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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

nicht zur That kommt, wird sie doch von Aristophanes dem Dichter ganz be¬
sonders übel genommen. In den Fröschen läßt er den Herrn der Unterwelt
einen Wortwettkampf zwischen Aischylvs und Euripides veranstalten, aus dem
der ältere Dichter als Sieger hervorgeht. Dieser ruft u. a.:


Die Thatkraft wecke der Mann, der Dichter sich nennt!
Dort sbei den Dichtern der Vorzeit) schöpfend, erschuf nachbildend mein Geist
Patroklos und Tenkros, löwcnbcherzt, auf das; ich erweckte die Bürger,
Gleich jenen empor sich zu raffen zur Schlacht, wann einst die Drommete sie riefe.
Doch dichtet' ich nie mannsüchtige Frau", niemals Stheneböen und Phädren,
In weiß nicht, ob ich ein liebendes Weib jemals für die Bühne gestaltet.

Euripides fragt, was denn die Stheneböen,") wie er sie gedichtet habe, dem
Staate geschadet hätten. Aischylos erwidert:


Weil ehrbare Fraun, weil Gattinnen du viel ehrbarer Gatten bethörtcst.

Euripides

Hab ich denn nicht, was Phäorn verbrach, nach wirklicher Sage gedichtet?

Aischylos

Nach wirklicher, ja; doch schändliches Thun, das ziemt zu verhüllen dem Dichter,
Nicht offen im Licht es zu zeigen dem Volk. Denn was für die Knaben der Lehrer
Sein soll, der ihnen den Weg anzeigt, dus ist für Erwachsne der Dichter.
Drum müssen wir stets nur reden, was frommt.


Das ist nun freilich für unsre heutigen Veristen, wie schon für den Links¬
anwalt in deu Wolken, ein überwuudncr lächerlich altmodischer Standpunkt.
Am allermeisten aber verabscheut der possenhafte Sittenprediger den Euripides
deswegen, weil er einen Jnzest auf die Bühne gebracht hat. Strepsiades in
den Wolken erzählt, wie es zu dem Streite gekommen sei, worin ihn der von
den "Denkern" verführte Sohn geschlagen hatte. Dieser habe ihm bei Tische
etwas singen sollen. Da habe der Junge statt der guten alten Lieder lauter
häßliche neue angestimmt.


Gleich sang er von Euripides ein Stück, worin der Bruder --
Apollon, wende ab den Fluch! -- beiwohnt der eignen Schwester,"*)
Das hielt ich denn nicht länger ans und platzte los mit Fluchen.

Dasselbe Vergehen rügt er in den Fröschen. Und wer weiß, ob das Ver¬
lorne Stück die Sache so anstößig dargestellt hat, wie Richard Wagner in der
berühmten Szene zwischen Siegfried und Sigelinde!

Es versteht sich, daß. der Anschauung aller Völker und Zeiten gemäß,
die Untreue des Mannes milder beurteilt wird, als die der Frau. Daß es
der Mann bei längerer Abwesenheit mit andern Weibern hält, findet man
selbstverständlich, geradeso, wie nach einem Aufsatz über hygienische Vorsichts-




*) Stheneböa, Ilias Z, 1L0 Anteia genannt, verführte den Bellcrophontcs und be¬
reitete ihm, obwohl vergebens, den Untergang; das Stück des Euripides, dessen Heldin sie
war, ist verloren gegangen.
**) In dem Verlornen Stück Aiolos.
Die ätherische Volksmoral im Drama

nicht zur That kommt, wird sie doch von Aristophanes dem Dichter ganz be¬
sonders übel genommen. In den Fröschen läßt er den Herrn der Unterwelt
einen Wortwettkampf zwischen Aischylvs und Euripides veranstalten, aus dem
der ältere Dichter als Sieger hervorgeht. Dieser ruft u. a.:


Die Thatkraft wecke der Mann, der Dichter sich nennt!
Dort sbei den Dichtern der Vorzeit) schöpfend, erschuf nachbildend mein Geist
Patroklos und Tenkros, löwcnbcherzt, auf das; ich erweckte die Bürger,
Gleich jenen empor sich zu raffen zur Schlacht, wann einst die Drommete sie riefe.
Doch dichtet' ich nie mannsüchtige Frau», niemals Stheneböen und Phädren,
In weiß nicht, ob ich ein liebendes Weib jemals für die Bühne gestaltet.

Euripides fragt, was denn die Stheneböen,") wie er sie gedichtet habe, dem
Staate geschadet hätten. Aischylos erwidert:


Weil ehrbare Fraun, weil Gattinnen du viel ehrbarer Gatten bethörtcst.

Euripides

Hab ich denn nicht, was Phäorn verbrach, nach wirklicher Sage gedichtet?

Aischylos

Nach wirklicher, ja; doch schändliches Thun, das ziemt zu verhüllen dem Dichter,
Nicht offen im Licht es zu zeigen dem Volk. Denn was für die Knaben der Lehrer
Sein soll, der ihnen den Weg anzeigt, dus ist für Erwachsne der Dichter.
Drum müssen wir stets nur reden, was frommt.


