Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zolas neuester Roman

Sie steht unter dem religiösen Banne der alten Mutter Pascals, die die Werke
des Sohnes für teuflische Eingebungen hält und vor den Personalakten der
Familienmitglieder Furcht und Entsetzen hat. Diese weiß Klotilde zu bereden,
den Schrank Pascals zu erbrechen und die ihre ganze Familie bloßstellenden
Schriften zu beseitigen. Bei dieser Arbeit, die Klotilde in der Nacht während
eines starken Gewitters ausführt, wird sie von ihrem Onkel überrascht. Beide
stehen sich im Nachtgewande gegenüber, sie bleich vor Schrecken, er kochend
vor Wut. Und während draußen das Unwetter tobt, zwingt er sie, mit ihm
die Akten durchzulesen und sich zu überzeugen, daß seine Studien kein Teufels-
werk, sondern eine ernste heilige Wissenschaft seien.

Diese Nachtszene wird der Anfang ihrer Liebe. Bald gehören sie sich in
heimlichem Bunde völlig um. Und selbst der Haß der alten Mutter Fölicitv
und der Verlust seines Vermögens können dem alten Arzt das späte selige
Liebesglück nicht vergällen. Eines Tages fährt Klotilde zu ihrem kranken
Bruder Maxime in Paris, und vou dort teilt sie ihrem Onkel mit, daß sie
ihm einen Nachkommen schenken werde.

Aber Pascal ist von den körperlichen und seelischen Aufregungen der letzten
Zeit so ermattet, daß er zusammenbricht und stirbt, ohne die znrückgerufne
Klotilde wieder gesehen zu haben. Doch ihr Brief ist ihm wie ein Sonnen¬
strahl in seiner Todesstunde gewesen: "Ein Kind! Dieses Kind, das ihm eine
Unmöglichkeit schien, nun war es da, sie trug es schon unter dem Herzen, als
er den Eisenbahnzug davon eilen sah über die weite Ebne! O, das war ein
leibhaftiges Werk, das einzige, gute, lebende Werk, daS ihn mit Glück und
Stolz erfüllte. Seine Arbeiten, seine Furcht vor der Vererbung waren ver¬
gessen. Das Kind, sagte er sich, würde sein, was lag daran, wie es sein
würde! Wenn eS nur die Fortsetzung, ein hinterlassenes langdauerndes Leben
seines eignen Ich war!"

Nach dem Tode Pascals vernichtet die alte Frau Nougon die Dokumente,
aber den Stammbaum rettet Klotilde. Sie giebt dieses Werk ihres Onkels
und Geliebten dem befreundeten Arzte Ramond; von dem wird es wohl Zola
als Grundlage seines Romancyklus Ilos Kougou-U-uiciu^it erhalten haben.

Zola schließt seinen Roman mit einer Verherrlichung der Mutterliebe.
Die Schilderung Klotildens und ihres Kindes ist unzweifelhaft die gelungenste
Stelle in dem ganzen Roman; sie mutet uns an wie ein Madonnenbild, frei¬
lich wie eins aus der naturalistischen niederländischen Schule: vlotilciv souriiüt,
!>. 1'MtÄut, cM tvtg.it t.vuMii-8, sein xstit ti'As su 1'Sir, tout etroit, ctrssss
ooruills un clmxöÄu, 6'g.xxsl ^ 1". vis. Mit diesen Worten, einer Apotheose
des Wickelkindes, endigt der Nomancvklus.

An einigen Stellen des Romans hat man den Eindruck, als ob über Zola
ein neuer sittlicher Geist gekommen sei. Nachdem er neunzehn Bände hindurch
die unglaublichsten Orgien einer raffinirten Sinnlichkeit zum Besten gegeben


Zolas neuester Roman

Sie steht unter dem religiösen Banne der alten Mutter Pascals, die die Werke
des Sohnes für teuflische Eingebungen hält und vor den Personalakten der
Familienmitglieder Furcht und Entsetzen hat. Diese weiß Klotilde zu bereden,
den Schrank Pascals zu erbrechen und die ihre ganze Familie bloßstellenden
Schriften zu beseitigen. Bei dieser Arbeit, die Klotilde in der Nacht während
eines starken Gewitters ausführt, wird sie von ihrem Onkel überrascht. Beide
stehen sich im Nachtgewande gegenüber, sie bleich vor Schrecken, er kochend
vor Wut. Und während draußen das Unwetter tobt, zwingt er sie, mit ihm
die Akten durchzulesen und sich zu überzeugen, daß seine Studien kein Teufels-
werk, sondern eine ernste heilige Wissenschaft seien.

Diese Nachtszene wird der Anfang ihrer Liebe. Bald gehören sie sich in
heimlichem Bunde völlig um. Und selbst der Haß der alten Mutter Fölicitv
und der Verlust seines Vermögens können dem alten Arzt das späte selige
Liebesglück nicht vergällen. Eines Tages fährt Klotilde zu ihrem kranken
Bruder Maxime in Paris, und vou dort teilt sie ihrem Onkel mit, daß sie
ihm einen Nachkommen schenken werde.

