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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

matischen Lehrbuchs. Aus den Lehrbüchern stammt der Modergeruch, der
unserm Schulunterricht anhaftet. Systematische Lehrbücher, denen die Reform
der neuern Sprachen mit so viel Erfolg zuleide gerückt ist, haben meiner An¬
sicht nach in der Schule überhaupt nichts zu thun, in die Schule gehören nur
Lesebücher. Das Lehrbuch soll ein Hilfsmittel für den Lehrer sein, und wenn
es erst ganz aus den Handen der Schüler verschwunden ist, so wird auch
nicht mehr mechanisches Lernen die Hauptbeschäftigung im Unterricht sein,
sondern lebendiges Lehren. Auf allen Gebieten des Unterrichts giebt es etwas
auswendig zu lernen, in der Grammatik z. V. die Flexion. Aber das lasse
man den Schüler selbst auffinden und aufschreiben, das macht dem Schüler
mehr Vergnügen, und dem Lehrer -- nun ja, dem macht es mehr Arbeit.
Aber wer sagt denn auch, daß unser Lehrerstand so bleiben müsse, wie er ist?
Die Schulreform ist Stückwerk, solange sie nur die Schulbildung reformiren
will, und nicht zuerst die Lehrerbildung.

Der deutsche Unterricht hat aber nicht nur nach rückwärts, er hat auch
nach vorwärts Anschluß zu suchen. Man breche doch endlich mit dem Vor¬
urteil, als müßte ein Buch gegen hundert Jahre alt sein, um in der Schule
gelesen zu werden. Und man breche desgleichen mit dein Vorurteil, als gäben
gerade unsre Klassiker den passendsten Stoff für die Stilübungen unsrer Schüler
ab. Seit Schiller in allen höhern Schulen von unreifen Köpfen verarbeitet
wird, liest ihn kein Erwachsener mehr. Gerade Schiller -- jetzt kommt eine
Ketzerei, ob der unsre ehrwürdigen Pädagogen erbleichen werden, wenn sie
ihnen zu Gesichte kommt --, Schiller ist ganz und gar kein Bildungsmittel
für die Jugend. Da wird in Ghmnasialprogrammen alljährlich ein Langes
und Breites geredet vom Kultus des Wahren, Guten und Schönen, und was
derartige aschgraue Abstrakt" aus der vierten Dimension mehr sind, durch die
der Idealismus der Jugend genährt werden soll. Neben dem Hang zu
idealistischer Schwärmerei zeigt die Jugend auch einen bemerkenswerten Hang,
Äpfel zu stehlen, und ich wüßte nicht, daß es seit den Tagen Lykurgs jemals
wieder als eine Aufgabe der Schule hingestellt worden wäre, diesen Hang zu
fördern. Erst gehorchen lernen und dann befehlen, und erst Charakter haben
und dann Idealismus, das ist bewährte Reihenfolge. Den Charakter zu bilden,
dazu ist aber ein Dichter ganz und gar nicht geeignet, dessen Schwäche gerade
die Zeichnung individueller Charaktere ist. Schillers Gestalten sind nicht von
dieser Welt, sie sind mehr oder minder gelungne Verkörperungen eines all¬
gemeinen Begriffs vom Menschen. Wer aber die Menschen erst kennen lernen
soll, dem muß man nicht gleich mit Begriffen kommen. Denn wer in der
Jugend zu sehr mit Begriffen gequält worden ist, läuft im Alter vor ihnen
davon, wie denn auch der jugendliche Idealismus meistens in einen höchst
geschäftskundigen Realismus umschlägt, sobald der Schulzwang ein Ende hat.
Schillers eigentliche Größe aber, die Wucht seiner dramatischen Freskomalerei,


vom Mittelpunkte des Unterrichts

matischen Lehrbuchs. Aus den Lehrbüchern stammt der Modergeruch, der
unserm Schulunterricht anhaftet. Systematische Lehrbücher, denen die Reform
der neuern Sprachen mit so viel Erfolg zuleide gerückt ist, haben meiner An¬
sicht nach in der Schule überhaupt nichts zu thun, in die Schule gehören nur
Lesebücher. Das Lehrbuch soll ein Hilfsmittel für den Lehrer sein, und wenn
es erst ganz aus den Handen der Schüler verschwunden ist, so wird auch
nicht mehr mechanisches Lernen die Hauptbeschäftigung im Unterricht sein,
sondern lebendiges Lehren. Auf allen Gebieten des Unterrichts giebt es etwas
auswendig zu lernen, in der Grammatik z. V. die Flexion. Aber das lasse
man den Schüler selbst auffinden und aufschreiben, das macht dem Schüler
mehr Vergnügen, und dem Lehrer — nun ja, dem macht es mehr Arbeit.
Aber wer sagt denn auch, daß unser Lehrerstand so bleiben müsse, wie er ist?
Die Schulreform ist Stückwerk, solange sie nur die Schulbildung reformiren
will, und nicht zuerst die Lehrerbildung.

