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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lage

unzufriedne Arbeiter, Strolche, Schmarotzer aller Art mehr bekommen und zu
deren Bewachung so und so viel tausend Soldaten und Polizeibeamte bezahlen,
für ihre Unterbringung so und so viel Zuchthäuser, Irrenhäuser und Siechen-
häuser bauen und unterhalten müssen. Wenn dagegen der Überschuß alljähr¬
lich auswanderte, so würde uns alljährlich ein neues deutsches Volk von
kräftigen Baktern zuwachsen, die zugleich Abnehmer unsrer Jndustrieerzengnisse
sein würden. Und das wäre ein Zuwachs nicht allein voll Reichtum, sondern
auch von politischer Macht. Oder glaubt man, daß Rußland noch einen Krieg
gegen uns führen könnte, wenn es zehn Millionen Deutsche in seinem Schoße
hegte? Man eröffne dem deutschen Volke die Aussicht, daß die Rüstungen
auf eine solche Verbreiterung seiner wirtschaftlichen Grundlage abzielen, und
es wird die Militärvorlage mit Jubel bewilligen. Für einen greifbaren hohen
Zweck zu opfern läßt es sich ganz gewiß bereit finden.

Vor vierzehn Tagen ist an dieser Stelle auf die dem deutschen Volte ur¬
eigne Kriegslilst hingewiesen worden, die mit Friedensgcschwätz und polizeilich
erzwungner Philistersittsamkeit dämpfen zu wollen höchst unpolitisch sei. Sehr
richtig; nur scheint uns die Sache ein wenig anders zu liegen, als sie der
Verfasser jenes Artikels auffaßt. Der Krieg, wie er hente geführt wird, kann
dem kampflustigen Ritter so wenig Freude machen wie dem rauflustigen Burschen.
Nur das Ringen Brust an Brust, das Hauen und Stechen auf den Leib des
Gegners, wobei man dessen Blut spritzen sieht, befriedigt diesen Trieb; auf
Kommando im Kugelregen still stehen, oder ans Feinde schießen, die zwei¬
tausend Fuß weit entfernt stehen, dürfte schwerlich ein Vergnügen sein. Dennoch
würde der Krieg als Erlösung von unerträglichem Drucke wirken und, wenn
anch nicht um seiner selbst willen, so doch als Mittel zum Zweck mit Jubel
begrüßt werden. Was bei uns Millionen vor Wut wahnsinnig macht, ist das
Bewußtsein, die Empfindung, daß sie etwas tüchtiges leisten, sich eine an¬
ständige Existenz gründen könnten, daran aber durch die Verhältnisse gehindert
werden. Anstatt ein Brachfeld umzupflügen und sich und den Seinen ein
schönes Heim zu gründen, muß so mancher starke junge Mann in einer Gift¬
hütte Fcirbeu kochen lind dabei schwindsüchtig werden oder in einer Penne ver¬
faulen. Die Spannkraft, die ihn treibt, Widerstünde zu besiegen, und wovon
die Rauflust nur eine spielerische Äußerung ist, wird durch den Druck der
Verhältnisse in selbstmörderischen Gram oder giftigen Neid oder boshafte Mord-
lust umgesetzt. In England ist zwar durch die Selbstsucht der herrschenden
Klassen die Hälfte des Volks ähnlichem Siechtum verfallen, die andre Hälfte
aber, die sich die natürliche Spannkraft bewahrt hat, ist so glücklich, durch
keinerlei Schranken eingeengt zu werden, und so genügen denn ihrem Expmi-
sionsbedürfnis kaum alle fünf Weltteile; dein deutschen, an und für sich ganz
ebenso kräftigen und noch reicher begabten Volke sollen seine neuntausend
Quadratmeilen genügen! Der gesunde Junge steckt in der Zwangsjacke; er


Zur Lage

unzufriedne Arbeiter, Strolche, Schmarotzer aller Art mehr bekommen und zu
deren Bewachung so und so viel tausend Soldaten und Polizeibeamte bezahlen,
für ihre Unterbringung so und so viel Zuchthäuser, Irrenhäuser und Siechen-
häuser bauen und unterhalten müssen. Wenn dagegen der Überschuß alljähr¬
lich auswanderte, so würde uns alljährlich ein neues deutsches Volk von
kräftigen Baktern zuwachsen, die zugleich Abnehmer unsrer Jndustrieerzengnisse
sein würden. Und das wäre ein Zuwachs nicht allein voll Reichtum, sondern
auch von politischer Macht. Oder glaubt man, daß Rußland noch einen Krieg
gegen uns führen könnte, wenn es zehn Millionen Deutsche in seinem Schoße
hegte? Man eröffne dem deutschen Volke die Aussicht, daß die Rüstungen
auf eine solche Verbreiterung seiner wirtschaftlichen Grundlage abzielen, und
es wird die Militärvorlage mit Jubel bewilligen. Für einen greifbaren hohen
Zweck zu opfern läßt es sich ganz gewiß bereit finden.

Vor vierzehn Tagen ist an dieser Stelle auf die dem deutschen Volte ur¬
eigne Kriegslilst hingewiesen worden, die mit Friedensgcschwätz und polizeilich
erzwungner Philistersittsamkeit dämpfen zu wollen höchst unpolitisch sei. Sehr
richtig; nur scheint uns die Sache ein wenig anders zu liegen, als sie der
Verfasser jenes Artikels auffaßt. Der Krieg, wie er hente geführt wird, kann
dem kampflustigen Ritter so wenig Freude machen wie dem rauflustigen Burschen.
Nur das Ringen Brust an Brust, das Hauen und Stechen auf den Leib des
Gegners, wobei man dessen Blut spritzen sieht, befriedigt diesen Trieb; auf
Kommando im Kugelregen still stehen, oder ans Feinde schießen, die zwei¬
tausend Fuß weit entfernt stehen, dürfte schwerlich ein Vergnügen sein. Dennoch
würde der Krieg als Erlösung von unerträglichem Drucke wirken und, wenn
anch nicht um seiner selbst willen, so doch als Mittel zum Zweck mit Jubel
begrüßt werden. Was bei uns Millionen vor Wut wahnsinnig macht, ist das
Bewußtsein, die Empfindung, daß sie etwas tüchtiges leisten, sich eine an¬
ständige Existenz gründen könnten, daran aber durch die Verhältnisse gehindert
werden. Anstatt ein Brachfeld umzupflügen und sich und den Seinen ein
schönes Heim zu gründen, muß so mancher starke junge Mann in einer Gift¬
hütte Fcirbeu kochen lind dabei schwindsüchtig werden oder in einer Penne ver¬
faulen. Die Spannkraft, die ihn treibt, Widerstünde zu besiegen, und wovon
die Rauflust nur eine spielerische Äußerung ist, wird durch den Druck der
Verhältnisse in selbstmörderischen Gram oder giftigen Neid oder boshafte Mord-
lust umgesetzt. In England ist zwar durch die Selbstsucht der herrschenden
Klassen die Hälfte des Volks ähnlichem Siechtum verfallen, die andre Hälfte
aber, die sich die natürliche Spannkraft bewahrt hat, ist so glücklich, durch
keinerlei Schranken eingeengt zu werden, und so genügen denn ihrem Expmi-
sionsbedürfnis kaum alle fünf Weltteile; dein deutschen, an und für sich ganz
ebenso kräftigen und noch reicher begabten Volke sollen seine neuntausend
Quadratmeilen genügen! Der gesunde Junge steckt in der Zwangsjacke; er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/14>, abgerufen am 24.11.2024.