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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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proletarierdichter und Proletarierlieder

Es liegt etwas Wahres in dem, was Reich sagt: "Die Wohlfahrt aller
zu erzielen, ohne die Freiheit der einzelnen zu opfern: darin besteht eben das
moderne Problem, dessen Lösung deshalb nicht so einfach ist, als sie manchen
Parteien erscheint." Man begeht aber gewöhnlich den Fehler, die Freiheit in
irgend einer politischen Form zu suchen, während sie unter allen Formen so¬
wohl möglich als unmöglich ist, jede gute Regierung und Verwaltung kann
und muß dem einzelnen ein nach den Umständen wechselndes beträchtliches
Maß von Freiheit, einen Spielraum für seine besondern Neigungen und Fähig¬
keiten lassen; ein unwandelbares absolutes Maß giebt es überhaupt nicht, so
wenig wie eine exakte wissenschaftliche Lösung des Problems. Auch der So¬
zialismus ist an sich nichts weiter als ein Name und ein Schall, er ist nur
eine Form, das Wesentliche ist aber der Inhalt der Form.

Es ist sonderbar, daß man die Sozialdemokratie, die Vertreterin des
Proletariats, fast immer des entsetzlichsten Materialismus und Atheismus be¬
zichtigen hört. An dieser Auffassung ist nur der Umstand schuld, daß sich in
der Partei sehr viele Bekenner der modernsten Philosophie befinden, aber solche
giebt es doch in andern Parteien auch genug. Außerdem treibt die Sozial-
demokratie ein gewisses Doppelspiel mit ihren religiösen und philosophischen
Anschauungen, weil sie ihr nicht Hauptzweck sind, sie sieht ihre eigentliche Auf¬
gabe in der Erringung der politischen Macht. Aber es ist nur Schein, wenn
sich die Sozialdemokratie als ärgste Sünderin der Zeit, wenn sie sich so mate¬
rialistisch und atheistisch wie möglich geberdet. Aus dieser Bewegung, die jetzt
noch Verwirrung und Chaos ist, suchen sich neue Ideale emporzuringen und
Form und Gestalt zu gewinnen. Die sozialdemokratischen Dichter sind nicht
ohne Ideale, zwar singt der "Namenlose":

Aber die Menschheit würde ohne Glauben und Hoffnung zu Grunde gehen,
auch der vierte Stand will seine Ideale habe".

Wer aber bricht bei diesem Ringen
Die Bahn in stolzem, treuem Mut?
Wer muß die schwersten Opfer bringe"?
Der vierte Stand -- die Vordcrhut!
Er läßt im Winde rauschend wehen
Die heilge Fahne "Ideal."

Ebenso ist es mit der angeblichen Feindschaft der Sozialdemokraten gegen das
Christentum, die Sozialdemokratie ist nicht gänzlich unchristlich. Lepp will
zwar ein Kind seines geliebten Proletariats sein und bleiben "bis an sein un-
christliches Ende." Er hat seinen Gedichte" das Motto vorgesetzt: "Wir haben


proletarierdichter und Proletarierlieder

Es liegt etwas Wahres in dem, was Reich sagt: „Die Wohlfahrt aller
zu erzielen, ohne die Freiheit der einzelnen zu opfern: darin besteht eben das
moderne Problem, dessen Lösung deshalb nicht so einfach ist, als sie manchen
Parteien erscheint." Man begeht aber gewöhnlich den Fehler, die Freiheit in
irgend einer politischen Form zu suchen, während sie unter allen Formen so¬
wohl möglich als unmöglich ist, jede gute Regierung und Verwaltung kann
und muß dem einzelnen ein nach den Umständen wechselndes beträchtliches
Maß von Freiheit, einen Spielraum für seine besondern Neigungen und Fähig¬
keiten lassen; ein unwandelbares absolutes Maß giebt es überhaupt nicht, so
wenig wie eine exakte wissenschaftliche Lösung des Problems. Auch der So¬
zialismus ist an sich nichts weiter als ein Name und ein Schall, er ist nur
eine Form, das Wesentliche ist aber der Inhalt der Form.

