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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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proletarierdichtor und Proletarierlieder

Hängern nicht ein Ansehen und Einfluß verlieren, im Gegenteil daran gewinnen.
Das Proletariat hat Mitleid mit diesen politischen Verbrechern, und das Mit¬
leid -- sagt Treitschke einmal in seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts
sehr richtig -- ist "immer ein Zeichen ungesunder öffentlicher Zustände." Scheu,
der unzweifelhaft gebildete Andreas Scheu, sah schon von ferne, als er zum
"erwerbs- und besitzlosen Vagabunden" degradirt war, die Hallen des Arbeits¬
hauses winken, bis er sich entschloß, nach England zu ziehen, wo ihn niemand
nach seiner politischen Vergangenheit fragt. Der Staat erscheint diesen Dichtern
als eine "finstre Sphinx": "Lang ist dein Arm, moderner Staat." Man kann
sich vorstellen, wie schwer es ist, einen Mann wie den jetzigen Reichstags¬
abgeordneten Frohne mit den bestehenden Verhältnissen "auszusöhnen," wenn
man erfährt, daß er, des Verbrechens des Hochverrats angeklagt, von dem er
nachher freigesprochen wurde, einst "wie ein gemeiner Verbrecher, öfter mit
solchen zusammengefesselt, ans einem Gefängnis ins andre transportirt wurde."
Er mußte "den Weg von Bensheim nach Lorsch an der Bergstraße unter
Gendarmeriebegleituug, mit Ketten an Händen und Fußen gefesselt, zu Fuß
zurücklegen, trotzdem, daß er an einer schweren Beinwnndc krankte."

Aus Erlebnissen dieser Art ist die zweifellos "tiefempfundne" Gattung
der Gefängnislieder hervorgegangen. Ach, und das Gefängnis bessert diese
Thoren, diese Weltverbesserer nicht. Nicht einmal die Zeit wird ihnen da
drinnen lang. Scheu überreicht "seiner Frau zum Neuen Jahre 1871"
einige Sonette, worin er singt:

Eine solche Gleichgiltigkeit muß den größten Optimisten von Staatsanwalt zur
Verzweiflung bringen. Das Gefängnis scheint diese kranken Leute, anstatt sie
zu kuriren, unheilbar zu machen. Als Gefangne denken sie beständig an die
schöne Freiheit, der all ihr Sinnen und all ihre Lieder gelten. Ans dem Ge¬
fängnis dichtet Scheu:

Der Leib läßt sich in Banden legen, aber der Geist bleibt frei:


proletarierdichtor und Proletarierlieder

Hängern nicht ein Ansehen und Einfluß verlieren, im Gegenteil daran gewinnen.
Das Proletariat hat Mitleid mit diesen politischen Verbrechern, und das Mit¬
leid — sagt Treitschke einmal in seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts
sehr richtig — ist „immer ein Zeichen ungesunder öffentlicher Zustände." Scheu,
der unzweifelhaft gebildete Andreas Scheu, sah schon von ferne, als er zum
„erwerbs- und besitzlosen Vagabunden" degradirt war, die Hallen des Arbeits¬
hauses winken, bis er sich entschloß, nach England zu ziehen, wo ihn niemand
nach seiner politischen Vergangenheit fragt. Der Staat erscheint diesen Dichtern
als eine „finstre Sphinx": „Lang ist dein Arm, moderner Staat." Man kann
sich vorstellen, wie schwer es ist, einen Mann wie den jetzigen Reichstags¬
abgeordneten Frohne mit den bestehenden Verhältnissen „auszusöhnen," wenn
man erfährt, daß er, des Verbrechens des Hochverrats angeklagt, von dem er
nachher freigesprochen wurde, einst „wie ein gemeiner Verbrecher, öfter mit
solchen zusammengefesselt, ans einem Gefängnis ins andre transportirt wurde."
Er mußte „den Weg von Bensheim nach Lorsch an der Bergstraße unter
Gendarmeriebegleituug, mit Ketten an Händen und Fußen gefesselt, zu Fuß
zurücklegen, trotzdem, daß er an einer schweren Beinwnndc krankte."

Aus Erlebnissen dieser Art ist die zweifellos „tiefempfundne" Gattung
der Gefängnislieder hervorgegangen. Ach, und das Gefängnis bessert diese
Thoren, diese Weltverbesserer nicht. Nicht einmal die Zeit wird ihnen da
drinnen lang. Scheu überreicht „seiner Frau zum Neuen Jahre 1871"
einige Sonette, worin er singt:

Eine solche Gleichgiltigkeit muß den größten Optimisten von Staatsanwalt zur
Verzweiflung bringen. Das Gefängnis scheint diese kranken Leute, anstatt sie
zu kuriren, unheilbar zu machen. Als Gefangne denken sie beständig an die
schöne Freiheit, der all ihr Sinnen und all ihre Lieder gelten. Ans dem Ge¬
fängnis dichtet Scheu:

Der Leib läßt sich in Banden legen, aber der Geist bleibt frei:


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[0084] proletarierdichtor und Proletarierlieder Hängern nicht ein Ansehen und Einfluß verlieren, im Gegenteil daran gewinnen. Das Proletariat hat Mitleid mit diesen politischen Verbrechern, und das Mit¬ leid — sagt Treitschke einmal in seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts sehr richtig — ist „immer ein Zeichen ungesunder öffentlicher Zustände." Scheu, der unzweifelhaft gebildete Andreas Scheu, sah schon von ferne, als er zum „erwerbs- und besitzlosen Vagabunden" degradirt war, die Hallen des Arbeits¬ hauses winken, bis er sich entschloß, nach England zu ziehen, wo ihn niemand nach seiner politischen Vergangenheit fragt. Der Staat erscheint diesen Dichtern als eine „finstre Sphinx": „Lang ist dein Arm, moderner Staat." Man kann sich vorstellen, wie schwer es ist, einen Mann wie den jetzigen Reichstags¬ abgeordneten Frohne mit den bestehenden Verhältnissen „auszusöhnen," wenn man erfährt, daß er, des Verbrechens des Hochverrats angeklagt, von dem er nachher freigesprochen wurde, einst „wie ein gemeiner Verbrecher, öfter mit solchen zusammengefesselt, ans einem Gefängnis ins andre transportirt wurde." Er mußte „den Weg von Bensheim nach Lorsch an der Bergstraße unter Gendarmeriebegleituug, mit Ketten an Händen und Fußen gefesselt, zu Fuß zurücklegen, trotzdem, daß er an einer schweren Beinwnndc krankte." Aus Erlebnissen dieser Art ist die zweifellos „tiefempfundne" Gattung der Gefängnislieder hervorgegangen. Ach, und das Gefängnis bessert diese Thoren, diese Weltverbesserer nicht. Nicht einmal die Zeit wird ihnen da drinnen lang. Scheu überreicht „seiner Frau zum Neuen Jahre 1871" einige Sonette, worin er singt: Eine solche Gleichgiltigkeit muß den größten Optimisten von Staatsanwalt zur Verzweiflung bringen. Das Gefängnis scheint diese kranken Leute, anstatt sie zu kuriren, unheilbar zu machen. Als Gefangne denken sie beständig an die schöne Freiheit, der all ihr Sinnen und all ihre Lieder gelten. Ans dem Ge¬ fängnis dichtet Scheu: Der Leib läßt sich in Banden legen, aber der Geist bleibt frei:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/84>, abgerufen am 03.07.2024.