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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

Namen einer großen historischen Religion stets den Begriff einer Kirche (wenn
nicht im mittelalterlichen, so doch wenigstens im Sinne einer Gemeinde der
Gläubigen) zu verbinden, daß die meisten von uns diese Art von gefestigten
Charakter und organischer Form auch dem Heidentum zuschreiben. Wir sind
geneigt, anzunehmen, daß ein Volk wie die Hindu mit seiner Geschichte und
Litteratur, seinen heiligen Büchern und aufgespeicherten Überlieferungen sich
doch einige grundlegende Lehrsätze oder wenigstens einige bestimmte Anschau¬
ungen von der Gottheit gebildet haben müsse, durch die die höhern Klassen
der reinen, abergläubischen Phantasie der Massen Schranken auferlegt hätten.
Wir können uns nicht vorstellen, daß eine alte, noch lebenskräftige Religion
nur eine wogende See sei, ohne Grenze oder sichtbaren Horizont, hin und her
getrieben von den Wogen einer grenzenlosen Leichtgläubigkeit und einer wunder¬
lichen Erfindung." Eine solche wogende See ist aber der Brahmanismus.
Wenn wir unter Religion eine Anzahl gewisser fester Dogmen verstehen, so ist
er überhaupt keine Religion. Wir hören auf unsern Schulen von dein großen
brahmanischen System mit der Dreiheit Brahma, Wischnu, Siwa. Dieses
System lebt aber nur in den heiligen Büchern der Sanskritlitteratur und in
den Köpfen europäischer Professoren fort. Die Heiligkeit der Vedas ist frei¬
lich ein anerkannter Glaubenssatz für die wenigen gebildeten Hindu, die von
ihrem Dasein gehört haben, doch die alten Gesänge der arischen Einwandrer
haben keine unmittelbare Beziehung zu der Religion des Volks. Und auch
die religiösen Schriften späterer Jahrhunderte, wie die Brahmmms und Sudras,
in denen das religiöse System der Brahmanen weiter ausgebaut worden ist,
stellen keineswegs den Glauben der Massen dar. Die großen Götter der
Hindumythologie spielen keine Rolle in dem täglichen Leben des indischen
Vanern, und in Indien bildet doch die ländliche Bevölkerung bei weitem die
Mehrzahl (vierundneunzig Prozent nach der Zählung von 1881). Hier herrschen
Hausgötter, Stammesgötter, Lokalgötter, jeder innerhalb eines kleinen Kreises,
über den hinaus sein Name kaum bekannt ist. Ihre Zahl ist Million. Hier
wohnt ein Dämon oder Geist in jedem wunderlich geformten Felsblock, in den
rauschenden Ästen jedes knorrigen Baumes, in dem plätschernden Wasser jedes
Walddachs. Diese meist übelwollenden Gottheiten entstehen und vergehen; sie
werden behalten oder abgesetzt je nach ihren Verdiensten. Wunder, wie sie
sich noch heute in Indien täglich ereignen, befestigen den Glauben ihrer An¬
beter oder übertragen ihn auf einen neuen Gegenstand. So strömen dem
Hindupanthcon ständig neue Götter zu, während andre daraus verschwinden.
"Hinduismus -- sagt Hunter -- ist eine ans Gottesdienst gegründete reli¬
giöse Verbindung. Wie die verschiednen Rassenbestandteile des indischen Volks
in das System der Kasten geformt worden sind, so sind die einfachen alten
Anschauungen der Vedas, die milden Lehren Buddhas und die wilden Vor¬
stellungen und Bräuche der nichtarischen Stämme in einen Topf geworfen