Es ist sonderbar, daß man die Sozialdemokratie, die Vertreterin des
Proletariats, fast immer des entsetzlichsten Materialismus und Atheismus be¬
zichtigen hört. An dieser Auffassung ist nur der Umstand schuld, daß sich in
der Partei sehr viele Bekenner der modernsten Philosophie befinden, aber solche
giebt es doch in andern Parteien auch genug. Außerdem treibt die Sozial-
demokratie ein gewisses Doppelspiel mit ihren religiösen und philosophischen
Anschauungen, weil sie ihr nicht Hauptzweck sind, sie sieht ihre eigentliche Auf¬
gabe in der Erringung der politischen Macht. Aber es ist nur Schein, wenn
sich die Sozialdemokratie als ärgste Sünderin der Zeit, wenn sie sich so mate¬
rialistisch und atheistisch wie möglich geberdet. Aus dieser Bewegung, die jetzt
noch Verwirrung und Chaos ist, suchen sich neue Ideale emporzuringen und
Form und Gestalt zu gewinnen. Die sozialdemokratischen Dichter sind nicht
ohne Ideale, zwar singt der „Namenlose":

Aber die Menschheit würde ohne Glauben und Hoffnung zu Grunde gehen,
auch der vierte Stand will seine Ideale habe».

Wer aber bricht bei diesem Ringen
Die Bahn in stolzem, treuem Mut?
Wer muß die schwersten Opfer bringe»?
Der vierte Stand — die Vordcrhut!
Er läßt im Winde rauschend wehen
Die heilge Fahne „Ideal."

Ebenso ist es mit der angeblichen Feindschaft der Sozialdemokraten gegen das
Christentum, die Sozialdemokratie ist nicht gänzlich unchristlich. Lepp will
zwar ein Kind seines geliebten Proletariats sein und bleiben „bis an sein un-
christliches Ende." Er hat seinen Gedichte» das Motto vorgesetzt: „Wir haben


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[0085] proletarierdichter und Proletarierlieder Es liegt etwas Wahres in dem, was Reich sagt: „Die Wohlfahrt aller zu erzielen, ohne die Freiheit der einzelnen zu opfern: darin besteht eben das moderne Problem, dessen Lösung deshalb nicht so einfach ist, als sie manchen Parteien erscheint." Man begeht aber gewöhnlich den Fehler, die Freiheit in irgend einer politischen Form zu suchen, während sie unter allen Formen so¬ wohl möglich als unmöglich ist, jede gute Regierung und Verwaltung kann und muß dem einzelnen ein nach den Umständen wechselndes beträchtliches Maß von Freiheit, einen Spielraum für seine besondern Neigungen und Fähig¬ keiten lassen; ein unwandelbares absolutes Maß giebt es überhaupt nicht, so wenig wie eine exakte wissenschaftliche Lösung des Problems. Auch der So¬ zialismus ist an sich nichts weiter als ein Name und ein Schall, er ist nur eine Form, das Wesentliche ist aber der Inhalt der Form. Es ist sonderbar, daß man die Sozialdemokratie, die Vertreterin des Proletariats, fast immer des entsetzlichsten Materialismus und Atheismus be¬ zichtigen hört. An dieser Auffassung ist nur der Umstand schuld, daß sich in der Partei sehr viele Bekenner der modernsten Philosophie befinden, aber solche giebt es doch in andern Parteien auch genug. Außerdem treibt die Sozial- demokratie ein gewisses Doppelspiel mit ihren religiösen und philosophischen Anschauungen, weil sie ihr nicht Hauptzweck sind, sie sieht ihre eigentliche Auf¬ gabe in der Erringung der politischen Macht. Aber es ist nur Schein, wenn sich die Sozialdemokratie als ärgste Sünderin der Zeit, wenn sie sich so mate¬ rialistisch und atheistisch wie möglich geberdet. Aus dieser Bewegung, die jetzt noch Verwirrung und Chaos ist, suchen sich neue Ideale emporzuringen und Form und Gestalt zu gewinnen. Die sozialdemokratischen Dichter sind nicht ohne Ideale, zwar singt der „Namenlose": Aber die Menschheit würde ohne Glauben und Hoffnung zu Grunde gehen, auch der vierte Stand will seine Ideale habe». Wer aber bricht bei diesem Ringen Die Bahn in stolzem, treuem Mut? Wer muß die schwersten Opfer bringe»? Der vierte Stand — die Vordcrhut! Er läßt im Winde rauschend wehen Die heilge Fahne „Ideal." Ebenso ist es mit der angeblichen Feindschaft der Sozialdemokraten gegen das Christentum, die Sozialdemokratie ist nicht gänzlich unchristlich. Lepp will zwar ein Kind seines geliebten Proletariats sein und bleiben „bis an sein un- christliches Ende." Er hat seinen Gedichte» das Motto vorgesetzt: „Wir haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/85>, abgerufen am 01.07.2024.