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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die Lehren der jüngsten Vergangenheit

zu befürchten brauchten. Ist es nun aber denkbar, daß gerade alle Mitglieder
des Zentrums, der Volksparteien und der sozialdemokratischen Partei wirklich
diese Ansichten gehegt haben? Es wäre ein sonderbarer Zufall.

Nun sagt man freilich: die Wahlen haben gezeigt, daß ein sehr großer
Teil des deutschen Volkes die Militärvorlagc nicht will. Es wird sogar
behauptet, daß die bei der Wahl für Gegner der Militärvorlagc abgegebnen
Stimmen die Mehrzahl bildeten. Wer ist denn nun aber das "deutsche Volk,"
das diese Stimmen abgegeben hat? Es sind die bethörten Massen, die, aller
selbständigen politischen Einsicht bar, jedem demagogischen Einflüsse zugänglich
sind. Seit Jahren sind sie bearbeitet von Demagogen, die lediglich ihr Partei¬
interesse vor Augen haben und in dessen Verfolgung selbst die heiligsten In¬
teressen des Vaterlandes aufs Spiel zu setzen bereit sind.

Durch das allgemeine gleiche Stimmrecht sind diese Massen Herren der
Lage geworden. Sie können zwar, so lange noch die Regierungen das Heft
in den Händen haben, noch nicht alles, was sie (oder vielmehr ihre Führer)
wollen, positiv durchsetzen. Aber sie können schon jetzt dadurch, daß sie die
Reichstagswahlen bestimmen, überall hindernd in den Weg treten, selbst bei
Dingen, die für Deutschland so nötig sind, wie das liebe Brot. Die von der
Sozialdemokratie in Aussicht gestellte Diktatur des Proletariats ist also, bis
zu einem gewissen Grade, schon jetzt bei uns ins Leben getreten. Gegen diese
Massenherrschaft kann der gebildete Teil der Nation, der doch wohl auch
einigen Anspruch auf Einfluß in den öffentlichen Dingen hätte, kaum noch
aufkommen.

Nicht von Anfang an hat das allgemeine gleiche Stimmrecht diese Wirkung
gehabt. Man hat erst nach und nach gelernt, was sich damit anfangen läßt.
Vergleichen wir einmal den Reichstag, wie er ursprünglich war, und wie er
im Laufe der Zeit geworden ist. Ohne Zweifel liegt dem auf einzelne Kreise
verteilten Wahlrecht der Gedanke zu Grunde, daß jeder Kreis den besten ihm
bekannten Mann erwählen soll, um bei der Ordnung der öffentlichen Ange¬
legenheiten mitzuwirken. Diesem Ideal entsprach auch, wenigstens annähernd,
der Reichstag in der ersten Zeit seines Bestandes. Es war eine geistig vor¬
nehme Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, und die beste" Namen waren
in ihr vertreten. Jeder Wahlkreis hielt es noch für seine Pflicht, eine an¬
ständige Persönlichkeit zu entsenden. Auch eine Wahlagitation im heutigen
Sinne gab es noch nicht. In vielen Wahlkreisen war der einzige aufgestellte
Kandidat gnr nicht bestritten. Aber auch wo ein Wettbewerb vorkam, traten
doch nur wenige Kandidaten auf. Es war noch nicht Mode, daß der Kandidat
im Kreise herumreiste, um sich die Gunst der Wähler zu erbetteln, daß er
alles mögliche versprach, um nur ein paar Stimmen zu fangen. Zu Stich¬
wahlen kam es nur selten.

Wie ist das alles anders geworden! Fast jede im Reichstage vertretne


Die Lehren der jüngsten Vergangenheit

zu befürchten brauchten. Ist es nun aber denkbar, daß gerade alle Mitglieder
des Zentrums, der Volksparteien und der sozialdemokratischen Partei wirklich
diese Ansichten gehegt haben? Es wäre ein sonderbarer Zufall.

Nun sagt man freilich: die Wahlen haben gezeigt, daß ein sehr großer
Teil des deutschen Volkes die Militärvorlagc nicht will. Es wird sogar
behauptet, daß die bei der Wahl für Gegner der Militärvorlagc abgegebnen
Stimmen die Mehrzahl bildeten. Wer ist denn nun aber das „deutsche Volk,"
das diese Stimmen abgegeben hat? Es sind die bethörten Massen, die, aller
selbständigen politischen Einsicht bar, jedem demagogischen Einflüsse zugänglich
sind. Seit Jahren sind sie bearbeitet von Demagogen, die lediglich ihr Partei¬
interesse vor Augen haben und in dessen Verfolgung selbst die heiligsten In¬
teressen des Vaterlandes aufs Spiel zu setzen bereit sind.

Durch das allgemeine gleiche Stimmrecht sind diese Massen Herren der
Lage geworden. Sie können zwar, so lange noch die Regierungen das Heft
in den Händen haben, noch nicht alles, was sie (oder vielmehr ihre Führer)
wollen, positiv durchsetzen. Aber sie können schon jetzt dadurch, daß sie die
Reichstagswahlen bestimmen, überall hindernd in den Weg treten, selbst bei
Dingen, die für Deutschland so nötig sind, wie das liebe Brot. Die von der
Sozialdemokratie in Aussicht gestellte Diktatur des Proletariats ist also, bis
zu einem gewissen Grade, schon jetzt bei uns ins Leben getreten. Gegen diese
Massenherrschaft kann der gebildete Teil der Nation, der doch wohl auch
einigen Anspruch auf Einfluß in den öffentlichen Dingen hätte, kaum noch
aufkommen.

