Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Nach den Wahlen keiner geringen Verlegenheit, wenn wir -- abgesehen von der Stellung der Wir glaubten bisher, die politische Reife eines Volkes zeige sich darin, Dies zeigt sich nun auch darin, daß Parteien, die sich überlebt, die ihre Es genügt nicht, den unter langjährigen Kämpfen erworbnen Staat mit Vor allem sollte mau dahin streben, der Umsturzpartei die Spitze abzu¬ Nach den Wahlen keiner geringen Verlegenheit, wenn wir — abgesehen von der Stellung der Wir glaubten bisher, die politische Reife eines Volkes zeige sich darin, Dies zeigt sich nun auch darin, daß Parteien, die sich überlebt, die ihre Es genügt nicht, den unter langjährigen Kämpfen erworbnen Staat mit Vor allem sollte mau dahin streben, der Umsturzpartei die Spitze abzu¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0106" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215196"/> <fw type="header" place="top"> Nach den Wahlen</fw><lb/> <p xml:id="ID_360" prev="#ID_359"> keiner geringen Verlegenheit, wenn wir — abgesehen von der Stellung der<lb/> Parteien zur Militärvorlage und von rein persönlichen Gegensätzen — die<lb/> Unterschiede zwischen den drei demokratischen Gruppen: freisinnige Vereinigung,<lb/> freisinnige Volkspartei, süddeutsche Volkspartei angeben nud sie etwa einem<lb/> Ausländer klar machen sollten. Ebenso sind die Unterschiede zwischen den Na¬<lb/> tionalliberalen und der Reichspartei so fein, daß der Zweifel wohl berechtigt<lb/> sein dürfte, ob die Spaltung gerechtfertigt werden könnte. Und trotz aller Spe-<lb/> zialisirung noch eine Gruppe von Wilden? Ist es etwa die Partei der poli¬<lb/> tischen Sonderlinge, die nirgends eine Zuflucht finden können? Da lobe ich<lb/> mir die Sozialdemokraten, das Zentrum und die Deutschkonservativen. Da<lb/> weiß mau doch, wo und wie. Da liegt die Existenzberechtigung doch<lb/> zu Tage.</p><lb/> <p xml:id="ID_361"> Wir glaubten bisher, die politische Reife eines Volkes zeige sich darin,<lb/> daß die Hauptpunkte von den Nebendingen scharf geschieden würden, und das;<lb/> um die verschiedne Auffassung in den Hauptpunkten die Parteigruppirung<lb/> stattfinde. Sie tritt ja in der politischen Entwicklung nicht sofort und nicht<lb/> immer mit voller Schärfe hervor; aber ein gesunder Entwicklungsprozeß sollte<lb/> sie doch in immer hellere Beleuchtung rücken. Ist dies bei uns der Fall?<lb/> Es scheint nicht so. Denn eine gesunde Entwicklung wird ans eine Verein¬<lb/> fachung, auf einen Zusammenschluß der gleichen Bestandteile führen, nicht auf<lb/> eine Zunahme der Zersplitterung und Vereinzelung. In dieser spiegelt sich<lb/> vielmehr die ganze Rat- und Zuchtlosigkeit des Volkes in politischen Dingen.</p><lb/> <p xml:id="ID_362"> Dies zeigt sich nun auch darin, daß Parteien, die sich überlebt, die ihre<lb/> Mission erfüllt haben, nur kraft der Gewohnheit noch weiter erhalten werden.<lb/> Reif für den Untergang, leben sie doch noch fort in den überkommuen, nun¬<lb/> mehr leer gewordnen Formen. Nur dann, wenn sie einen neuen, lebensvollen<lb/> Inhalt gewinnen könnten, würden sie das Recht auf ihr Fortbestehen erwerben.</p><lb/> <p xml:id="ID_363"> Es genügt nicht, den unter langjährigen Kämpfen erworbnen Staat mit<lb/> seiner Verfassung gegen Angriffe zu verteidigen, sondern ihn lebenskräftig zu<lb/> erhalten. Der Umsturzpartei gegenüber, die sich auf den Boden der Republik<lb/> stellt, genügt es nicht, zu sagen, wir wollen die bestehende Ordnung schützen,<lb/> denn dabei kann sie allmählich immer mehr an Boden verlieren, bis sie ihn<lb/> unter sich zusammenstürzen fühlt, fondern es gilt, der bestehenden Ordnung<lb/> immer neue Grundlagen zu geben und sie so Tag für Tag neu zu erobern.