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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

Wer seine Kenntnis davon aus den heiligen Schriften der brahmanischen
Litteratur schöpft und die zweihundert Millionen Hindu in vier große
Kasten geordnet glaubt, dem könnte es freilich scheinen, als ob jede diese
Kasteueintciluug eine großartige, die ganze Bevölkerung der Halbinsel um¬
fassende und gewissermaßen doch einigende Organisation sei. Aber die Be¬
obachtung der Thatsachen zeigt gerade das Gegenteil. Das Kastenwesen in
seiner heutigen Form ist die Ursache, der Ausdruck und die Folge der un¬
glaublichen gesellschaftlichen Zersplitterung Indiens. Die alte, in dem großen
Gesetzbuch des Mann beschriebne Einteilung in Brahmanen, Kschatrijas, Waisjas
und Sudras ist, wen" sie überhaupt jemals anders als auf dem Papier brah-
manischer Systeme bestanden hat, heute jedenfalls gänzlich verwischt. An ihrer
Stelle sehen wir ein aller Beschreibung spottendes Gewirr von Kasten und
Untertasten. Trotz zweier Volkszählungen ist es uoch nicht gelungen, ihre
wirkliche Zahl zu ermitteln. Einer der gründlichsten Forscher auf diesem Ge¬
biete, I)r. Wilson, brachte sein großes Werk über Kasten vor seinem Tode bis
auf 678 Seiten, ohne auch uur die Kaste der Brahmanen vollständig ge¬
schildert zu haben. Ein andrer, Mr. Sherring, teilt die Brahmanen in nicht
weniger als 1886 Kasten und Unterkasten, die sich im Laufe der Zeit durch
Rassenuntcrschiede, verschiedenartige erbliche Beschäftigung, besondre religiöse
Gemeinschaft oder getrennten Wohnsitz gebildet haben. Eine ausreichende Be¬
schreibung der niedern Kasten würde viele Bände füllen. Im allgemeinen
bildet jeder Beruf, jedes Gewerbe, jede Gilde, jeder Stamm, jede Klasse, jede
Sekte an jedem besondern Ort eine eigne Kaste; "und die Mitglieder einer
solche" haben nicht nur einen besondern Gegenstand der Anbetung aus dem
Hindupanthevn ausgewählt oder darin aufgenommen, sondern sie essen und
heiraten ausschließlich unter einander." Als in den indischen Zuchthäusern im
Jahre 1856 das System einer gemeinschaftlichen Küche eingeführt werden sollte,
gab die Neuerung zu so vielen ernstlichen Unruhen Anlaß, daß die Regierung
davon abstehen mußte. Es ist durchaus kein seltner Fall, daß ein Sträfling
der Brahmanenkaste lieber verhungert, als die von einem andern Brahmanen
zubereitete Speise zu genießen, weil er seinen eignen Geburtsplatz für einige
Grade heiliger hält, als deu des andern. So zerfällt die Bevölkerung Indiens
in eine ungeheure Anzahl selbständiger, fest organisirter, streng geschiedner und
schroff einander gegenüberstehender sozialer Gruppen.

Zum Schluß dürfte es wohl nicht überflüssig sein, darauf aufmerksam
zu machen, daß es anch den sogenannten "Eingebornen-Staaten" an jener
innern Einheit und Zusammengehörigkeit fehlt, die wir in der Gesamtbevöl-
kerung Indiens vergebens gesucht haben. Sie unterscheiden sich ihrer innern
Znsammensetzung nach in nichts von den verschiednen Provinzen des cmglo-
indischen Reichs. Es ist sehr zu beklagen, daß man für diese Staaten so
höchst ungeeignete Namen erfunden hat. Gewöhnlich Hort mau sie "Auad-


Indische Zustände

Wer seine Kenntnis davon aus den heiligen Schriften der brahmanischen
Litteratur schöpft und die zweihundert Millionen Hindu in vier große
Kasten geordnet glaubt, dem könnte es freilich scheinen, als ob jede diese
Kasteueintciluug eine großartige, die ganze Bevölkerung der Halbinsel um¬
fassende und gewissermaßen doch einigende Organisation sei. Aber die Be¬
obachtung der Thatsachen zeigt gerade das Gegenteil. Das Kastenwesen in
seiner heutigen Form ist die Ursache, der Ausdruck und die Folge der un¬
glaublichen gesellschaftlichen Zersplitterung Indiens. Die alte, in dem großen
Gesetzbuch des Mann beschriebne Einteilung in Brahmanen, Kschatrijas, Waisjas
und Sudras ist, wen» sie überhaupt jemals anders als auf dem Papier brah-
manischer Systeme bestanden hat, heute jedenfalls gänzlich verwischt. An ihrer
Stelle sehen wir ein aller Beschreibung spottendes Gewirr von Kasten und
Untertasten. Trotz zweier Volkszählungen ist es uoch nicht gelungen, ihre
wirkliche Zahl zu ermitteln. Einer der gründlichsten Forscher auf diesem Ge¬
biete, I)r. Wilson, brachte sein großes Werk über Kasten vor seinem Tode bis
auf 678 Seiten, ohne auch uur die Kaste der Brahmanen vollständig ge¬
schildert zu haben. Ein andrer, Mr. Sherring, teilt die Brahmanen in nicht
weniger als 1886 Kasten und Unterkasten, die sich im Laufe der Zeit durch
Rassenuntcrschiede, verschiedenartige erbliche Beschäftigung, besondre religiöse
Gemeinschaft oder getrennten Wohnsitz gebildet haben. Eine ausreichende Be¬
schreibung der niedern Kasten würde viele Bände füllen. Im allgemeinen
bildet jeder Beruf, jedes Gewerbe, jede Gilde, jeder Stamm, jede Klasse, jede
Sekte an jedem besondern Ort eine eigne Kaste; „und die Mitglieder einer
solche» haben nicht nur einen besondern Gegenstand der Anbetung aus dem
Hindupanthevn ausgewählt oder darin aufgenommen, sondern sie essen und
heiraten ausschließlich unter einander." Als in den indischen Zuchthäusern im
Jahre 1856 das System einer gemeinschaftlichen Küche eingeführt werden sollte,
gab die Neuerung zu so vielen ernstlichen Unruhen Anlaß, daß die Regierung
davon abstehen mußte. Es ist durchaus kein seltner Fall, daß ein Sträfling
der Brahmanenkaste lieber verhungert, als die von einem andern Brahmanen
zubereitete Speise zu genießen, weil er seinen eignen Geburtsplatz für einige
Grade heiliger hält, als deu des andern. So zerfällt die Bevölkerung Indiens
in eine ungeheure Anzahl selbständiger, fest organisirter, streng geschiedner und
schroff einander gegenüberstehender sozialer Gruppen.

