
möchte gegen irgend einen Eindruck, der ihm aus andern Quellen zuwächst.
Wie sehr ist jeder einzelne zu bedauern, dem solche Höhepunkte des Menschen¬
lebens fremd bleiben! Bei dem ästhetischen Genießen wird die Lebendigkeit des
Seelenlebens in einer Weise gesteigert, wie sie kaum von andrer Seite her in
solcher Tiefe hervorgerufen werden kann. Bei der Vertiefung in das Kunst¬
werk sucht der Mensch dieses innerlich zu erfassen; dabei fühlt er, hinaus-
gehoben über die gemeine Wirklichkeit, eine starke Erhöhung und Erweite¬
rung seines geistigen Seins. Seine Seele wird von dieser Freudigkeit ganz
erfüllt. Indem er die Seele des Kunstschöpfers gleichsam in sich aufnehmen
will, um das wahrhafte Große zu erfahren, das die Wirklichkeit überfliegt,
werden die Sinnes- und Geisteskräfte zu erhöhter Thätigkeit gesteigert und be¬
lebt. Und das geschieht ohne merkliche Anstrengung, da sich ja der Mensch
bei Betrachtung des Kunstwerks wesentlich nachsühlend verhält. Alle Teile
unsers Seelenlebens werden mit innerer Befriedigung gleichsam getränkt in der
Ahnung eines unergründlichen, aus vielen Quellen im Kunstwerk zusammen¬
fließenden Reichtums. Wenn uns auch die Fortschritte im Denken mit starken
Lustgefühlen erfüllen, so ist hier die Befriedigung noch eine andre, da der
Genuß des Kunstwerks zugleich unsre Sinne befriedigt und die Seele erweitert.
Und dieser Genuß sollte dem Zögling unsrer Erziehungsschulen fremd bleiben?

Das wäre auch aus einem nationalen Grunde zu bedauern. Für jeden,
der sehen will, ist es offenkundig, daß die Entwicklung des Schönheitssinnes
in nnserm Volke sehr zurückgeblieben ist. Für die Fachschulen hat man diesen
Mangel in den letzten Jahrzehnten durch einen zweckmüßigen Zeichenunterricht
auszugleichen gesucht, aber in den Erziehungsschulen, namentlich im Gym¬
nasium, ist man von dieser Bewegung ganz unberührt geblieben.

Wenn daher der Verfasser schreibt: „Mit richtigem Verständnis ihres
Wertes hat die Schule die Kunst auf einen hohen Thron gesetzt und huldigt
ilr^. wie einer Königin," so können wir dies nur in sehr beschränktem Sinne


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[0036] Deutsche Erziehung Auch hierin geben wir dem Verfasser vollständig Recht. Wie Herbart, vielleicht angeregt durch den persönlichen Verkehr mit Schiller, auf die nahe Verwandtschaft des Schönen und Sittlichen seine allgemeine Ästhetik im Sinne der Kalokagathie der Griechen gründete, so betrachtet auch Schultze das wahr¬ haft Schöne als Vorstufe zum Guten. Durch das ästhetisch Reine kommen wir auch dem sittlich Reinen nahe, die Anbetung des Schönen führt zum Gottes¬ dienst des Guten. Aber auch wenn dies nicht so wäre — und Gegner betonen ja hänfig, daß sich gerade Künstler durch Frivolität auszeichneten —, so würde doch die Nötigung bestehen bleiben, in unsre Jugend das ästhetische Interesse so stark als möglich einzupflanzen. Und zwar aus zwei Gründen. Dem ein¬ zelnen entgeht ein großer und reiner Genuß, der ihm aus den Gebilden der Kunst zuwächst, wem: er für diese Gebilde ganz verständnislos bleibt; ein so groszer Genuß, daß, wer ihn gekostet hat, ihn um die Welt nicht hergeben möchte gegen irgend einen Eindruck, der ihm aus andern Quellen zuwächst. Wie sehr ist jeder einzelne zu bedauern, dem solche Höhepunkte des Menschen¬ lebens fremd bleiben! Bei dem ästhetischen Genießen wird die Lebendigkeit des Seelenlebens in einer Weise gesteigert, wie sie kaum von andrer Seite her in solcher Tiefe hervorgerufen werden kann. Bei der Vertiefung in das Kunst¬ werk sucht der Mensch dieses innerlich zu erfassen; dabei fühlt er, hinaus- gehoben über die gemeine Wirklichkeit, eine starke Erhöhung und Erweite¬ rung seines geistigen Seins. Seine Seele wird von dieser Freudigkeit ganz erfüllt. Indem er die Seele des Kunstschöpfers gleichsam in sich aufnehmen will, um das wahrhafte Große zu erfahren, das die Wirklichkeit überfliegt, werden die Sinnes- und Geisteskräfte zu erhöhter Thätigkeit gesteigert und be¬ lebt. Und das geschieht ohne merkliche Anstrengung, da sich ja der Mensch bei Betrachtung des Kunstwerks wesentlich nachsühlend verhält. Alle Teile unsers Seelenlebens werden mit innerer Befriedigung gleichsam getränkt in der Ahnung eines unergründlichen, aus vielen Quellen im Kunstwerk zusammen¬ fließenden Reichtums. Wenn uns auch die Fortschritte im Denken mit starken Lustgefühlen erfüllen, so ist hier die Befriedigung noch eine andre, da der Genuß des Kunstwerks zugleich unsre Sinne befriedigt und die Seele erweitert. Und dieser Genuß sollte dem Zögling unsrer Erziehungsschulen fremd bleiben? Das wäre auch aus einem nationalen Grunde zu bedauern. Für jeden, der sehen will, ist es offenkundig, daß die Entwicklung des Schönheitssinnes in nnserm Volke sehr zurückgeblieben ist. Für die Fachschulen hat man diesen Mangel in den letzten Jahrzehnten durch einen zweckmüßigen Zeichenunterricht auszugleichen gesucht, aber in den Erziehungsschulen, namentlich im Gym¬ nasium, ist man von dieser Bewegung ganz unberührt geblieben. Wenn daher der Verfasser schreibt: „Mit richtigem Verständnis ihres Wertes hat die Schule die Kunst auf einen hohen Thron gesetzt und huldigt ilr^. wie einer Königin," so können wir dies nur in sehr beschränktem Sinne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/36>, abgerufen am 23.11.2024.