</p><lb/> <p xml:id="ID_364"> Vor allem sollte mau dahin streben, der Umsturzpartei die Spitze abzu¬<lb/> brechen, indem man wichtige Punkte ihres Programms zu den eignen macht.<lb/> Wo aber zeigte sich in der letzten Bewegung auch nur ein leiser Ansatz hierzu?<lb/> „Tod bis aufs Messer" hörte man in der Wahlbewegung den Sozialdemokraten<lb/> entgegenschleudern; als „Erbfeinde" wurden sie verdammt und ausgestoßen<lb/> aus dem nationalen Verband, sodaß sich die Frage auf die Lippe drängte:<lb/> Wie soll das enden?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0106]
Nach den Wahlen
keiner geringen Verlegenheit, wenn wir — abgesehen von der Stellung der
Parteien zur Militärvorlage und von rein persönlichen Gegensätzen — die
Unterschiede zwischen den drei demokratischen Gruppen: freisinnige Vereinigung,
freisinnige Volkspartei, süddeutsche Volkspartei angeben nud sie etwa einem
Ausländer klar machen sollten. Ebenso sind die Unterschiede zwischen den Na¬
tionalliberalen und der Reichspartei so fein, daß der Zweifel wohl berechtigt
sein dürfte, ob die Spaltung gerechtfertigt werden könnte. Und trotz aller Spe-
zialisirung noch eine Gruppe von Wilden? Ist es etwa die Partei der poli¬
tischen Sonderlinge, die nirgends eine Zuflucht finden können? Da lobe ich
mir die Sozialdemokraten, das Zentrum und die Deutschkonservativen. Da
weiß mau doch, wo und wie. Da liegt die Existenzberechtigung doch
zu Tage.
Wir glaubten bisher, die politische Reife eines Volkes zeige sich darin,
daß die Hauptpunkte von den Nebendingen scharf geschieden würden, und das;
um die verschiedne Auffassung in den Hauptpunkten die Parteigruppirung
stattfinde. Sie tritt ja in der politischen Entwicklung nicht sofort und nicht
immer mit voller Schärfe hervor; aber ein gesunder Entwicklungsprozeß sollte
sie doch in immer hellere Beleuchtung rücken. Ist dies bei uns der Fall?
Es scheint nicht so. Denn eine gesunde Entwicklung wird ans eine Verein¬
fachung, auf einen Zusammenschluß der gleichen Bestandteile führen, nicht auf
eine Zunahme der Zersplitterung und Vereinzelung. In dieser spiegelt sich
vielmehr die ganze Rat- und Zuchtlosigkeit des Volkes in politischen Dingen.
Dies zeigt sich nun auch darin, daß Parteien, die sich überlebt, die ihre
Mission erfüllt haben, nur kraft der Gewohnheit noch weiter erhalten werden.
Reif für den Untergang, leben sie doch noch fort in den überkommuen, nun¬
mehr leer gewordnen Formen. Nur dann, wenn sie einen neuen, lebensvollen
Inhalt gewinnen könnten, würden sie das Recht auf ihr Fortbestehen erwerben.
Es genügt nicht, den unter langjährigen Kämpfen erworbnen Staat mit
seiner Verfassung gegen Angriffe zu verteidigen, sondern ihn lebenskräftig zu
erhalten. Der Umsturzpartei gegenüber, die sich auf den Boden der Republik
stellt, genügt es nicht, zu sagen, wir wollen die bestehende Ordnung schützen,
denn dabei kann sie allmählich immer mehr an Boden verlieren, bis sie ihn
unter sich zusammenstürzen fühlt, fondern es gilt, der bestehenden Ordnung
immer neue Grundlagen zu geben und sie so Tag für Tag neu zu erobern.
Vor allem sollte mau dahin streben, der Umsturzpartei die Spitze abzu¬
brechen, indem man wichtige Punkte ihres Programms zu den eignen macht.
Wo aber zeigte sich in der letzten Bewegung auch nur ein leiser Ansatz hierzu?
„Tod bis aufs Messer" hörte man in der Wahlbewegung den Sozialdemokraten
entgegenschleudern; als „Erbfeinde" wurden sie verdammt und ausgestoßen
aus dem nationalen Verband, sodaß sich die Frage auf die Lippe drängte:
Wie soll das enden?
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |