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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die Lehren der jüngsten Vergangenheit

Partei stellt in jedem Wahlkreis ihre Kandidaten auf. Es gilt gar nicht
mehr als die Aufgabe, einen dem Wahlkreise bekannten würdigen Mann zu
finden. Wildfremde Meuschen, die niemand im Wahlkreise kennt, wagen zu
kandidiren, wenn sie nnr von einer Parteileitung empfohlen sind. Sie reisen
im Kreise umher, pauken ihre Wahlreden herunter und gelten dann als die
Vertrauensmänner des Kreises. Unter Umständen werden die ärgsten Lumpen¬
kerle aufgestellt, deren Verdienst nur darin besteht, daß sie sich zu einer be¬
stimmten Partei bekennen und ein freches Maul haben. Überall aber muß
sich der Kandidat den Wählern empfehlen und vor ihnen seinen Bückling
machen. Das verlangt das souveräne Volk. Einem Manne, der etwas auf
sich hält, wird es dadurch fast unmöglich, überhaupt noch als Bewerber für
den Reichstag aufzutreten.

Aus dem Chaos des Wahlkampfs gehen aber vielfach nur Minderheits¬
wahlen hervor, und dann kommt es zur Stichwahl. Dabei wiederholt sich
das ganze widerwärtige Schauspiel. Es gilt nicht bloß die Stimmen einzelner,
sondern ganzer Parteien zu gewinnen; dabei wird gefeilscht und gemäkelt, ge¬
logen und betrogen. Schließlich geht, wie der Zufall spielt, ein Kandidat
aus der Wahlurne hervor. Schon bei den Mehrheitswahlen werden überall
die Minderheiten tvtgestimmt. Der bei einer Stichwahl gewählte ist aber
in Wahrheit nur der Erwählte einer Minderheit. Die bei der Stichwahl
hinzugetretnen Wühler lassen sich ihn nur als das kleinere Übel gefallen.

So kommt denn nun ein Reichstag zu stände. Es wäre lächerlich,
wollte mau in ihm eine wahre Vertretung Deutschlands seiner geistigen Be¬
deutung nach erkennen. Gerade die bessern Elemente des Volks gehören nur
allzu häufig zu den totgestimmten Minderheiten. In Berlin ist unzweifelhaft
eine große Summe geistiger Intelligenz angesammelt. Und wer sind die Ver¬
treter dieser Stadt? Fünf Sozialdemokratin und ein unbedeutender Fort¬
schrittsmann! In Hamburg hat der reichste und bedeutendste Handelsstand
Deutschlands seinen Sitz. Wen muß er als seine Vertreter gelten lassen?
Drei Sozialdemokraten! Ist das nicht die Knrrikatur einer Vertretung? Und
so ist es sast in allen großen Städten. Nur in geringern Wahlkreisen, die
von dem demagogischen Treiben noch minder dnrchseucht sind, dringt hie und
da ein Stück Intelligenz zum Reichstage durch. Aber welche Kämpfe kostet
das, welch ein Ringen mit den schlechtesten Elementen des Volkslebens! An
manchen Orten hat sich vielleicht von früherer Zeit her ein angesehener Mann
die Stimmen der Wähler zu erhalten gewußt. Scheidet er aus, so tritt der
bedenklichste Kandidat an seine Stelle. Auch ist es eine merkwürdige Er¬
scheinung, daß seit der Zeit, seit der mau den Niedergang des Reichstags
rechnen kann, nicht ein einziges hervorragendes parlamentarisches Talent neu
erschienen ist.

Infolge der demütigen Stellung, die die Kandidaten bei der Wahl ein-


Die Lehren der jüngsten Vergangenheit

Partei stellt in jedem Wahlkreis ihre Kandidaten auf. Es gilt gar nicht
mehr als die Aufgabe, einen dem Wahlkreise bekannten würdigen Mann zu
finden. Wildfremde Meuschen, die niemand im Wahlkreise kennt, wagen zu
kandidiren, wenn sie nnr von einer Parteileitung empfohlen sind. Sie reisen
im Kreise umher, pauken ihre Wahlreden herunter und gelten dann als die
Vertrauensmänner des Kreises. Unter Umständen werden die ärgsten Lumpen¬
kerle aufgestellt, deren Verdienst nur darin besteht, daß sie sich zu einer be¬
stimmten Partei bekennen und ein freches Maul haben. Überall aber muß
sich der Kandidat den Wählern empfehlen und vor ihnen seinen Bückling
machen. Das verlangt das souveräne Volk. Einem Manne, der etwas auf
sich hält, wird es dadurch fast unmöglich, überhaupt noch als Bewerber für
den Reichstag aufzutreten.

Aus dem Chaos des Wahlkampfs gehen aber vielfach nur Minderheits¬
wahlen hervor, und dann kommt es zur Stichwahl. Dabei wiederholt sich
das ganze widerwärtige Schauspiel. Es gilt nicht bloß die Stimmen einzelner,
sondern ganzer Parteien zu gewinnen; dabei wird gefeilscht und gemäkelt, ge¬
logen und betrogen. Schließlich geht, wie der Zufall spielt, ein Kandidat
aus der Wahlurne hervor. Schon bei den Mehrheitswahlen werden überall
die Minderheiten tvtgestimmt. Der bei einer Stichwahl gewählte ist aber
in Wahrheit nur der Erwählte einer Minderheit. Die bei der Stichwahl
hinzugetretnen Wühler lassen sich ihn nur als das kleinere Übel gefallen.

