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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

worden und dann ausgegossen als eine Mischung von Silber und Schlacken,
um zu den Hindugöttern verarbeitet zu werden." Wir wollen diesen einzelnen
Bestandteilen der Hindureligion hier nicht weiter nachspüren; es genügt, wenn
wir uns darüber klar werden, daß sie nicht zu einem einheitlichen Ganzen zu¬
sammengewachsen sind. Es fehlt dem modernen Brahmanismus, wenn man
ihm diesen Namen überhaupt noch lassen will und nicht lieber die von eng¬
lischen Schriftstellern meist gebrauchte Bezeichnung Hindnismus vorzieht, an
organischem Ban und an leitenden Gedanken. Vergebens suchen wir eine
Organisation des Glaubens, die alle Hindu umschlösse, vergebens ein grund¬
legendes Dogma, das von allen anerkannt würde, vergebens eine Gottheit,
die die Verehrung aller genösse, vergebens ein Heiligtum, zu dem alle
wallfahrteten. Die Folge davon ist der vollständige Mangel einer kirch¬
lichen Organisation. Hier giebt es kein Gegenstück zu den christlichen Kon¬
zilien oder dem türkischen Ulema, kein kirchliches Oberhaupt, wie den Papst
zu Rom, den Scheikh ni Islam oder den Dalai Lama. Aber sind denn
nicht die Brahmanen vou jeher die religiösen Lehrer und Leiter der Hindus
gewesen? Wohl hat ihre Herrschaft Jahrtausende überdauert. Aber diese
Herrschaft ist mehr sozialer als religiöser Natur. Oder wie sich in dem Be¬
richt über die Ergebnisse der letzten Volkszählung von 1881 ein anglo-indischer
Beamter, derb aber bezeichnend ausdrückt: "Der Beruf der Brahmanen ist nicht,
zu lehren, sondern sich füttern zu lassen. Mit dem geistigen Leben der Massen,
soweit es ein solches giebt, haben sie wenig zu thun. Der opferdienstliche
Despotismus hat das religiöse Element ganz in den Schatten gestellt, und
das Kastensystem hat seine Wurzeln so tief in das ganze soziale Gebäude ge¬
schlagen, daß es heute mehr als ein soziales denn ein religiöses Gesetz er¬
scheint. Ein Manu mag die Hiududreiheit leugnen, er mag sich selbst Götter
erfinden, so niedrig und unrein es ihm beliebt, er mag sie unter den wider¬
lichsten Orgien anbeten, ja er mag jeden Glauben an übernatürliche Mächte
aufgeben, er kann doch ein Hindu bleiben. Aber er muß die Brahmanen ver¬
ehren und füttern, er muß die Kasteuvorschrifteu befolgen, wenn er nicht aus
"er Hindngemeinschcift ausgestoßen werdeu will."

Der Brahmanismus hat daun auch wiederholt die günstigsten Gelegen¬
heiten, den Grund zu einer politischen Einigung der Bevölkerungen Indiens
zu legen, ungenutzt vorübergehen lassen. So erstand z. B. um die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts in den zerklüfteten Ketten der westlichen Ghats (um
Puna) ein Bandenführer namens Siwadschi und legte den Grund zu der
Marathaniacht. "Dies war von Grund aus eine Hinduschöpfung, aber als
sie an Kraft und Umfang zunahm, fiel sie mehr und mehr unter die Leitung
der Brahmanen. Der Zerfall des mongolischen Kaiserreichs begünstigte ihr
Wachstum, sodaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Zweige des
Marathabundes den größten Teil Indiens umschlossen. Es hätte auch scheinen


Indische Zustände

worden und dann ausgegossen als eine Mischung von Silber und Schlacken,
um zu den Hindugöttern verarbeitet zu werden." Wir wollen diesen einzelnen
Bestandteilen der Hindureligion hier nicht weiter nachspüren; es genügt, wenn
wir uns darüber klar werden, daß sie nicht zu einem einheitlichen Ganzen zu¬
sammengewachsen sind. Es fehlt dem modernen Brahmanismus, wenn man
ihm diesen Namen überhaupt noch lassen will und nicht lieber die von eng¬
lischen Schriftstellern meist gebrauchte Bezeichnung Hindnismus vorzieht, an
organischem Ban und an leitenden Gedanken. Vergebens suchen wir eine
Organisation des Glaubens, die alle Hindu umschlösse, vergebens ein grund¬
legendes Dogma, das von allen anerkannt würde, vergebens eine Gottheit,
die die Verehrung aller genösse, vergebens ein Heiligtum, zu dem alle
wallfahrteten. Die Folge davon ist der vollständige Mangel einer kirch¬
lichen Organisation. Hier giebt es kein Gegenstück zu den christlichen Kon¬
zilien oder dem türkischen Ulema, kein kirchliches Oberhaupt, wie den Papst
zu Rom, den Scheikh ni Islam oder den Dalai Lama. Aber sind denn
nicht die Brahmanen vou jeher die religiösen Lehrer und Leiter der Hindus
gewesen? Wohl hat ihre Herrschaft Jahrtausende überdauert. Aber diese
Herrschaft ist mehr sozialer als religiöser Natur. Oder wie sich in dem Be¬
richt über die Ergebnisse der letzten Volkszählung von 1881 ein anglo-indischer
Beamter, derb aber bezeichnend ausdrückt: „Der Beruf der Brahmanen ist nicht,
zu lehren, sondern sich füttern zu lassen. Mit dem geistigen Leben der Massen,
soweit es ein solches giebt, haben sie wenig zu thun. Der opferdienstliche
Despotismus hat das religiöse Element ganz in den Schatten gestellt, und
das Kastensystem hat seine Wurzeln so tief in das ganze soziale Gebäude ge¬
schlagen, daß es heute mehr als ein soziales denn ein religiöses Gesetz er¬
scheint. Ein Manu mag die Hiududreiheit leugnen, er mag sich selbst Götter
erfinden, so niedrig und unrein es ihm beliebt, er mag sie unter den wider¬
lichsten Orgien anbeten, ja er mag jeden Glauben an übernatürliche Mächte
aufgeben, er kann doch ein Hindu bleiben. Aber er muß die Brahmanen ver¬
ehren und füttern, er muß die Kasteuvorschrifteu befolgen, wenn er nicht aus
"er Hindngemeinschcift ausgestoßen werdeu will."

