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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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!Vas lehren uns die Wahlen?

der Erleichterung. Nicht nur Freisinn und Sozialdemokratie bilden kräftig
agitirt, auch die sogenannten staatserhaltenden Parteien haben diesmal ge¬
zeigt, wie viel sie von den Radikalen gelernt haben. Die Starke der Wahl-
bcwcgnng wäre am besten durch den Massenverbrauch von Papier und Drucker¬
schwärze festzustellen, die sie gekostet hat; zentnerweise wie noch nie sind die Flug¬
schriften von hüben und drüben ins deutsche Land gegangen. In dem einen
Punkte scheinen wir Deutschen einig geworden zu sein, daß wir ohne lebhafte
Agitation durch Rede und Schrift nicht mehr regiert werden können; so konser¬
vativ ist keiner mehr, daß er nicht agitirte, denn allgemein wird es für nötig
gehalten, das Volk bis auf den letzten Mann "aufzuklären," selbst die Re¬
gierung muß uns aufklären, um ihren Willen durchzusetzen, und Aufklärung
und Agitation gehen Hand in Hand. Es handelt sich aber vor allem darum,
uns aufzuklären, für welche von all den ehrliebenden Parteien wir stimmen,
und welchen von all den achtuugswerten Kandidaten wir wählen sollen, und
das ist keine Kleinigkeit, die umstrittenen Wähler haben die Wahl und die Qual.

Wenn man sich damit begnügte, massenhaft zu reden, zu predigen, zu
drucken, möchte der bittere Nachgeschmack einer solchen Wahl noch einigermaßen
erträglich sein, aber Krieg ist Krieg, und im Kriege kann es überhaupt mit
den angewandten Mitteln nicht so genau genommen werden. Notlügen sind
von jeher erlaubt gewesen, und Wahllügen gelten fast als Notlügen. Es
bleibt nicht bei allerlei Kniffen und Pfiffen, auf die sich unsre in der Reklame
und der Technik so bewanderte Zeit natürlich ausgezeichnet versteht. Warum
sollte nicht der Herr auf den Diener, der Unternehmer auf den Arbeiter, der
"Genosse" auf den "Genossen" seinen "Einfluß" ausüben, auch wenn er mit
einem "gelinden Druck" verbunden ist? Der Herr freut sich, wenn er es er¬
reicht, daß seine Leute abstimmen, wie er will, aber er bedenkt nicht, daß sie
gerade durch sein Verhalten die Wichtigkeit des Wahlzcttels gewahr werden,
und daß sie leicht auf den Einfall kommen können, sich einmal in einem ihm
nicht genehmen Sinn an der Wahl zu beteiligen. Durch die mancherlei Wahl¬
unregelmäßigkeiten, von deuen die Zeitungen berichten, wird auch ein gewisses
Mißtrauen gegen die völlige Richtigkeit der Wahlergebnisse erzeugt, besonders
wenn die Mehrheit der siegenden Kandidaten nur ganz gering ist. Alle solche
Dinge sind nicht geeignet, die Volksmoral zu erhöhen. Aber freilich ist das
Wählen nicht zu dem besondern Zweck erfunden worden, das Volk moralischer
zu machen.

Was diese Juniwahlcn außer der vielen Agitation und den, wie es
scheint, vielen Unregelmäßigkeiten, an die sich nun Wahlproteste anschließen
werden, noch auszeichnete, sind die vielen Parteien und Parteischattirungen
und die vielen Kandidaturen nebst den vielen Stichwahlen. Was für eine
schwere Aufgabe ist es für den armen Wühler, der sich wirklich eine eigne
Meinung bilden will, unter den verschiednen Parteiprogrammen das beste


!Vas lehren uns die Wahlen?

der Erleichterung. Nicht nur Freisinn und Sozialdemokratie bilden kräftig
agitirt, auch die sogenannten staatserhaltenden Parteien haben diesmal ge¬
zeigt, wie viel sie von den Radikalen gelernt haben. Die Starke der Wahl-
bcwcgnng wäre am besten durch den Massenverbrauch von Papier und Drucker¬
schwärze festzustellen, die sie gekostet hat; zentnerweise wie noch nie sind die Flug¬
schriften von hüben und drüben ins deutsche Land gegangen. In dem einen
Punkte scheinen wir Deutschen einig geworden zu sein, daß wir ohne lebhafte
Agitation durch Rede und Schrift nicht mehr regiert werden können; so konser¬
vativ ist keiner mehr, daß er nicht agitirte, denn allgemein wird es für nötig
gehalten, das Volk bis auf den letzten Mann „aufzuklären," selbst die Re¬
gierung muß uns aufklären, um ihren Willen durchzusetzen, und Aufklärung
und Agitation gehen Hand in Hand. Es handelt sich aber vor allem darum,
uns aufzuklären, für welche von all den ehrliebenden Parteien wir stimmen,
und welchen von all den achtuugswerten Kandidaten wir wählen sollen, und
das ist keine Kleinigkeit, die umstrittenen Wähler haben die Wahl und die Qual.

Wenn man sich damit begnügte, massenhaft zu reden, zu predigen, zu
drucken, möchte der bittere Nachgeschmack einer solchen Wahl noch einigermaßen
erträglich sein, aber Krieg ist Krieg, und im Kriege kann es überhaupt mit
den angewandten Mitteln nicht so genau genommen werden. Notlügen sind
von jeher erlaubt gewesen, und Wahllügen gelten fast als Notlügen. Es
bleibt nicht bei allerlei Kniffen und Pfiffen, auf die sich unsre in der Reklame
und der Technik so bewanderte Zeit natürlich ausgezeichnet versteht. Warum
sollte nicht der Herr auf den Diener, der Unternehmer auf den Arbeiter, der
„Genosse" auf den „Genossen" seinen „Einfluß" ausüben, auch wenn er mit
einem „gelinden Druck" verbunden ist? Der Herr freut sich, wenn er es er¬
reicht, daß seine Leute abstimmen, wie er will, aber er bedenkt nicht, daß sie
gerade durch sein Verhalten die Wichtigkeit des Wahlzcttels gewahr werden,
und daß sie leicht auf den Einfall kommen können, sich einmal in einem ihm
nicht genehmen Sinn an der Wahl zu beteiligen. Durch die mancherlei Wahl¬
unregelmäßigkeiten, von deuen die Zeitungen berichten, wird auch ein gewisses
Mißtrauen gegen die völlige Richtigkeit der Wahlergebnisse erzeugt, besonders
wenn die Mehrheit der siegenden Kandidaten nur ganz gering ist. Alle solche
Dinge sind nicht geeignet, die Volksmoral zu erhöhen. Aber freilich ist das
Wählen nicht zu dem besondern Zweck erfunden worden, das Volk moralischer
zu machen.

Was diese Juniwahlcn außer der vielen Agitation und den, wie es
scheint, vielen Unregelmäßigkeiten, an die sich nun Wahlproteste anschließen
werden, noch auszeichnete, sind die vielen Parteien und Parteischattirungen
und die vielen Kandidaturen nebst den vielen Stichwahlen. Was für eine
schwere Aufgabe ist es für den armen Wühler, der sich wirklich eine eigne
Meinung bilden will, unter den verschiednen Parteiprogrammen das beste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/154>, abgerufen am 01.09.2024.