Das ist nun freilich für unsre heutigen Veristen, wie schon für den Links¬
anwalt in deu Wolken, ein überwuudncr lächerlich altmodischer Standpunkt.
Am allermeisten aber verabscheut der possenhafte Sittenprediger den Euripides
deswegen, weil er einen Jnzest auf die Bühne gebracht hat. Strepsiades in
den Wolken erzählt, wie es zu dem Streite gekommen sei, worin ihn der von
den „Denkern" verführte Sohn geschlagen hatte. Dieser habe ihm bei Tische
etwas singen sollen. Da habe der Junge statt der guten alten Lieder lauter
häßliche neue angestimmt.


Gleich sang er von Euripides ein Stück, worin der Bruder —
Apollon, wende ab den Fluch! — beiwohnt der eignen Schwester,"*)
Das hielt ich denn nicht länger ans und platzte los mit Fluchen.

Dasselbe Vergehen rügt er in den Fröschen. Und wer weiß, ob das Ver¬
lorne Stück die Sache so anstößig dargestellt hat, wie Richard Wagner in der
berühmten Szene zwischen Siegfried und Sigelinde!

Es versteht sich, daß. der Anschauung aller Völker und Zeiten gemäß,
die Untreue des Mannes milder beurteilt wird, als die der Frau. Daß es
der Mann bei längerer Abwesenheit mit andern Weibern hält, findet man
selbstverständlich, geradeso, wie nach einem Aufsatz über hygienische Vorsichts-




*) Stheneböa, Ilias Z, 1L0 Anteia genannt, verführte den Bellcrophontcs und be¬
reitete ihm, obwohl vergebens, den Untergang; das Stück des Euripides, dessen Heldin sie
war, ist verloren gegangen.
**) In dem Verlornen Stück Aiolos.
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[0216] Die ätherische Volksmoral im Drama nicht zur That kommt, wird sie doch von Aristophanes dem Dichter ganz be¬ sonders übel genommen. In den Fröschen läßt er den Herrn der Unterwelt einen Wortwettkampf zwischen Aischylvs und Euripides veranstalten, aus dem der ältere Dichter als Sieger hervorgeht. Dieser ruft u. a.: Die Thatkraft wecke der Mann, der Dichter sich nennt! Dort sbei den Dichtern der Vorzeit) schöpfend, erschuf nachbildend mein Geist Patroklos und Tenkros, löwcnbcherzt, auf das; ich erweckte die Bürger, Gleich jenen empor sich zu raffen zur Schlacht, wann einst die Drommete sie riefe. Doch dichtet' ich nie mannsüchtige Frau», niemals Stheneböen und Phädren, In weiß nicht, ob ich ein liebendes Weib jemals für die Bühne gestaltet. Euripides fragt, was denn die Stheneböen,") wie er sie gedichtet habe, dem Staate geschadet hätten. Aischylos erwidert: Weil ehrbare Fraun, weil Gattinnen du viel ehrbarer Gatten bethörtcst. Euripides Hab ich denn nicht, was Phäorn verbrach, nach wirklicher Sage gedichtet? Aischylos Nach wirklicher, ja; doch schändliches Thun, das ziemt zu verhüllen dem Dichter, Nicht offen im Licht es zu zeigen dem Volk. Denn was für die Knaben der Lehrer Sein soll, der ihnen den Weg anzeigt, dus ist für Erwachsne der Dichter. Drum müssen wir stets nur reden, was frommt. Das ist nun freilich für unsre heutigen Veristen, wie schon für den Links¬ anwalt in deu Wolken, ein überwuudncr lächerlich altmodischer Standpunkt. Am allermeisten aber verabscheut der possenhafte Sittenprediger den Euripides deswegen, weil er einen Jnzest auf die Bühne gebracht hat. Strepsiades in den Wolken erzählt, wie es zu dem Streite gekommen sei, worin ihn der von den „Denkern" verführte Sohn geschlagen hatte. Dieser habe ihm bei Tische etwas singen sollen. Da habe der Junge statt der guten alten Lieder lauter häßliche neue angestimmt. Gleich sang er von Euripides ein Stück, worin der Bruder — Apollon, wende ab den Fluch! — beiwohnt der eignen Schwester,"*) Das hielt ich denn nicht länger ans und platzte los mit Fluchen. Dasselbe Vergehen rügt er in den Fröschen. Und wer weiß, ob das Ver¬ lorne Stück die Sache so anstößig dargestellt hat, wie Richard Wagner in der berühmten Szene zwischen Siegfried und Sigelinde! Es versteht sich, daß. der Anschauung aller Völker und Zeiten gemäß, die Untreue des Mannes milder beurteilt wird, als die der Frau. Daß es der Mann bei längerer Abwesenheit mit andern Weibern hält, findet man selbstverständlich, geradeso, wie nach einem Aufsatz über hygienische Vorsichts- *) Stheneböa, Ilias Z, 1L0 Anteia genannt, verführte den Bellcrophontcs und be¬ reitete ihm, obwohl vergebens, den Untergang; das Stück des Euripides, dessen Heldin sie war, ist verloren gegangen. **) In dem Verlornen Stück Aiolos.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/216>, abgerufen am 28.07.2024.