Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die ätherische Volksmoral im Drama

in seine Gewalt gefallene Helena zwingen will, seine Gattin zu werden. Helena
fleht zu ihr, sie möge ihrem Bruder den eben angekommnen Gatten Menelaos
nicht verraten und ihrer gemeinsamen Flucht nicht hinderlich sein. U. a.
spricht sie:


Die Gottheit haßt Gewalt; nur wohlerworben Gut
Soll jeglicher besitzen, aber keiner Raub.
Verschmähen muß man ungerechter Schätze Reiz.
Gemeinsam ist der Himmel allen Sterblichen,
Gemein die Erde; mehrt den Schatz in euerm Haus,
Doch rühret nicht an Fremdes, raubt nicht mit Gewalt!.....
Mich gab, o Jungfrau, glücklich und unglücklich einst
Hermes in deines Vaters Hciud, daß dem Gemahl
Er mich bewahrte. Dieser kommt und fordert mich,
Und Tod foll er hier finden?.....
Neu,? Scheue Proteus Schatten und die Himmlischen!
Würd' auch ein Gott und würde dein Erzeuger wohl
Also verweigern ein ihm ciuvertrautes Gut?
Ich zweifle. Sei denn dir anch, Jungfrau, weniger
Des Bruders Thorheit als der edle Vater wert!
Bist du des Götterrates kundge Seherin,
Und ansteht doch den rühmlichen Erzeuger nicht,
Um deinem ungerechten Bruder hold zu sein.
So ist dirs Schmach, zu kennen alles Göttliche,
Was ist und nicht ist, aber Pflicht und Tugend nicht.....

Nachdem noch Menelaos gesprochen hat, entscheidet TheonoL:


Ich liebe Gutes von Natur, und will es auch,
Weil ich mich selbst hochachte. Meines Vaters Ruhm
Werd ich nicht schänden, noch dem Bruder eine Gunst
Gewähren, die mir künftig Schmach bereitete.
Ein großes, lautres Heiligtum des Rechtes ist
In meiner Brust hier, das mir Nereus Huld geliehn.
Und das ich, Menelaos, treu bewachen will.

Daß es endlich nicht sowohl das Äußerliche, die That, als das Innerliche,
die Gesinnung ist, was den Göttern wohlgefällig oder mißfällig macht, ver¬
nehmen wir u. a. aus dem Orestes des Euripides. "Ich habe reine Hände!"
beteuert Menelaos; "doch kein reines Herz," erwidert Orest. Diese unbedingt
verpflichtende Macht des Guten voraussetzend, findet es Ion höchst ungeziemend,
daß das Heiligtum auch Frevlern als Asyl offen stehe:


Schlimm, daß ein Gott den Menschen nicht, wies billig ist,
Und nicht in weisheitsvollen Sinn Gesetze gab!
Denn nicht am Altar sitzen sollt ein Bösewicht,
Nein, fortgewiesen werden; eine Frevlerhand
Darf Götter nicht berühren! Nur der Fromme, der
Unrecht erfahren, sollte fliehn ins Heiligtum,
Und nicht der Böse, wie der Gute, gleiches Recht
An gleicher Stätte nehmen aus der Götter Hand.

Grenzboten III 1393 21
Die ätherische Volksmoral im Drama

in seine Gewalt gefallene Helena zwingen will, seine Gattin zu werden. Helena
fleht zu ihr, sie möge ihrem Bruder den eben angekommnen Gatten Menelaos
nicht verraten und ihrer gemeinsamen Flucht nicht hinderlich sein. U. a.
spricht sie:


Die Gottheit haßt Gewalt; nur wohlerworben Gut
Soll jeglicher besitzen, aber keiner Raub.
Verschmähen muß man ungerechter Schätze Reiz.
Gemeinsam ist der Himmel allen Sterblichen,
Gemein die Erde; mehrt den Schatz in euerm Haus,
Doch rühret nicht an Fremdes, raubt nicht mit Gewalt!.....
Mich gab, o Jungfrau, glücklich und unglücklich einst
Hermes in deines Vaters Hciud, daß dem Gemahl
Er mich bewahrte. Dieser kommt und fordert mich,
Und Tod foll er hier finden?.....
Neu,? Scheue Proteus Schatten und die Himmlischen!
Würd' auch ein Gott und würde dein Erzeuger wohl
Also verweigern ein ihm ciuvertrautes Gut?
Ich zweifle. Sei denn dir anch, Jungfrau, weniger
Des Bruders Thorheit als der edle Vater wert!
Bist du des Götterrates kundge Seherin,
Und ansteht doch den rühmlichen Erzeuger nicht,
Um deinem ungerechten Bruder hold zu sein.
So ist dirs Schmach, zu kennen alles Göttliche,
Was ist und nicht ist, aber Pflicht und Tugend nicht.....

