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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische volksmoral im Dramen

Schon das bisher angeführte wird genügen, die Ungerechtigkeit der
modernsten Angriffe auf das Hellenentum zu erkennen. In der Renaissance
wurde das alte Heidentum nicht allein überschätzt, sondern teilweise auch mi߬
verstanden. In der zweiten Humanitätsbewegung der europäischen Christen¬
heit haben Herder und Lessing, Goethe und Schiller die Alten, namentlich die
Griechen, eben nur richtig gewürdigt. In der jetzigen Reaktion gegen den
Humanismus vereinigen sich drei Parteien, die sonst einander befeinden, indem
sie drei verschiednen Idealen huldigen: dem orthodoxen Christentum, den: alten
Germanentum und dem "Realismus," ein ziemlich unklarer Ausdruck, der bald
wissenschaftlichen Materialismus, bald banausischen Militarismus bedeutet und
im letztern Falle gewöhnlich auf ganz ordinären Mammonismus und Amerika-
nismus hinausläuft. Sehen wir uns ein paar abfällige Urteile eines christ¬
lichen Richters an, der wenigstens kompetent war, Dvllingers. Dieser große
Theologe kannte zwar die griechische Litteratur viel gründlicher als der Ver¬
fasser dieser Aufsätze, ja er war sogar ein förmlicher Liebhaber des Griechischen.
Dennoch kann ich mir nicht helfen: ich muß sein Urteil über das Hellenentum
sür ungerecht halten. Seine Ungerechtigkeit läßt sich anch leicht aus dem Um¬
stände erklären, daß er sich als streng gläubiger Theologe verpflichtet fühlte,
die Schattenseiten des griechischen Lebens zu Ehren des Christentums zu über¬
treiben.

In seinem Werke: Heidentum und Judentum, Vorhalle zur Geschichte des
Christentums (Regensburg, 1857) schreibt er S. 664: "Der Grieche war im
eigentlichsten Sinne ein politischer Mensch; die Staatsbürgerschaft, die poli¬
tische, in der Teilnahme an der höchsten Gewalt bestehende Freiheit war sein
höchstes Gut." Das ist richtig, aber nun kommt das übertreibende und schiefe.
"Die völlige Abhängigkeit vom Staate und die unbedingte Hingebung des ein¬
zelnen an das Ganze, den Staat, war die ihm von Jugend auf anerzogue
Gesinnung, und darauf ruhte, darin bestand seine Sittlichkeit." Döllinger
nahm, wie das in der vorliegenden Frage hergebracht ist, Sparta für Griechen¬
land und Platos Republik für ein Idealbild des damaligen Zustandes von
ganz Griechenland. Das ist aber noch schlimmer, als wenn ein Schriftsteller
des vierten Jahrtausends das preußische Heer für das deutsche Volk und Hegels
Staatsidee für eine Abstraktion aus der deutscheu Wirklichkeit nehmen wollte;
noch schlimmer, sagen wir, weil Hegels Teudenzphilosvphie ihre Wirkung ge¬
than hat und das preußische Heer heute wirklich zwar noch nicht das deutsche
Volk, aber seine Beherrscherin geworden ist, während Platos Tendenzschrift
wirkungslos verpuffen mußte, weil, als er sie schrieb, der Spartanerstamm,
der allem ihre Ideen hätte verwirklichen können, nicht allein entartet, sondern
beinahe ausgestorben war. Weiter sagt Döllinger: "Der Inbegriff seiner (des
Griechen) Pflichten war, mit seiner ganzen Persönlichkeit im Staate aufzu¬
gehen, keinen eignen vom Staate verschiednen Willen zu haben." Wunderliche


Die ätherische volksmoral im Dramen

Schon das bisher angeführte wird genügen, die Ungerechtigkeit der
modernsten Angriffe auf das Hellenentum zu erkennen. In der Renaissance
wurde das alte Heidentum nicht allein überschätzt, sondern teilweise auch mi߬
verstanden. In der zweiten Humanitätsbewegung der europäischen Christen¬
heit haben Herder und Lessing, Goethe und Schiller die Alten, namentlich die
Griechen, eben nur richtig gewürdigt. In der jetzigen Reaktion gegen den
Humanismus vereinigen sich drei Parteien, die sonst einander befeinden, indem
sie drei verschiednen Idealen huldigen: dem orthodoxen Christentum, den: alten
Germanentum und dem „Realismus," ein ziemlich unklarer Ausdruck, der bald
wissenschaftlichen Materialismus, bald banausischen Militarismus bedeutet und
im letztern Falle gewöhnlich auf ganz ordinären Mammonismus und Amerika-
nismus hinausläuft. Sehen wir uns ein paar abfällige Urteile eines christ¬
lichen Richters an, der wenigstens kompetent war, Dvllingers. Dieser große
Theologe kannte zwar die griechische Litteratur viel gründlicher als der Ver¬
fasser dieser Aufsätze, ja er war sogar ein förmlicher Liebhaber des Griechischen.
Dennoch kann ich mir nicht helfen: ich muß sein Urteil über das Hellenentum
sür ungerecht halten. Seine Ungerechtigkeit läßt sich anch leicht aus dem Um¬
stände erklären, daß er sich als streng gläubiger Theologe verpflichtet fühlte,
die Schattenseiten des griechischen Lebens zu Ehren des Christentums zu über¬
treiben.

In seinem Werke: Heidentum und Judentum, Vorhalle zur Geschichte des
Christentums (Regensburg, 1857) schreibt er S. 664: „Der Grieche war im
eigentlichsten Sinne ein politischer Mensch; die Staatsbürgerschaft, die poli¬
tische, in der Teilnahme an der höchsten Gewalt bestehende Freiheit war sein
höchstes Gut." Das ist richtig, aber nun kommt das übertreibende und schiefe.
„Die völlige Abhängigkeit vom Staate und die unbedingte Hingebung des ein¬
zelnen an das Ganze, den Staat, war die ihm von Jugend auf anerzogue
Gesinnung, und darauf ruhte, darin bestand seine Sittlichkeit." Döllinger
nahm, wie das in der vorliegenden Frage hergebracht ist, Sparta für Griechen¬
land und Platos Republik für ein Idealbild des damaligen Zustandes von
ganz Griechenland. Das ist aber noch schlimmer, als wenn ein Schriftsteller
des vierten Jahrtausends das preußische Heer für das deutsche Volk und Hegels
Staatsidee für eine Abstraktion aus der deutscheu Wirklichkeit nehmen wollte;
noch schlimmer, sagen wir, weil Hegels Teudenzphilosvphie ihre Wirkung ge¬
than hat und das preußische Heer heute wirklich zwar noch nicht das deutsche
Volk, aber seine Beherrscherin geworden ist, während Platos Tendenzschrift
wirkungslos verpuffen mußte, weil, als er sie schrieb, der Spartanerstamm,
der allem ihre Ideen hätte verwirklichen können, nicht allein entartet, sondern
beinahe ausgestorben war. Weiter sagt Döllinger: „Der Inbegriff seiner (des
Griechen) Pflichten war, mit seiner ganzen Persönlichkeit im Staate aufzu¬
gehen, keinen eignen vom Staate verschiednen Willen zu haben." Wunderliche


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[0170] Die ätherische volksmoral im Dramen Schon das bisher angeführte wird genügen, die Ungerechtigkeit der modernsten Angriffe auf das Hellenentum zu erkennen. In der Renaissance wurde das alte Heidentum nicht allein überschätzt, sondern teilweise auch mi߬ verstanden. In der zweiten Humanitätsbewegung der europäischen Christen¬ heit haben Herder und Lessing, Goethe und Schiller die Alten, namentlich die Griechen, eben nur richtig gewürdigt. In der jetzigen Reaktion gegen den Humanismus vereinigen sich drei Parteien, die sonst einander befeinden, indem sie drei verschiednen Idealen huldigen: dem orthodoxen Christentum, den: alten Germanentum und dem „Realismus," ein ziemlich unklarer Ausdruck, der bald wissenschaftlichen Materialismus, bald banausischen Militarismus bedeutet und im letztern Falle gewöhnlich auf ganz ordinären Mammonismus und Amerika- nismus hinausläuft. Sehen wir uns ein paar abfällige Urteile eines christ¬ lichen Richters an, der wenigstens kompetent war, Dvllingers. Dieser große Theologe kannte zwar die griechische Litteratur viel gründlicher als der Ver¬ fasser dieser Aufsätze, ja er war sogar ein förmlicher Liebhaber des Griechischen. Dennoch kann ich mir nicht helfen: ich muß sein Urteil über das Hellenentum sür ungerecht halten. Seine Ungerechtigkeit läßt sich anch leicht aus dem Um¬ stände erklären, daß er sich als streng gläubiger Theologe verpflichtet fühlte, die Schattenseiten des griechischen Lebens zu Ehren des Christentums zu über¬ treiben. In seinem Werke: Heidentum und Judentum, Vorhalle zur Geschichte des Christentums (Regensburg, 1857) schreibt er S. 664: „Der Grieche war im eigentlichsten Sinne ein politischer Mensch; die Staatsbürgerschaft, die poli¬ tische, in der Teilnahme an der höchsten Gewalt bestehende Freiheit war sein höchstes Gut." Das ist richtig, aber nun kommt das übertreibende und schiefe. „Die völlige Abhängigkeit vom Staate und die unbedingte Hingebung des ein¬ zelnen an das Ganze, den Staat, war die ihm von Jugend auf anerzogue Gesinnung, und darauf ruhte, darin bestand seine Sittlichkeit." Döllinger nahm, wie das in der vorliegenden Frage hergebracht ist, Sparta für Griechen¬ land und Platos Republik für ein Idealbild des damaligen Zustandes von ganz Griechenland. Das ist aber noch schlimmer, als wenn ein Schriftsteller des vierten Jahrtausends das preußische Heer für das deutsche Volk und Hegels Staatsidee für eine Abstraktion aus der deutscheu Wirklichkeit nehmen wollte; noch schlimmer, sagen wir, weil Hegels Teudenzphilosvphie ihre Wirkung ge¬ than hat und das preußische Heer heute wirklich zwar noch nicht das deutsche Volk, aber seine Beherrscherin geworden ist, während Platos Tendenzschrift wirkungslos verpuffen mußte, weil, als er sie schrieb, der Spartanerstamm, der allem ihre Ideen hätte verwirklichen können, nicht allein entartet, sondern beinahe ausgestorben war. Weiter sagt Döllinger: „Der Inbegriff seiner (des Griechen) Pflichten war, mit seiner ganzen Persönlichkeit im Staate aufzu¬ gehen, keinen eignen vom Staate verschiednen Willen zu haben." Wunderliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/170>, abgerufen am 01.09.2024.