Aber Pascal ist von den körperlichen und seelischen Aufregungen der letzten
Zeit so ermattet, daß er zusammenbricht und stirbt, ohne die znrückgerufne
Klotilde wieder gesehen zu haben. Doch ihr Brief ist ihm wie ein Sonnen¬
strahl in seiner Todesstunde gewesen: „Ein Kind! Dieses Kind, das ihm eine
Unmöglichkeit schien, nun war es da, sie trug es schon unter dem Herzen, als
er den Eisenbahnzug davon eilen sah über die weite Ebne! O, das war ein
leibhaftiges Werk, das einzige, gute, lebende Werk, daS ihn mit Glück und
Stolz erfüllte. Seine Arbeiten, seine Furcht vor der Vererbung waren ver¬
gessen. Das Kind, sagte er sich, würde sein, was lag daran, wie es sein
würde! Wenn eS nur die Fortsetzung, ein hinterlassenes langdauerndes Leben
seines eignen Ich war!"

Nach dem Tode Pascals vernichtet die alte Frau Nougon die Dokumente,
aber den Stammbaum rettet Klotilde. Sie giebt dieses Werk ihres Onkels
und Geliebten dem befreundeten Arzte Ramond; von dem wird es wohl Zola
als Grundlage seines Romancyklus Ilos Kougou-U-uiciu^it erhalten haben.

Zola schließt seinen Roman mit einer Verherrlichung der Mutterliebe.
Die Schilderung Klotildens und ihres Kindes ist unzweifelhaft die gelungenste
Stelle in dem ganzen Roman; sie mutet uns an wie ein Madonnenbild, frei¬
lich wie eins aus der naturalistischen niederländischen Schule: vlotilciv souriiüt,
!>. 1'MtÄut, cM tvtg.it t.vuMii-8, sein xstit ti'As su 1'Sir, tout etroit, ctrssss
ooruills un clmxöÄu, 6'g.xxsl ^ 1«. vis. Mit diesen Worten, einer Apotheose
des Wickelkindes, endigt der Nomancvklus.