Zum Schluß dürfte es wohl nicht überflüssig sein, darauf aufmerksam
zu machen, daß es anch den sogenannten „Eingebornen-Staaten" an jener
innern Einheit und Zusammengehörigkeit fehlt, die wir in der Gesamtbevöl-
kerung Indiens vergebens gesucht haben. Sie unterscheiden sich ihrer innern
Znsammensetzung nach in nichts von den verschiednen Provinzen des cmglo-
indischen Reichs. Es ist sehr zu beklagen, daß man für diese Staaten so
höchst ungeeignete Namen erfunden hat. Gewöhnlich Hort mau sie „Auad-


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[0288] Indische Zustände Wer seine Kenntnis davon aus den heiligen Schriften der brahmanischen Litteratur schöpft und die zweihundert Millionen Hindu in vier große Kasten geordnet glaubt, dem könnte es freilich scheinen, als ob jede diese Kasteueintciluug eine großartige, die ganze Bevölkerung der Halbinsel um¬ fassende und gewissermaßen doch einigende Organisation sei. Aber die Be¬ obachtung der Thatsachen zeigt gerade das Gegenteil. Das Kastenwesen in seiner heutigen Form ist die Ursache, der Ausdruck und die Folge der un¬ glaublichen gesellschaftlichen Zersplitterung Indiens. Die alte, in dem großen Gesetzbuch des Mann beschriebne Einteilung in Brahmanen, Kschatrijas, Waisjas und Sudras ist, wen» sie überhaupt jemals anders als auf dem Papier brah- manischer Systeme bestanden hat, heute jedenfalls gänzlich verwischt. An ihrer Stelle sehen wir ein aller Beschreibung spottendes Gewirr von Kasten und Untertasten. Trotz zweier Volkszählungen ist es uoch nicht gelungen, ihre wirkliche Zahl zu ermitteln. Einer der gründlichsten Forscher auf diesem Ge¬ biete, I)r. Wilson, brachte sein großes Werk über Kasten vor seinem Tode bis auf 678 Seiten, ohne auch uur die Kaste der Brahmanen vollständig ge¬ schildert zu haben. Ein andrer, Mr. Sherring, teilt die Brahmanen in nicht weniger als 1886 Kasten und Unterkasten, die sich im Laufe der Zeit durch Rassenuntcrschiede, verschiedenartige erbliche Beschäftigung, besondre religiöse Gemeinschaft oder getrennten Wohnsitz gebildet haben. Eine ausreichende Be¬ schreibung der niedern Kasten würde viele Bände füllen. Im allgemeinen bildet jeder Beruf, jedes Gewerbe, jede Gilde, jeder Stamm, jede Klasse, jede Sekte an jedem besondern Ort eine eigne Kaste; „und die Mitglieder einer solche» haben nicht nur einen besondern Gegenstand der Anbetung aus dem Hindupanthevn ausgewählt oder darin aufgenommen, sondern sie essen und heiraten ausschließlich unter einander." Als in den indischen Zuchthäusern im Jahre 1856 das System einer gemeinschaftlichen Küche eingeführt werden sollte, gab die Neuerung zu so vielen ernstlichen Unruhen Anlaß, daß die Regierung davon abstehen mußte. Es ist durchaus kein seltner Fall, daß ein Sträfling der Brahmanenkaste lieber verhungert, als die von einem andern Brahmanen zubereitete Speise zu genießen, weil er seinen eignen Geburtsplatz für einige Grade heiliger hält, als deu des andern. So zerfällt die Bevölkerung Indiens in eine ungeheure Anzahl selbständiger, fest organisirter, streng geschiedner und schroff einander gegenüberstehender sozialer Gruppen. Zum Schluß dürfte es wohl nicht überflüssig sein, darauf aufmerksam zu machen, daß es anch den sogenannten „Eingebornen-Staaten" an jener innern Einheit und Zusammengehörigkeit fehlt, die wir in der Gesamtbevöl- kerung Indiens vergebens gesucht haben. Sie unterscheiden sich ihrer innern Znsammensetzung nach in nichts von den verschiednen Provinzen des cmglo- indischen Reichs. Es ist sehr zu beklagen, daß man für diese Staaten so höchst ungeeignete Namen erfunden hat. Gewöhnlich Hort mau sie „Auad-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/288>, abgerufen am 23.11.2024.