Nachdem noch Menelaos gesprochen hat, entscheidet TheonoL:


Ich liebe Gutes von Natur, und will es auch,
Weil ich mich selbst hochachte. Meines Vaters Ruhm
Werd ich nicht schänden, noch dem Bruder eine Gunst
Gewähren, die mir künftig Schmach bereitete.
Ein großes, lautres Heiligtum des Rechtes ist
In meiner Brust hier, das mir Nereus Huld geliehn.
Und das ich, Menelaos, treu bewachen will.

Daß es endlich nicht sowohl das Äußerliche, die That, als das Innerliche,
die Gesinnung ist, was den Göttern wohlgefällig oder mißfällig macht, ver¬
nehmen wir u. a. aus dem Orestes des Euripides. „Ich habe reine Hände!"
beteuert Menelaos; „doch kein reines Herz," erwidert Orest. Diese unbedingt
verpflichtende Macht des Guten voraussetzend, findet es Ion höchst ungeziemend,
daß das Heiligtum auch Frevlern als Asyl offen stehe:


Schlimm, daß ein Gott den Menschen nicht, wies billig ist,
Und nicht in weisheitsvollen Sinn Gesetze gab!
Denn nicht am Altar sitzen sollt ein Bösewicht,
Nein, fortgewiesen werden; eine Frevlerhand
Darf Götter nicht berühren! Nur der Fromme, der
Unrecht erfahren, sollte fliehn ins Heiligtum,
Und nicht der Böse, wie der Gute, gleiches Recht
An gleicher Stätte nehmen aus der Götter Hand.

