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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Mas lehren uns die Wahlen?

herauszufinden! Der Wähler, der es ernst meint, muß zuweilen zu glauben
geneigt sein, daß der Staat, der die Entscheidung vertrauensvoll in seine Hunde
legt, doch allzuviel von ihm verlange. Manche Kandidaten schmücken sich noch
nebenbei, um ihm das Leben recht schwer zu machen, mit allerlei persönlichen
Anschauungen, die sie nicht versäumen ihm vorzutragen, reiten irgend ein
Steckenpferd oder schwärmen für irgend eine noch nicht dagewesene Lieblings-
stener. 180 Stichwahlen sind die Folge der großen Zahl der Parteien und
Kandidaturen gewesen, und nach einer in den Zeitungen erschienenen Rechnung
waren uns insgesamt 1401 Kandidaten beschert worden, wenn nicht etwa,
was leicht möglich ist, noch einige vergessen sein sollten. Das schöne Er¬
gebnis all dieser Wahlen ist ein ganz neuer Reichstag, auf den jeder, dem
es beliebt, so viel Hoffnungen setzen kann, wie der Wucherer Zahlen auf einen
Blankowechsel.

Mau könnte nun immerhin mit all den sauern Anstrengungen der Wahlen
noch zufrieden sein, wenn man nun wirklich wüßte, woran man wäre. Es
ist merkwürdig, wie wenig die Reichstagswahl die Volksmeinung gerade in
der Frage, die zunächst auf der Tagesordnung stand, zum klaren und unzwei¬
deutigen Ausdruck gebracht hat. Die ganze Zerfahrenheit unsrer Zustünde
wird durch nichts besser gekennzeichnet als durch die bis zum letzten Augen¬
blicke andauernde Unsicherheit über das Schicksal der Militürvvrlage. Bor
dem 15. Juni konnte niemand wissen, ob die Ja- oder Neinsager die Mehr¬
heit bekommen würden. Nach diesem Tage wagte man es, die Anzahl der
Freunde der Vorlage auf vier, fünf oder zehn mehr als die der Gegner zu
schützen. Aber es mußten die Stichwahlen abgewartet werden, deren Ausgang
ebenfalls nicht mit völliger Sicherheit vorauszusehen war. Ja selbst nach
Beendigung des ganzen Wahlgeschüfts konnten noch Zweifel laut werden, ob
nicht verschiedne Abgeordnete, die für Freunde gehalten worden waren, viel¬
mehr Feinde der Heeresverstärknng wären. Also bei einer so wichtigen An¬
gelegenheit wie der Sicherheit des Reichs nud der Bedeutung seiner euro¬
päische" Machtstellung bleibt es wie bei einem Hazardspiel lange Zeit im un¬
klaren, ob die rollenden Würfel auf Gerade oder Ungerade zu fallen geruhen.
Und nach der Wahl müssen zwar die Neinsager zugestehen, daß sich eine
Mehrheit von Abgeordneten für die Vorlage finden werde, aber sie können
mit einem Schein des Rechts behaupten, daß sich der größere Teil des Volks
dagegen entschieden habe, weil 2-300000 Stimmen mehr dagegen als dafür
gezählt werden könnten. Sind das erfreuliche Zustände? Wo steckt der Fehler?

Es war ein großer Irrtum, anzunehmen, daß es sich bei dieser Neichs-
tagswahl ausschließlich oder auch nur in erster Linie um die Annahme oder
Ablehnung der nach Herrn von Humes Antrügen abgeänderten Vorlage ge¬
dreht habe. Das Volk interessirte sich keineswegs in demselben Grade wie
die Sachverständigen vom Militär für das Schicksal des "Antrags Hume."


Mas lehren uns die Wahlen?

herauszufinden! Der Wähler, der es ernst meint, muß zuweilen zu glauben
geneigt sein, daß der Staat, der die Entscheidung vertrauensvoll in seine Hunde
legt, doch allzuviel von ihm verlange. Manche Kandidaten schmücken sich noch
nebenbei, um ihm das Leben recht schwer zu machen, mit allerlei persönlichen
Anschauungen, die sie nicht versäumen ihm vorzutragen, reiten irgend ein
Steckenpferd oder schwärmen für irgend eine noch nicht dagewesene Lieblings-
stener. 180 Stichwahlen sind die Folge der großen Zahl der Parteien und
Kandidaturen gewesen, und nach einer in den Zeitungen erschienenen Rechnung
waren uns insgesamt 1401 Kandidaten beschert worden, wenn nicht etwa,
was leicht möglich ist, noch einige vergessen sein sollten. Das schöne Er¬
gebnis all dieser Wahlen ist ein ganz neuer Reichstag, auf den jeder, dem
es beliebt, so viel Hoffnungen setzen kann, wie der Wucherer Zahlen auf einen
Blankowechsel.

Mau könnte nun immerhin mit all den sauern Anstrengungen der Wahlen
noch zufrieden sein, wenn man nun wirklich wüßte, woran man wäre. Es
ist merkwürdig, wie wenig die Reichstagswahl die Volksmeinung gerade in
der Frage, die zunächst auf der Tagesordnung stand, zum klaren und unzwei¬
deutigen Ausdruck gebracht hat. Die ganze Zerfahrenheit unsrer Zustünde
wird durch nichts besser gekennzeichnet als durch die bis zum letzten Augen¬
blicke andauernde Unsicherheit über das Schicksal der Militürvvrlage. Bor
dem 15. Juni konnte niemand wissen, ob die Ja- oder Neinsager die Mehr¬
heit bekommen würden. Nach diesem Tage wagte man es, die Anzahl der
Freunde der Vorlage auf vier, fünf oder zehn mehr als die der Gegner zu
schützen. Aber es mußten die Stichwahlen abgewartet werden, deren Ausgang
ebenfalls nicht mit völliger Sicherheit vorauszusehen war. Ja selbst nach
Beendigung des ganzen Wahlgeschüfts konnten noch Zweifel laut werden, ob
nicht verschiedne Abgeordnete, die für Freunde gehalten worden waren, viel¬
mehr Feinde der Heeresverstärknng wären. Also bei einer so wichtigen An¬
gelegenheit wie der Sicherheit des Reichs nud der Bedeutung seiner euro¬
päische» Machtstellung bleibt es wie bei einem Hazardspiel lange Zeit im un¬
klaren, ob die rollenden Würfel auf Gerade oder Ungerade zu fallen geruhen.
Und nach der Wahl müssen zwar die Neinsager zugestehen, daß sich eine
Mehrheit von Abgeordneten für die Vorlage finden werde, aber sie können
mit einem Schein des Rechts behaupten, daß sich der größere Teil des Volks
dagegen entschieden habe, weil 2-300000 Stimmen mehr dagegen als dafür
gezählt werden könnten. Sind das erfreuliche Zustände? Wo steckt der Fehler?

Es war ein großer Irrtum, anzunehmen, daß es sich bei dieser Neichs-
tagswahl ausschließlich oder auch nur in erster Linie um die Annahme oder
Ablehnung der nach Herrn von Humes Antrügen abgeänderten Vorlage ge¬
dreht habe. Das Volk interessirte sich keineswegs in demselben Grade wie
die Sachverständigen vom Militär für das Schicksal des „Antrags Hume."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/155>, abgerufen am 23.11.2024.