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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lage

hören, diese Lage so darzustellen, wie es alljährlich in den Thronreden aller
Staaten geschieht: unsre Beziehungen zum Auslande sind die besten, aber zur
Sicherung des Friedens brauchen wir mehr Soldaten. Wir Deutschen sind
keine kleinen Kinder, daß man uns eine Redensart, die einmal als diplo¬
matischer Notbehelf gestattet werden könnte, zwanzig Jahre lang alljährlich
zur Begründung von Gcsetzvorlageu auftischen dürfte. Die den Frieden be¬
drohende Kriegsgefahr ist kein geheimnisvolles, unfaßbares Gespenst, sondern
beruht auf Verhältnissen, die breit und körperlich vor aller Welt Augen da¬
liegen, die deutlich ausgesprochen und entweder auf diplomatischem Wege oder
durch einen Krieg beseitigt werden müssen. Die Redensart vom Rüster zur
Erhaltung des Friedens enthält einen unerträglichen Widersinn. Entweder
die Völker Europas find sämtlich industriell geworden und mögen wirklich keine
Kriege mehr führen, dann sind die Armeen rudimentäre Organe am Volks¬
körper, die vielleicht, gleich den Schwanzbürzelcheu der Hirsche und Rehe, noch
als Verzierung beibehalten werden könnten, aber denen die besten Säfte zuzu¬
führen Tollheit wäre. Oder irgend ein Volk, es mögen auch zwei oder drei
Völker sein, braucht und will den Krieg, dann "stelle" man den Störenfried und
bringe die Sache zur Entscheidung! Soldaten sind zum Kriegführen da, und kann
oder will man sie nicht mehr dazu gebrauchen, dann fort mit ihnen! Zur
Leibesübung reicht die Gymnastik hin und sind weder Magazingewehre noch
Kanonen noch Kasernen nötig, lind was die militärische Erziehung anlangt,
so können Ordnungsliebe und Reinlichkeit auch außerhalb der Kaserne gepflegt
werden, der militärische Gehorsam aber ist, als Eigenschaft eines ganzen Volkes,
eine sehr bedenkliche Tugend; er macht steif, bindet die Initiative und dörrt
den Geist ans. Preußen hat seinen Bedarf an Geist größtenteils aus deu
deutschen Kleinstaaten gedeckt, und unsre Kolonisationsversnche fallen zum
Teil darum so wenig befriedigend aus, weil unserm Volke unter der mili¬
tärischen Dressur die Spannkraft, die Selbständigkeit der Entschließungen, die
Fähigkeit, sich ohne Anweisung von oben in jeder Lage selbst zu helfen
-- Eigenschaften, die den Engländer auszeichnen --, zum Teil verloren ge¬
gangen sind.

Zu dieser innerlichen Bindung tritt aber eine äußere. Der gesunde, in¬
telligente Deutsche, der auswandern möchte, um sich in der Ferne eine Existenz
zu gründen, darf gerade in den Jahren der frischesten Thatkraft und Unter¬
nehmungslust nicht fort. Die Militärpflicht hält ihn zurück, und zudem hat
mau sich daran gewöhnt, jede Auswanderung eines kräftigen Mannes als einen
doppelten Verlust fürs Vaterland anzusehen: außer dem Soldaten, meint man,
gehe auch ein Stück Kapital verloren. Das Gegenteil ist wahr: daheim geht
es verloren! Jeder im Nvlkskörper bleibende Blutstropfen, für deu die ent-
sprechende Verwendung fehlt, schlägt in Eiter um. Unser Volk wird dadurch
wahrlich nicht stärker, daß wir jährlich ein paar hunderttausend verkümmerte,


Zur Lage

hören, diese Lage so darzustellen, wie es alljährlich in den Thronreden aller
Staaten geschieht: unsre Beziehungen zum Auslande sind die besten, aber zur
Sicherung des Friedens brauchen wir mehr Soldaten. Wir Deutschen sind
keine kleinen Kinder, daß man uns eine Redensart, die einmal als diplo¬
matischer Notbehelf gestattet werden könnte, zwanzig Jahre lang alljährlich
zur Begründung von Gcsetzvorlageu auftischen dürfte. Die den Frieden be¬
drohende Kriegsgefahr ist kein geheimnisvolles, unfaßbares Gespenst, sondern
beruht auf Verhältnissen, die breit und körperlich vor aller Welt Augen da¬
liegen, die deutlich ausgesprochen und entweder auf diplomatischem Wege oder
durch einen Krieg beseitigt werden müssen. Die Redensart vom Rüster zur
Erhaltung des Friedens enthält einen unerträglichen Widersinn. Entweder
die Völker Europas find sämtlich industriell geworden und mögen wirklich keine
Kriege mehr führen, dann sind die Armeen rudimentäre Organe am Volks¬
körper, die vielleicht, gleich den Schwanzbürzelcheu der Hirsche und Rehe, noch
als Verzierung beibehalten werden könnten, aber denen die besten Säfte zuzu¬
führen Tollheit wäre. Oder irgend ein Volk, es mögen auch zwei oder drei
Völker sein, braucht und will den Krieg, dann „stelle" man den Störenfried und
bringe die Sache zur Entscheidung! Soldaten sind zum Kriegführen da, und kann
oder will man sie nicht mehr dazu gebrauchen, dann fort mit ihnen! Zur
Leibesübung reicht die Gymnastik hin und sind weder Magazingewehre noch
Kanonen noch Kasernen nötig, lind was die militärische Erziehung anlangt,
so können Ordnungsliebe und Reinlichkeit auch außerhalb der Kaserne gepflegt
werden, der militärische Gehorsam aber ist, als Eigenschaft eines ganzen Volkes,
eine sehr bedenkliche Tugend; er macht steif, bindet die Initiative und dörrt
den Geist ans. Preußen hat seinen Bedarf an Geist größtenteils aus deu
deutschen Kleinstaaten gedeckt, und unsre Kolonisationsversnche fallen zum
Teil darum so wenig befriedigend aus, weil unserm Volke unter der mili¬
tärischen Dressur die Spannkraft, die Selbständigkeit der Entschließungen, die
Fähigkeit, sich ohne Anweisung von oben in jeder Lage selbst zu helfen
— Eigenschaften, die den Engländer auszeichnen —, zum Teil verloren ge¬
gangen sind.

Zu dieser innerlichen Bindung tritt aber eine äußere. Der gesunde, in¬
telligente Deutsche, der auswandern möchte, um sich in der Ferne eine Existenz
zu gründen, darf gerade in den Jahren der frischesten Thatkraft und Unter¬
nehmungslust nicht fort. Die Militärpflicht hält ihn zurück, und zudem hat
mau sich daran gewöhnt, jede Auswanderung eines kräftigen Mannes als einen
doppelten Verlust fürs Vaterland anzusehen: außer dem Soldaten, meint man,
gehe auch ein Stück Kapital verloren. Das Gegenteil ist wahr: daheim geht
es verloren! Jeder im Nvlkskörper bleibende Blutstropfen, für deu die ent-
sprechende Verwendung fehlt, schlägt in Eiter um. Unser Volk wird dadurch
wahrlich nicht stärker, daß wir jährlich ein paar hunderttausend verkümmerte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/13>, abgerufen am 23.11.2024.