Der deutsche Unterricht hat aber nicht nur nach rückwärts, er hat auch
nach vorwärts Anschluß zu suchen. Man breche doch endlich mit dem Vor¬
urteil, als müßte ein Buch gegen hundert Jahre alt sein, um in der Schule
gelesen zu werden. Und man breche desgleichen mit dein Vorurteil, als gäben
gerade unsre Klassiker den passendsten Stoff für die Stilübungen unsrer Schüler
ab. Seit Schiller in allen höhern Schulen von unreifen Köpfen verarbeitet
wird, liest ihn kein Erwachsener mehr. Gerade Schiller — jetzt kommt eine
Ketzerei, ob der unsre ehrwürdigen Pädagogen erbleichen werden, wenn sie
ihnen zu Gesichte kommt —, Schiller ist ganz und gar kein Bildungsmittel
für die Jugend. Da wird in Ghmnasialprogrammen alljährlich ein Langes
und Breites geredet vom Kultus des Wahren, Guten und Schönen, und was
derartige aschgraue Abstrakt« aus der vierten Dimension mehr sind, durch die
der Idealismus der Jugend genährt werden soll. Neben dem Hang zu
idealistischer Schwärmerei zeigt die Jugend auch einen bemerkenswerten Hang,
Äpfel zu stehlen, und ich wüßte nicht, daß es seit den Tagen Lykurgs jemals
wieder als eine Aufgabe der Schule hingestellt worden wäre, diesen Hang zu
fördern. Erst gehorchen lernen und dann befehlen, und erst Charakter haben
und dann Idealismus, das ist bewährte Reihenfolge. Den Charakter zu bilden,
dazu ist aber ein Dichter ganz und gar nicht geeignet, dessen Schwäche gerade
die Zeichnung individueller Charaktere ist. Schillers Gestalten sind nicht von
dieser Welt, sie sind mehr oder minder gelungne Verkörperungen eines all¬
gemeinen Begriffs vom Menschen. Wer aber die Menschen erst kennen lernen
soll, dem muß man nicht gleich mit Begriffen kommen. Denn wer in der
Jugend zu sehr mit Begriffen gequält worden ist, läuft im Alter vor ihnen
davon, wie denn auch der jugendliche Idealismus meistens in einen höchst
geschäftskundigen Realismus umschlägt, sobald der Schulzwang ein Ende hat.
Schillers eigentliche Größe aber, die Wucht seiner dramatischen Freskomalerei,


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[0228] vom Mittelpunkte des Unterrichts matischen Lehrbuchs. Aus den Lehrbüchern stammt der Modergeruch, der unserm Schulunterricht anhaftet. Systematische Lehrbücher, denen die Reform der neuern Sprachen mit so viel Erfolg zuleide gerückt ist, haben meiner An¬ sicht nach in der Schule überhaupt nichts zu thun, in die Schule gehören nur Lesebücher. Das Lehrbuch soll ein Hilfsmittel für den Lehrer sein, und wenn es erst ganz aus den Handen der Schüler verschwunden ist, so wird auch nicht mehr mechanisches Lernen die Hauptbeschäftigung im Unterricht sein, sondern lebendiges Lehren. Auf allen Gebieten des Unterrichts giebt es etwas auswendig zu lernen, in der Grammatik z. V. die Flexion. Aber das lasse man den Schüler selbst auffinden und aufschreiben, das macht dem Schüler mehr Vergnügen, und dem Lehrer — nun ja, dem macht es mehr Arbeit. Aber wer sagt denn auch, daß unser Lehrerstand so bleiben müsse, wie er ist? Die Schulreform ist Stückwerk, solange sie nur die Schulbildung reformiren will, und nicht zuerst die Lehrerbildung. Der deutsche Unterricht hat aber nicht nur nach rückwärts, er hat auch nach vorwärts Anschluß zu suchen. Man breche doch endlich mit dem Vor¬ urteil, als müßte ein Buch gegen hundert Jahre alt sein, um in der Schule gelesen zu werden. Und man breche desgleichen mit dein Vorurteil, als gäben gerade unsre Klassiker den passendsten Stoff für die Stilübungen unsrer Schüler ab. Seit Schiller in allen höhern Schulen von unreifen Köpfen verarbeitet wird, liest ihn kein Erwachsener mehr. Gerade Schiller — jetzt kommt eine Ketzerei, ob der unsre ehrwürdigen Pädagogen erbleichen werden, wenn sie ihnen zu Gesichte kommt —, Schiller ist ganz und gar kein Bildungsmittel für die Jugend. Da wird in Ghmnasialprogrammen alljährlich ein Langes und Breites geredet vom Kultus des Wahren, Guten und Schönen, und was derartige aschgraue Abstrakt« aus der vierten Dimension mehr sind, durch die der Idealismus der Jugend genährt werden soll. Neben dem Hang zu idealistischer Schwärmerei zeigt die Jugend auch einen bemerkenswerten Hang, Äpfel zu stehlen, und ich wüßte nicht, daß es seit den Tagen Lykurgs jemals wieder als eine Aufgabe der Schule hingestellt worden wäre, diesen Hang zu fördern. Erst gehorchen lernen und dann befehlen, und erst Charakter haben und dann Idealismus, das ist bewährte Reihenfolge. Den Charakter zu bilden, dazu ist aber ein Dichter ganz und gar nicht geeignet, dessen Schwäche gerade die Zeichnung individueller Charaktere ist. Schillers Gestalten sind nicht von dieser Welt, sie sind mehr oder minder gelungne Verkörperungen eines all¬ gemeinen Begriffs vom Menschen. Wer aber die Menschen erst kennen lernen soll, dem muß man nicht gleich mit Begriffen kommen. Denn wer in der Jugend zu sehr mit Begriffen gequält worden ist, läuft im Alter vor ihnen davon, wie denn auch der jugendliche Idealismus meistens in einen höchst geschäftskundigen Realismus umschlägt, sobald der Schulzwang ein Ende hat. Schillers eigentliche Größe aber, die Wucht seiner dramatischen Freskomalerei,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/228>, abgerufen am 24.11.2024.