Der Brahmanismus hat daun auch wiederholt die günstigsten Gelegen¬
heiten, den Grund zu einer politischen Einigung der Bevölkerungen Indiens
zu legen, ungenutzt vorübergehen lassen. So erstand z. B. um die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts in den zerklüfteten Ketten der westlichen Ghats (um
Puna) ein Bandenführer namens Siwadschi und legte den Grund zu der
Marathaniacht. „Dies war von Grund aus eine Hinduschöpfung, aber als
sie an Kraft und Umfang zunahm, fiel sie mehr und mehr unter die Leitung
der Brahmanen. Der Zerfall des mongolischen Kaiserreichs begünstigte ihr
Wachstum, sodaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Zweige des
Marathabundes den größten Teil Indiens umschlossen. Es hätte auch scheinen


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[0285] Indische Zustände worden und dann ausgegossen als eine Mischung von Silber und Schlacken, um zu den Hindugöttern verarbeitet zu werden." Wir wollen diesen einzelnen Bestandteilen der Hindureligion hier nicht weiter nachspüren; es genügt, wenn wir uns darüber klar werden, daß sie nicht zu einem einheitlichen Ganzen zu¬ sammengewachsen sind. Es fehlt dem modernen Brahmanismus, wenn man ihm diesen Namen überhaupt noch lassen will und nicht lieber die von eng¬ lischen Schriftstellern meist gebrauchte Bezeichnung Hindnismus vorzieht, an organischem Ban und an leitenden Gedanken. Vergebens suchen wir eine Organisation des Glaubens, die alle Hindu umschlösse, vergebens ein grund¬ legendes Dogma, das von allen anerkannt würde, vergebens eine Gottheit, die die Verehrung aller genösse, vergebens ein Heiligtum, zu dem alle wallfahrteten. Die Folge davon ist der vollständige Mangel einer kirch¬ lichen Organisation. Hier giebt es kein Gegenstück zu den christlichen Kon¬ zilien oder dem türkischen Ulema, kein kirchliches Oberhaupt, wie den Papst zu Rom, den Scheikh ni Islam oder den Dalai Lama. Aber sind denn nicht die Brahmanen vou jeher die religiösen Lehrer und Leiter der Hindus gewesen? Wohl hat ihre Herrschaft Jahrtausende überdauert. Aber diese Herrschaft ist mehr sozialer als religiöser Natur. Oder wie sich in dem Be¬ richt über die Ergebnisse der letzten Volkszählung von 1881 ein anglo-indischer Beamter, derb aber bezeichnend ausdrückt: „Der Beruf der Brahmanen ist nicht, zu lehren, sondern sich füttern zu lassen. Mit dem geistigen Leben der Massen, soweit es ein solches giebt, haben sie wenig zu thun. Der opferdienstliche Despotismus hat das religiöse Element ganz in den Schatten gestellt, und das Kastensystem hat seine Wurzeln so tief in das ganze soziale Gebäude ge¬ schlagen, daß es heute mehr als ein soziales denn ein religiöses Gesetz er¬ scheint. Ein Manu mag die Hiududreiheit leugnen, er mag sich selbst Götter erfinden, so niedrig und unrein es ihm beliebt, er mag sie unter den wider¬ lichsten Orgien anbeten, ja er mag jeden Glauben an übernatürliche Mächte aufgeben, er kann doch ein Hindu bleiben. Aber er muß die Brahmanen ver¬ ehren und füttern, er muß die Kasteuvorschrifteu befolgen, wenn er nicht aus "er Hindngemeinschcift ausgestoßen werdeu will." Der Brahmanismus hat daun auch wiederholt die günstigsten Gelegen¬ heiten, den Grund zu einer politischen Einigung der Bevölkerungen Indiens zu legen, ungenutzt vorübergehen lassen. So erstand z. B. um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in den zerklüfteten Ketten der westlichen Ghats (um Puna) ein Bandenführer namens Siwadschi und legte den Grund zu der Marathaniacht. „Dies war von Grund aus eine Hinduschöpfung, aber als sie an Kraft und Umfang zunahm, fiel sie mehr und mehr unter die Leitung der Brahmanen. Der Zerfall des mongolischen Kaiserreichs begünstigte ihr Wachstum, sodaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Zweige des Marathabundes den größten Teil Indiens umschlossen. Es hätte auch scheinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/285>, abgerufen am 24.11.2024.