Nicht von Anfang an hat das allgemeine gleiche Stimmrecht diese Wirkung
gehabt. Man hat erst nach und nach gelernt, was sich damit anfangen läßt.
Vergleichen wir einmal den Reichstag, wie er ursprünglich war, und wie er
im Laufe der Zeit geworden ist. Ohne Zweifel liegt dem auf einzelne Kreise
verteilten Wahlrecht der Gedanke zu Grunde, daß jeder Kreis den besten ihm
bekannten Mann erwählen soll, um bei der Ordnung der öffentlichen Ange¬
legenheiten mitzuwirken. Diesem Ideal entsprach auch, wenigstens annähernd,
der Reichstag in der ersten Zeit seines Bestandes. Es war eine geistig vor¬
nehme Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, und die beste» Namen waren
in ihr vertreten. Jeder Wahlkreis hielt es noch für seine Pflicht, eine an¬
ständige Persönlichkeit zu entsenden. Auch eine Wahlagitation im heutigen
Sinne gab es noch nicht. In vielen Wahlkreisen war der einzige aufgestellte
Kandidat gnr nicht bestritten. Aber auch wo ein Wettbewerb vorkam, traten
doch nur wenige Kandidaten auf. Es war noch nicht Mode, daß der Kandidat
im Kreise herumreiste, um sich die Gunst der Wähler zu erbetteln, daß er
alles mögliche versprach, um nur ein paar Stimmen zu fangen. Zu Stich¬
wahlen kam es nur selten.

Wie ist das alles anders geworden! Fast jede im Reichstage vertretne


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[0346] Die Lehren der jüngsten Vergangenheit zu befürchten brauchten. Ist es nun aber denkbar, daß gerade alle Mitglieder des Zentrums, der Volksparteien und der sozialdemokratischen Partei wirklich diese Ansichten gehegt haben? Es wäre ein sonderbarer Zufall. Nun sagt man freilich: die Wahlen haben gezeigt, daß ein sehr großer Teil des deutschen Volkes die Militärvorlagc nicht will. Es wird sogar behauptet, daß die bei der Wahl für Gegner der Militärvorlagc abgegebnen Stimmen die Mehrzahl bildeten. Wer ist denn nun aber das „deutsche Volk," das diese Stimmen abgegeben hat? Es sind die bethörten Massen, die, aller selbständigen politischen Einsicht bar, jedem demagogischen Einflüsse zugänglich sind. Seit Jahren sind sie bearbeitet von Demagogen, die lediglich ihr Partei¬ interesse vor Augen haben und in dessen Verfolgung selbst die heiligsten In¬ teressen des Vaterlandes aufs Spiel zu setzen bereit sind. Durch das allgemeine gleiche Stimmrecht sind diese Massen Herren der Lage geworden. Sie können zwar, so lange noch die Regierungen das Heft in den Händen haben, noch nicht alles, was sie (oder vielmehr ihre Führer) wollen, positiv durchsetzen. Aber sie können schon jetzt dadurch, daß sie die Reichstagswahlen bestimmen, überall hindernd in den Weg treten, selbst bei Dingen, die für Deutschland so nötig sind, wie das liebe Brot. Die von der Sozialdemokratie in Aussicht gestellte Diktatur des Proletariats ist also, bis zu einem gewissen Grade, schon jetzt bei uns ins Leben getreten. Gegen diese Massenherrschaft kann der gebildete Teil der Nation, der doch wohl auch einigen Anspruch auf Einfluß in den öffentlichen Dingen hätte, kaum noch aufkommen. Nicht von Anfang an hat das allgemeine gleiche Stimmrecht diese Wirkung gehabt. Man hat erst nach und nach gelernt, was sich damit anfangen läßt. Vergleichen wir einmal den Reichstag, wie er ursprünglich war, und wie er im Laufe der Zeit geworden ist. Ohne Zweifel liegt dem auf einzelne Kreise verteilten Wahlrecht der Gedanke zu Grunde, daß jeder Kreis den besten ihm bekannten Mann erwählen soll, um bei der Ordnung der öffentlichen Ange¬ legenheiten mitzuwirken. Diesem Ideal entsprach auch, wenigstens annähernd, der Reichstag in der ersten Zeit seines Bestandes. Es war eine geistig vor¬ nehme Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, und die beste» Namen waren in ihr vertreten. Jeder Wahlkreis hielt es noch für seine Pflicht, eine an¬ ständige Persönlichkeit zu entsenden. Auch eine Wahlagitation im heutigen Sinne gab es noch nicht. In vielen Wahlkreisen war der einzige aufgestellte Kandidat gnr nicht bestritten. Aber auch wo ein Wettbewerb vorkam, traten doch nur wenige Kandidaten auf. Es war noch nicht Mode, daß der Kandidat im Kreise herumreiste, um sich die Gunst der Wähler zu erbetteln, daß er alles mögliche versprach, um nur ein paar Stimmen zu fangen. Zu Stich¬ wahlen kam es nur selten. Wie ist das alles anders geworden! Fast jede im Reichstage vertretne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/346>, abgerufen am 01.09.2024.