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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Nach den Wahlen

ir können nicht gerade sagen, daß uns die Ergebnisse der Wahlen
mit dem Gefühl der Befriedigung erfüllten. Selbst nachdem eine
sichere Mehrheit für die Heeresverstärkung gewonnen worden zu
sein scheint, mischt sich in das Gefühl der Freude ein bittrer
Tropfen, die Enttäuschung darüber, daß sich mehrere der alten
Parteien mit ihren inhaltslos gewordnen Formen nochmals über Wasser
gehalten haben, und daß die politische Parteizerstllckelung noch größer ge¬
worden ist.")

Denn was für Parteien und für Parteichen treten auf den Plan! Lasten
wir einmal die fünfzehn Gruppen an uns vorüberziehen, geordnet nach der
Zahl der Mitglieder: 1. Zentrum (96), 2. Konservative (74), 3. National¬
liberale (50), 4. Sozialdemokraten (44), 5. deutsche Reichspartei (24), 6. frei-
sinnige Volkspartei (24). 7. Polen (19), 8. Antisemiten (16), 9. freisinnige
Vereinigung-(12), 10. süddeutsche Volkspartei (11). 11. Wilde (9), 12. Welsen
(7), 13. Elsässer Protestler (7). 14. Elsüsser für die Militärvvrlage (3),
15. Däne (1).

Rechnen wir die nichtdeutschen Elemente ab, so bleibt immer noch genug
Zerklüftung übrig, um einen deutlichen Beweis für den Sondergeist zu geben,
der uns Deutschen ja immer eigen war. Am liebsten möchte jeder Deutsche
seinen eignen Kandidaten als Vertreter seiner ureigensten Wünsche, Gedanken
und Neigungen in den Reichstag schicken. Da dies nun nicht gut geht, so
wird eine möglichst große Zahl von Fraktionen und Fraktiönchen eingerichtet,
um den Sondergelüsteu Lust zu machen. Allerdings dürfte es nicht leicht sein,
diesen Stimmungen immer einen Ausdruck zu geben. Wir wären z. B. in



*) Vergl. Grenzboten 1890, 13, Heft: Die zukünftigen Parteien.
Grenzboten III 189313


Nach den Wahlen

ir können nicht gerade sagen, daß uns die Ergebnisse der Wahlen
mit dem Gefühl der Befriedigung erfüllten. Selbst nachdem eine
sichere Mehrheit für die Heeresverstärkung gewonnen worden zu
sein scheint, mischt sich in das Gefühl der Freude ein bittrer
Tropfen, die Enttäuschung darüber, daß sich mehrere der alten
Parteien mit ihren inhaltslos gewordnen Formen nochmals über Wasser
gehalten haben, und daß die politische Parteizerstllckelung noch größer ge¬
worden ist.")

Denn was für Parteien und für Parteichen treten auf den Plan! Lasten
wir einmal die fünfzehn Gruppen an uns vorüberziehen, geordnet nach der
Zahl der Mitglieder: 1. Zentrum (96), 2. Konservative (74), 3. National¬
liberale (50), 4. Sozialdemokraten (44), 5. deutsche Reichspartei (24), 6. frei-
sinnige Volkspartei (24). 7. Polen (19), 8. Antisemiten (16), 9. freisinnige
Vereinigung-(12), 10. süddeutsche Volkspartei (11). 11. Wilde (9), 12. Welsen
(7), 13. Elsässer Protestler (7). 14. Elsüsser für die Militärvvrlage (3),
15. Däne (1).

Rechnen wir die nichtdeutschen Elemente ab, so bleibt immer noch genug
Zerklüftung übrig, um einen deutlichen Beweis für den Sondergeist zu geben,
der uns Deutschen ja immer eigen war. Am liebsten möchte jeder Deutsche
seinen eignen Kandidaten als Vertreter seiner ureigensten Wünsche, Gedanken
und Neigungen in den Reichstag schicken. Da dies nun nicht gut geht, so
wird eine möglichst große Zahl von Fraktionen und Fraktiönchen eingerichtet,
um den Sondergelüsteu Lust zu machen. Allerdings dürfte es nicht leicht sein,
diesen Stimmungen immer einen Ausdruck zu geben. Wir wären z. B. in



*) Vergl. Grenzboten 1890, 13, Heft: Die zukünftigen Parteien.
Grenzboten III 189313
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[0105] [Abbildung] Nach den Wahlen ir können nicht gerade sagen, daß uns die Ergebnisse der Wahlen mit dem Gefühl der Befriedigung erfüllten. Selbst nachdem eine sichere Mehrheit für die Heeresverstärkung gewonnen worden zu sein scheint, mischt sich in das Gefühl der Freude ein bittrer Tropfen, die Enttäuschung darüber, daß sich mehrere der alten Parteien mit ihren inhaltslos gewordnen Formen nochmals über Wasser gehalten haben, und daß die politische Parteizerstllckelung noch größer ge¬ worden ist.") Denn was für Parteien und für Parteichen treten auf den Plan! Lasten wir einmal die fünfzehn Gruppen an uns vorüberziehen, geordnet nach der Zahl der Mitglieder: 1. Zentrum (96), 2. Konservative (74), 3. National¬ liberale (50), 4. Sozialdemokraten (44), 5. deutsche Reichspartei (24), 6. frei- sinnige Volkspartei (24). 7. Polen (19), 8. Antisemiten (16), 9. freisinnige Vereinigung-(12), 10. süddeutsche Volkspartei (11). 11. Wilde (9), 12. Welsen (7), 13. Elsässer Protestler (7). 14. Elsüsser für die Militärvvrlage (3), 15. Däne (1). Rechnen wir die nichtdeutschen Elemente ab, so bleibt immer noch genug Zerklüftung übrig, um einen deutlichen Beweis für den Sondergeist zu geben, der uns Deutschen ja immer eigen war. Am liebsten möchte jeder Deutsche seinen eignen Kandidaten als Vertreter seiner ureigensten Wünsche, Gedanken und Neigungen in den Reichstag schicken. Da dies nun nicht gut geht, so wird eine möglichst große Zahl von Fraktionen und Fraktiönchen eingerichtet, um den Sondergelüsteu Lust zu machen. Allerdings dürfte es nicht leicht sein, diesen Stimmungen immer einen Ausdruck zu geben. Wir wären z. B. in *) Vergl. Grenzboten 1890, 13, Heft: Die zukünftigen Parteien. Grenzboten III 189313

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/105>, abgerufen am 23.11.2024.