Grenzboten III 1393 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215259"/>
          <fw type="header" place="top"> Die ätherische Volksmoral im Drama</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_551" prev="#ID_550"> in seine Gewalt gefallene Helena zwingen will, seine Gattin zu werden. Helena<lb/>
fleht zu ihr, sie möge ihrem Bruder den eben angekommnen Gatten Menelaos<lb/>
nicht verraten und ihrer gemeinsamen Flucht nicht hinderlich sein. U. a.<lb/>
spricht sie:</p><lb/>
          <quote> Die Gottheit haßt Gewalt; nur wohlerworben Gut<lb/>
Soll jeglicher besitzen, aber keiner Raub.<lb/>
Verschmähen muß man ungerechter Schätze Reiz.<lb/>
Gemeinsam ist der Himmel allen Sterblichen,<lb/>
Gemein die Erde; mehrt den Schatz in euerm Haus,<lb/>
Doch rühret nicht an Fremdes, raubt nicht mit Gewalt!.....<lb/>
Mich gab, o Jungfrau, glücklich und unglücklich einst<lb/>
Hermes in deines Vaters Hciud, daß dem Gemahl<lb/>
Er mich bewahrte.  Dieser kommt und fordert mich,<lb/>
Und Tod foll er hier finden?.....<lb/>
Neu,? Scheue Proteus Schatten und die Himmlischen!<lb/>
Würd' auch ein Gott und würde dein Erzeuger wohl<lb/>
Also verweigern ein ihm ciuvertrautes Gut?<lb/>
Ich zweifle.  Sei denn dir anch, Jungfrau, weniger<lb/>
Des Bruders Thorheit als der edle Vater wert!<lb/>
Bist du des Götterrates kundge Seherin,<lb/>
Und ansteht doch den rühmlichen Erzeuger nicht,<lb/>
Um deinem ungerechten Bruder hold zu sein.<lb/>
So ist dirs Schmach, zu kennen alles Göttliche,<lb/>
Was ist und nicht ist, aber Pflicht und Tugend nicht.....</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_552" next="#ID_553"> Nachdem noch Menelaos gesprochen hat, entscheidet TheonoL:</p><lb/>
          <quote> Ich liebe Gutes von Natur, und will es auch,<lb/>
Weil ich mich selbst hochachte.  Meines Vaters Ruhm<lb/>
Werd ich nicht schänden, noch dem Bruder eine Gunst<lb/>
Gewähren, die mir künftig Schmach bereitete.<lb/>
Ein großes, lautres Heiligtum des Rechtes ist<lb/>
In meiner Brust hier, das mir Nereus Huld geliehn.<lb/>
Und das ich, Menelaos, treu bewachen will.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_553" prev="#ID_552"> Daß es endlich nicht sowohl das Äußerliche, die That, als das Innerliche,<lb/>
die Gesinnung ist, was den Göttern wohlgefällig oder mißfällig macht, ver¬<lb/>
nehmen wir u. a. aus dem Orestes des Euripides. &#x201E;Ich habe reine Hände!"<lb/>
beteuert Menelaos; &#x201E;doch kein reines Herz," erwidert Orest. Diese unbedingt<lb/>
verpflichtende Macht des Guten voraussetzend, findet es Ion höchst ungeziemend,<lb/>
daß das Heiligtum auch Frevlern als Asyl offen stehe:</p><lb/>
          <quote> Schlimm, daß ein Gott den Menschen nicht, wies billig ist,<lb/>
Und nicht in weisheitsvollen Sinn Gesetze gab!<lb/>
Denn nicht am Altar sitzen sollt ein Bösewicht,<lb/>
Nein, fortgewiesen werden; eine Frevlerhand<lb/>
Darf Götter nicht berühren! Nur der Fromme, der<lb/>
Unrecht erfahren, sollte fliehn ins Heiligtum,<lb/>
Und nicht der Böse, wie der Gute, gleiches Recht<lb/>
An gleicher Stätte nehmen aus der Götter Hand.</quote><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1393 21</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Die ätherische Volksmoral im Drama in seine Gewalt gefallene Helena zwingen will, seine Gattin zu werden. Helena fleht zu ihr, sie möge ihrem Bruder den eben angekommnen Gatten Menelaos nicht verraten und ihrer gemeinsamen Flucht nicht hinderlich sein. U. a. spricht sie: Die Gottheit haßt Gewalt; nur wohlerworben Gut Soll jeglicher besitzen, aber keiner Raub. Verschmähen muß man ungerechter Schätze Reiz. Gemeinsam ist der Himmel allen Sterblichen, Gemein die Erde; mehrt den Schatz in euerm Haus, Doch rühret nicht an Fremdes, raubt nicht mit Gewalt!..... Mich gab, o Jungfrau, glücklich und unglücklich einst Hermes in deines Vaters Hciud, daß dem Gemahl Er mich bewahrte. Dieser kommt und fordert mich, Und Tod foll er hier finden?..... Neu,? Scheue Proteus Schatten und die Himmlischen! Würd' auch ein Gott und würde dein Erzeuger wohl Also verweigern ein ihm ciuvertrautes Gut? Ich zweifle. Sei denn dir anch, Jungfrau, weniger Des Bruders Thorheit als der edle Vater wert! Bist du des Götterrates kundge Seherin, Und ansteht doch den rühmlichen Erzeuger nicht, Um deinem ungerechten Bruder hold zu sein. So ist dirs Schmach, zu kennen alles Göttliche, Was ist und nicht ist, aber Pflicht und Tugend nicht..... Nachdem noch Menelaos gesprochen hat, entscheidet TheonoL: Ich liebe Gutes von Natur, und will es auch, Weil ich mich selbst hochachte. Meines Vaters Ruhm Werd ich nicht schänden, noch dem Bruder eine Gunst Gewähren, die mir künftig Schmach bereitete. Ein großes, lautres Heiligtum des Rechtes ist In meiner Brust hier, das mir Nereus Huld geliehn. Und das ich, Menelaos, treu bewachen will. Daß es endlich nicht sowohl das Äußerliche, die That, als das Innerliche, die Gesinnung ist, was den Göttern wohlgefällig oder mißfällig macht, ver¬ nehmen wir u. a. aus dem Orestes des Euripides. „Ich habe reine Hände!" beteuert Menelaos; „doch kein reines Herz," erwidert Orest. Diese unbedingt verpflichtende Macht des Guten voraussetzend, findet es Ion höchst ungeziemend, daß das Heiligtum auch Frevlern als Asyl offen stehe: Schlimm, daß ein Gott den Menschen nicht, wies billig ist, Und nicht in weisheitsvollen Sinn Gesetze gab! Denn nicht am Altar sitzen sollt ein Bösewicht, Nein, fortgewiesen werden; eine Frevlerhand Darf Götter nicht berühren! Nur der Fromme, der Unrecht erfahren, sollte fliehn ins Heiligtum, Und nicht der Böse, wie der Gute, gleiches Recht An gleicher Stätte nehmen aus der Götter Hand. Grenzboten III 1393 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/169>, abgerufen am 24.11.2024.