Indische Zustände

Namen einer großen historischen Religion stets den Begriff einer Kirche (wenn
nicht im mittelalterlichen, so doch wenigstens im Sinne einer Gemeinde der
Gläubigen) zu verbinden, daß die meisten von uns diese Art von gefestigten
Charakter und organischer Form auch dem Heidentum zuschreiben. Wir sind
geneigt, anzunehmen, daß ein Volk wie die Hindu mit seiner Geschichte und
Litteratur, seinen heiligen Büchern und aufgespeicherten Überlieferungen sich
doch einige grundlegende Lehrsätze oder wenigstens einige bestimmte Anschau¬
ungen von der Gottheit gebildet haben müsse, durch die die höhern Klassen
der reinen, abergläubischen Phantasie der Massen Schranken auferlegt hätten.
Wir können uns nicht vorstellen, daß eine alte, noch lebenskräftige Religion
nur eine wogende See sei, ohne Grenze oder sichtbaren Horizont, hin und her
getrieben von den Wogen einer grenzenlosen Leichtgläubigkeit und einer wunder¬
lichen Erfindung." Eine solche wogende See ist aber der Brahmanismus.
Wenn wir unter Religion eine Anzahl gewisser fester Dogmen verstehen, so ist
er überhaupt keine Religion. Wir hören auf unsern Schulen von dein großen
brahmanischen System mit der Dreiheit Brahma, Wischnu, Siwa. Dieses
System lebt aber nur in den heiligen Büchern der Sanskritlitteratur und in
den Köpfen europäischer Professoren fort. Die Heiligkeit der Vedas ist frei¬
lich ein anerkannter Glaubenssatz für die wenigen gebildeten Hindu, die von
ihrem Dasein gehört haben, doch die alten Gesänge der arischen Einwandrer
haben keine unmittelbare Beziehung zu der Religion des Volks. Und auch
die religiösen Schriften späterer Jahrhunderte, wie die Brahmmms und Sudras,
in denen das religiöse System der Brahmanen weiter ausgebaut worden ist,
stellen keineswegs den Glauben der Massen dar. Die großen Götter der
Hindumythologie spielen keine Rolle in dem täglichen Leben des indischen
Vanern, und in Indien bildet doch die ländliche Bevölkerung bei weitem die
Mehrzahl (vierundneunzig Prozent nach der Zählung von 1881). Hier herrschen
Hausgötter, Stammesgötter, Lokalgötter, jeder innerhalb eines kleinen Kreises,
über den hinaus sein Name kaum bekannt ist. Ihre Zahl ist Million. Hier
wohnt ein Dämon oder Geist in jedem wunderlich geformten Felsblock, in den
rauschenden Ästen jedes knorrigen Baumes, in dem plätschernden Wasser jedes
Walddachs. Diese meist übelwollenden Gottheiten entstehen und vergehen; sie
werden behalten oder abgesetzt je nach ihren Verdiensten. Wunder, wie sie
sich noch heute in Indien täglich ereignen, befestigen den Glauben ihrer An¬
beter oder übertragen ihn auf einen neuen Gegenstand. So strömen dem
Hindupanthcon ständig neue Götter zu, während andre daraus verschwinden.
„Hinduismus — sagt Hunter — ist eine ans Gottesdienst gegründete reli¬
giöse Verbindung. Wie die verschiednen Rassenbestandteile des indischen Volks
in das System der Kasten geformt worden sind, so sind die einfachen alten
Anschauungen der Vedas, die milden Lehren Buddhas und die wilden Vor¬
stellungen und Bräuche der nichtarischen Stämme in einen Topf geworfen


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[0284] Indische Zustände Namen einer großen historischen Religion stets den Begriff einer Kirche (wenn nicht im mittelalterlichen, so doch wenigstens im Sinne einer Gemeinde der Gläubigen) zu verbinden, daß die meisten von uns diese Art von gefestigten Charakter und organischer Form auch dem Heidentum zuschreiben. Wir sind geneigt, anzunehmen, daß ein Volk wie die Hindu mit seiner Geschichte und Litteratur, seinen heiligen Büchern und aufgespeicherten Überlieferungen sich doch einige grundlegende Lehrsätze oder wenigstens einige bestimmte Anschau¬ ungen von der Gottheit gebildet haben müsse, durch die die höhern Klassen der reinen, abergläubischen Phantasie der Massen Schranken auferlegt hätten. Wir können uns nicht vorstellen, daß eine alte, noch lebenskräftige Religion nur eine wogende See sei, ohne Grenze oder sichtbaren Horizont, hin und her getrieben von den Wogen einer grenzenlosen Leichtgläubigkeit und einer wunder¬ lichen Erfindung." Eine solche wogende See ist aber der Brahmanismus. Wenn wir unter Religion eine Anzahl gewisser fester Dogmen verstehen, so ist er überhaupt keine Religion. Wir hören auf unsern Schulen von dein großen brahmanischen System mit der Dreiheit Brahma, Wischnu, Siwa. Dieses System lebt aber nur in den heiligen Büchern der Sanskritlitteratur und in den Köpfen europäischer Professoren fort. Die Heiligkeit der Vedas ist frei¬ lich ein anerkannter Glaubenssatz für die wenigen gebildeten Hindu, die von ihrem Dasein gehört haben, doch die alten Gesänge der arischen Einwandrer haben keine unmittelbare Beziehung zu der Religion des Volks. Und auch die religiösen Schriften späterer Jahrhunderte, wie die Brahmmms und Sudras, in denen das religiöse System der Brahmanen weiter ausgebaut worden ist, stellen keineswegs den Glauben der Massen dar. Die großen Götter der Hindumythologie spielen keine Rolle in dem täglichen Leben des indischen Vanern, und in Indien bildet doch die ländliche Bevölkerung bei weitem die Mehrzahl (vierundneunzig Prozent nach der Zählung von 1881). Hier herrschen Hausgötter, Stammesgötter, Lokalgötter, jeder innerhalb eines kleinen Kreises, über den hinaus sein Name kaum bekannt ist. Ihre Zahl ist Million. Hier wohnt ein Dämon oder Geist in jedem wunderlich geformten Felsblock, in den rauschenden Ästen jedes knorrigen Baumes, in dem plätschernden Wasser jedes Walddachs. Diese meist übelwollenden Gottheiten entstehen und vergehen; sie werden behalten oder abgesetzt je nach ihren Verdiensten. Wunder, wie sie sich noch heute in Indien täglich ereignen, befestigen den Glauben ihrer An¬ beter oder übertragen ihn auf einen neuen Gegenstand. So strömen dem Hindupanthcon ständig neue Götter zu, während andre daraus verschwinden. „Hinduismus — sagt Hunter — ist eine ans Gottesdienst gegründete reli¬ giöse Verbindung. Wie die verschiednen Rassenbestandteile des indischen Volks in das System der Kasten geformt worden sind, so sind die einfachen alten Anschauungen der Vedas, die milden Lehren Buddhas und die wilden Vor¬ stellungen und Bräuche der nichtarischen Stämme in einen Topf geworfen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/284>, abgerufen am 24.11.2024.