An einigen Stellen des Romans hat man den Eindruck, als ob über Zola
ein neuer sittlicher Geist gekommen sei. Nachdem er neunzehn Bände hindurch
die unglaublichsten Orgien einer raffinirten Sinnlichkeit zum Besten gegeben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0188" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215278"/>
          <fw type="header" place="top"> Zolas neuester Roman</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_595" prev="#ID_594"> Sie steht unter dem religiösen Banne der alten Mutter Pascals, die die Werke<lb/>
des Sohnes für teuflische Eingebungen hält und vor den Personalakten der<lb/>
Familienmitglieder Furcht und Entsetzen hat. Diese weiß Klotilde zu bereden,<lb/>
den Schrank Pascals zu erbrechen und die ihre ganze Familie bloßstellenden<lb/>
Schriften zu beseitigen. Bei dieser Arbeit, die Klotilde in der Nacht während<lb/>
eines starken Gewitters ausführt, wird sie von ihrem Onkel überrascht. Beide<lb/>
stehen sich im Nachtgewande gegenüber, sie bleich vor Schrecken, er kochend<lb/>
vor Wut. Und während draußen das Unwetter tobt, zwingt er sie, mit ihm<lb/>
die Akten durchzulesen und sich zu überzeugen, daß seine Studien kein Teufels-<lb/>
werk, sondern eine ernste heilige Wissenschaft seien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_596"> Diese Nachtszene wird der Anfang ihrer Liebe. Bald gehören sie sich in<lb/>
heimlichem Bunde völlig um. Und selbst der Haß der alten Mutter Fölicitv<lb/>
und der Verlust seines Vermögens können dem alten Arzt das späte selige<lb/>
Liebesglück nicht vergällen. Eines Tages fährt Klotilde zu ihrem kranken<lb/>
Bruder Maxime in Paris, und vou dort teilt sie ihrem Onkel mit, daß sie<lb/>
ihm einen Nachkommen schenken werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_597"> Aber Pascal ist von den körperlichen und seelischen Aufregungen der letzten<lb/>
Zeit so ermattet, daß er zusammenbricht und stirbt, ohne die znrückgerufne<lb/>
Klotilde wieder gesehen zu haben. Doch ihr Brief ist ihm wie ein Sonnen¬<lb/>
strahl in seiner Todesstunde gewesen: &#x201E;Ein Kind! Dieses Kind, das ihm eine<lb/>
Unmöglichkeit schien, nun war es da, sie trug es schon unter dem Herzen, als<lb/>
er den Eisenbahnzug davon eilen sah über die weite Ebne! O, das war ein<lb/>
leibhaftiges Werk, das einzige, gute, lebende Werk, daS ihn mit Glück und<lb/>
Stolz erfüllte. Seine Arbeiten, seine Furcht vor der Vererbung waren ver¬<lb/>
gessen. Das Kind, sagte er sich, würde sein, was lag daran, wie es sein<lb/>
würde! Wenn eS nur die Fortsetzung, ein hinterlassenes langdauerndes Leben<lb/>
seines eignen Ich war!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_598"> Nach dem Tode Pascals vernichtet die alte Frau Nougon die Dokumente,<lb/>
aber den Stammbaum rettet Klotilde. Sie giebt dieses Werk ihres Onkels<lb/>
und Geliebten dem befreundeten Arzte Ramond; von dem wird es wohl Zola<lb/>
als Grundlage seines Romancyklus Ilos Kougou-U-uiciu^it erhalten haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_599"> Zola schließt seinen Roman mit einer Verherrlichung der Mutterliebe.<lb/>
Die Schilderung Klotildens und ihres Kindes ist unzweifelhaft die gelungenste<lb/>
Stelle in dem ganzen Roman; sie mutet uns an wie ein Madonnenbild, frei¬<lb/>
lich wie eins aus der naturalistischen niederländischen Schule: vlotilciv souriiüt,<lb/>
!&gt;. 1'MtÄut, cM tvtg.it t.vuMii-8, sein xstit ti'As su 1'Sir, tout etroit, ctrssss<lb/>
ooruills un clmxöÄu, 6'g.xxsl ^ 1«. vis. Mit diesen Worten, einer Apotheose<lb/>
des Wickelkindes, endigt der Nomancvklus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_600" next="#ID_601"> An einigen Stellen des Romans hat man den Eindruck, als ob über Zola<lb/>
ein neuer sittlicher Geist gekommen sei. Nachdem er neunzehn Bände hindurch<lb/>
die unglaublichsten Orgien einer raffinirten Sinnlichkeit zum Besten gegeben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0188] Zolas neuester Roman Sie steht unter dem religiösen Banne der alten Mutter Pascals, die die Werke des Sohnes für teuflische Eingebungen hält und vor den Personalakten der Familienmitglieder Furcht und Entsetzen hat. Diese weiß Klotilde zu bereden, den Schrank Pascals zu erbrechen und die ihre ganze Familie bloßstellenden Schriften zu beseitigen. Bei dieser Arbeit, die Klotilde in der Nacht während eines starken Gewitters ausführt, wird sie von ihrem Onkel überrascht. Beide stehen sich im Nachtgewande gegenüber, sie bleich vor Schrecken, er kochend vor Wut. Und während draußen das Unwetter tobt, zwingt er sie, mit ihm die Akten durchzulesen und sich zu überzeugen, daß seine Studien kein Teufels- werk, sondern eine ernste heilige Wissenschaft seien. Diese Nachtszene wird der Anfang ihrer Liebe. Bald gehören sie sich in heimlichem Bunde völlig um. Und selbst der Haß der alten Mutter Fölicitv und der Verlust seines Vermögens können dem alten Arzt das späte selige Liebesglück nicht vergällen. Eines Tages fährt Klotilde zu ihrem kranken Bruder Maxime in Paris, und vou dort teilt sie ihrem Onkel mit, daß sie ihm einen Nachkommen schenken werde. Aber Pascal ist von den körperlichen und seelischen Aufregungen der letzten Zeit so ermattet, daß er zusammenbricht und stirbt, ohne die znrückgerufne Klotilde wieder gesehen zu haben. Doch ihr Brief ist ihm wie ein Sonnen¬ strahl in seiner Todesstunde gewesen: „Ein Kind! Dieses Kind, das ihm eine Unmöglichkeit schien, nun war es da, sie trug es schon unter dem Herzen, als er den Eisenbahnzug davon eilen sah über die weite Ebne! O, das war ein leibhaftiges Werk, das einzige, gute, lebende Werk, daS ihn mit Glück und Stolz erfüllte. Seine Arbeiten, seine Furcht vor der Vererbung waren ver¬ gessen. Das Kind, sagte er sich, würde sein, was lag daran, wie es sein würde! Wenn eS nur die Fortsetzung, ein hinterlassenes langdauerndes Leben seines eignen Ich war!" Nach dem Tode Pascals vernichtet die alte Frau Nougon die Dokumente, aber den Stammbaum rettet Klotilde. Sie giebt dieses Werk ihres Onkels und Geliebten dem befreundeten Arzte Ramond; von dem wird es wohl Zola als Grundlage seines Romancyklus Ilos Kougou-U-uiciu^it erhalten haben. Zola schließt seinen Roman mit einer Verherrlichung der Mutterliebe. Die Schilderung Klotildens und ihres Kindes ist unzweifelhaft die gelungenste Stelle in dem ganzen Roman; sie mutet uns an wie ein Madonnenbild, frei¬ lich wie eins aus der naturalistischen niederländischen Schule: vlotilciv souriiüt, !>. 1'MtÄut, cM tvtg.it t.vuMii-8, sein xstit ti'As su 1'Sir, tout etroit, ctrssss ooruills un clmxöÄu, 6'g.xxsl ^ 1«. vis. Mit diesen Worten, einer Apotheose des Wickelkindes, endigt der Nomancvklus. An einigen Stellen des Romans hat man den Eindruck, als ob über Zola ein neuer sittlicher Geist gekommen sei. Nachdem er neunzehn Bände hindurch die unglaublichsten Orgien einer raffinirten Sinnlichkeit zum Besten gegeben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/188
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/188>, abgerufen am 24.11.2024.