So kommt denn nun ein Reichstag zu stände. Es wäre lächerlich,
wollte mau in ihm eine wahre Vertretung Deutschlands seiner geistigen Be¬
deutung nach erkennen. Gerade die bessern Elemente des Volks gehören nur
allzu häufig zu den totgestimmten Minderheiten. In Berlin ist unzweifelhaft
eine große Summe geistiger Intelligenz angesammelt. Und wer sind die Ver¬
treter dieser Stadt? Fünf Sozialdemokratin und ein unbedeutender Fort¬
schrittsmann! In Hamburg hat der reichste und bedeutendste Handelsstand
Deutschlands seinen Sitz. Wen muß er als seine Vertreter gelten lassen?
Drei Sozialdemokraten! Ist das nicht die Knrrikatur einer Vertretung? Und
so ist es sast in allen großen Städten. Nur in geringern Wahlkreisen, die
von dem demagogischen Treiben noch minder dnrchseucht sind, dringt hie und
da ein Stück Intelligenz zum Reichstage durch. Aber welche Kämpfe kostet
das, welch ein Ringen mit den schlechtesten Elementen des Volkslebens! An
manchen Orten hat sich vielleicht von früherer Zeit her ein angesehener Mann
die Stimmen der Wähler zu erhalten gewußt. Scheidet er aus, so tritt der
bedenklichste Kandidat an seine Stelle. Auch ist es eine merkwürdige Er¬
scheinung, daß seit der Zeit, seit der mau den Niedergang des Reichstags
rechnen kann, nicht ein einziges hervorragendes parlamentarisches Talent neu
erschienen ist.

Infolge der demütigen Stellung, die die Kandidaten bei der Wahl ein-


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[0347] Die Lehren der jüngsten Vergangenheit Partei stellt in jedem Wahlkreis ihre Kandidaten auf. Es gilt gar nicht mehr als die Aufgabe, einen dem Wahlkreise bekannten würdigen Mann zu finden. Wildfremde Meuschen, die niemand im Wahlkreise kennt, wagen zu kandidiren, wenn sie nnr von einer Parteileitung empfohlen sind. Sie reisen im Kreise umher, pauken ihre Wahlreden herunter und gelten dann als die Vertrauensmänner des Kreises. Unter Umständen werden die ärgsten Lumpen¬ kerle aufgestellt, deren Verdienst nur darin besteht, daß sie sich zu einer be¬ stimmten Partei bekennen und ein freches Maul haben. Überall aber muß sich der Kandidat den Wählern empfehlen und vor ihnen seinen Bückling machen. Das verlangt das souveräne Volk. Einem Manne, der etwas auf sich hält, wird es dadurch fast unmöglich, überhaupt noch als Bewerber für den Reichstag aufzutreten. Aus dem Chaos des Wahlkampfs gehen aber vielfach nur Minderheits¬ wahlen hervor, und dann kommt es zur Stichwahl. Dabei wiederholt sich das ganze widerwärtige Schauspiel. Es gilt nicht bloß die Stimmen einzelner, sondern ganzer Parteien zu gewinnen; dabei wird gefeilscht und gemäkelt, ge¬ logen und betrogen. Schließlich geht, wie der Zufall spielt, ein Kandidat aus der Wahlurne hervor. Schon bei den Mehrheitswahlen werden überall die Minderheiten tvtgestimmt. Der bei einer Stichwahl gewählte ist aber in Wahrheit nur der Erwählte einer Minderheit. Die bei der Stichwahl hinzugetretnen Wühler lassen sich ihn nur als das kleinere Übel gefallen. So kommt denn nun ein Reichstag zu stände. Es wäre lächerlich, wollte mau in ihm eine wahre Vertretung Deutschlands seiner geistigen Be¬ deutung nach erkennen. Gerade die bessern Elemente des Volks gehören nur allzu häufig zu den totgestimmten Minderheiten. In Berlin ist unzweifelhaft eine große Summe geistiger Intelligenz angesammelt. Und wer sind die Ver¬ treter dieser Stadt? Fünf Sozialdemokratin und ein unbedeutender Fort¬ schrittsmann! In Hamburg hat der reichste und bedeutendste Handelsstand Deutschlands seinen Sitz. Wen muß er als seine Vertreter gelten lassen? Drei Sozialdemokraten! Ist das nicht die Knrrikatur einer Vertretung? Und so ist es sast in allen großen Städten. Nur in geringern Wahlkreisen, die von dem demagogischen Treiben noch minder dnrchseucht sind, dringt hie und da ein Stück Intelligenz zum Reichstage durch. Aber welche Kämpfe kostet das, welch ein Ringen mit den schlechtesten Elementen des Volkslebens! An manchen Orten hat sich vielleicht von früherer Zeit her ein angesehener Mann die Stimmen der Wähler zu erhalten gewußt. Scheidet er aus, so tritt der bedenklichste Kandidat an seine Stelle. Auch ist es eine merkwürdige Er¬ scheinung, daß seit der Zeit, seit der mau den Niedergang des Reichstags rechnen kann, nicht ein einziges hervorragendes parlamentarisches Talent neu erschienen ist. Infolge der demütigen Stellung, die die Kandidaten bei der Wahl ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/347>, abgerufen am 23.11.2024.