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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Proletarierdichter und Proletarierlieder

Die Sozialdemokratie will den Tag in drei gleiche Abschnitte zerlegen, von
denen einer der Arbeit, einer der Erholung und dem Vergnügen und einer
der Ruhe gewidmet sein soll. "Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Ruhe,
acht Stunden Muße, acht Stunden Menschsein: ist es zu viel?" Sie hat den
Achtstundentag ans ihre Fahne geschrieben und hat mit einem vom Stand¬
punkte ihrer Agitation unstreitig glücklichen Griff den ersten Mai gewählt,
um durch eine internationale Demonstration ihrer Forderung Nachdruck zu
geben. Am ersten Mai feiert sie ihr "Frühlingsfest." "Der ganzen Welt
gehört der erste Mai, die ganze Menschheit fordert: "Gebt uns frei!"

Dieser Agitation verdanken die Maienlieder der sozialdemokratischen Dichter
ihr Entstehen. In dieser Art von Liedern ragt Scheu hervor, von dem ein
sehr kräftiges herstammt: "Juchhei, Achtstundentag!" Er ist auch Verfasser
eines "Maifestspiels" in drei Auszügen mit dem Titel "Frühlingsboten."
Dieses Festspiel ist auch aus dem Grunde interessant, weil es ein ausge¬
prägtes Tendenzwerk svzialdemvkratischer Richtung in Form eines Dramas
ist, wie es deren bis jetzt noch fast gar nicht gegeben hat. Realistische Dramen
giebt es in Hülle und Fülle, aber eine eigentliche "sozialdemokratische Dramatik"
ist noch nicht da, sie ivuute auch nur dadurch entstehen, das; die bürgerlichen
Dramatiker und die Bühnen ihre idealen Pflichten fortgesetzt gröblich vernach¬
lässigten. Die Hauptperson der Scheuschen "Frühlingsboten" ist der nach
bürgerlichen Begriffen sehr romantisch angehauchte junge Erbe einer großen
Fabrik, der sich in die Tochter eines Proletariers, seines Fabrikchemikers Streng,
verliebt. Er giebt seine Eigenschaft als Unternehmer auf, verschenkt seine Fabrik
an den Chemiker, den er des Besitzes für würdiger hält, als sich selbst, unter der
Bedingung, "daß der neue Eigentümer seinen nunmehrigen Besitz im Geiste seiner
Grundsätze und zum Wohle seiner Mitarbeiter weiter verwende," und tritt selbst
in die neue Arbeitsgemeinschaft "als gleichberechtigter und glcichverpflichteter
Genosse" ein. Von Streng glaubt er, daß er seinen Reichtum nicht ausschließlich
für sich behalten, sondern ihn auch für seine Kameraden zu einer Quelle des
Wohlseins und der Stärke, ja zu einem Befreiungsmittel seiner Klasse machen
werde. Streng, der früher geäußert hat, "wenn die Fabrik sei" Erbteil wäre,
würde er alle seine Arbeiter zu Miteigentümern machen," kann jetzt seine Ab¬
sichten ausführen, und seine Tochter, die Proletarierin, kann dem jungen Erben
die Hand reichen, während sonst ein Connubium zwischen Unternehmer und
Proletar so gut wie ausgeschlossen ist. Die ganze Handlung geht, mit Aus¬
nahme einiger Auftritte, die vor Mitternacht spielen, am ersten Mai vor sich,


Proletarierdichter und Proletarierlieder

Die Sozialdemokratie will den Tag in drei gleiche Abschnitte zerlegen, von
denen einer der Arbeit, einer der Erholung und dem Vergnügen und einer
der Ruhe gewidmet sein soll. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Ruhe,
acht Stunden Muße, acht Stunden Menschsein: ist es zu viel?" Sie hat den
Achtstundentag ans ihre Fahne geschrieben und hat mit einem vom Stand¬
punkte ihrer Agitation unstreitig glücklichen Griff den ersten Mai gewählt,
um durch eine internationale Demonstration ihrer Forderung Nachdruck zu
geben. Am ersten Mai feiert sie ihr „Frühlingsfest." „Der ganzen Welt
gehört der erste Mai, die ganze Menschheit fordert: „Gebt uns frei!"

Dieser Agitation verdanken die Maienlieder der sozialdemokratischen Dichter
ihr Entstehen. In dieser Art von Liedern ragt Scheu hervor, von dem ein
sehr kräftiges herstammt: „Juchhei, Achtstundentag!" Er ist auch Verfasser
eines „Maifestspiels" in drei Auszügen mit dem Titel „Frühlingsboten."
Dieses Festspiel ist auch aus dem Grunde interessant, weil es ein ausge¬
prägtes Tendenzwerk svzialdemvkratischer Richtung in Form eines Dramas
ist, wie es deren bis jetzt noch fast gar nicht gegeben hat. Realistische Dramen
giebt es in Hülle und Fülle, aber eine eigentliche „sozialdemokratische Dramatik"
ist noch nicht da, sie ivuute auch nur dadurch entstehen, das; die bürgerlichen
Dramatiker und die Bühnen ihre idealen Pflichten fortgesetzt gröblich vernach¬
lässigten. Die Hauptperson der Scheuschen „Frühlingsboten" ist der nach
bürgerlichen Begriffen sehr romantisch angehauchte junge Erbe einer großen
Fabrik, der sich in die Tochter eines Proletariers, seines Fabrikchemikers Streng,
verliebt. Er giebt seine Eigenschaft als Unternehmer auf, verschenkt seine Fabrik
an den Chemiker, den er des Besitzes für würdiger hält, als sich selbst, unter der
Bedingung, „daß der neue Eigentümer seinen nunmehrigen Besitz im Geiste seiner
Grundsätze und zum Wohle seiner Mitarbeiter weiter verwende," und tritt selbst
in die neue Arbeitsgemeinschaft „als gleichberechtigter und glcichverpflichteter
Genosse" ein. Von Streng glaubt er, daß er seinen Reichtum nicht ausschließlich
für sich behalten, sondern ihn auch für seine Kameraden zu einer Quelle des
Wohlseins und der Stärke, ja zu einem Befreiungsmittel seiner Klasse machen
werde. Streng, der früher geäußert hat, „wenn die Fabrik sei» Erbteil wäre,
würde er alle seine Arbeiter zu Miteigentümern machen," kann jetzt seine Ab¬
sichten ausführen, und seine Tochter, die Proletarierin, kann dem jungen Erben
die Hand reichen, während sonst ein Connubium zwischen Unternehmer und
Proletar so gut wie ausgeschlossen ist. Die ganze Handlung geht, mit Aus¬
nahme einiger Auftritte, die vor Mitternacht spielen, am ersten Mai vor sich,


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[0082] Proletarierdichter und Proletarierlieder Die Sozialdemokratie will den Tag in drei gleiche Abschnitte zerlegen, von denen einer der Arbeit, einer der Erholung und dem Vergnügen und einer der Ruhe gewidmet sein soll. „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Ruhe, acht Stunden Muße, acht Stunden Menschsein: ist es zu viel?" Sie hat den Achtstundentag ans ihre Fahne geschrieben und hat mit einem vom Stand¬ punkte ihrer Agitation unstreitig glücklichen Griff den ersten Mai gewählt, um durch eine internationale Demonstration ihrer Forderung Nachdruck zu geben. Am ersten Mai feiert sie ihr „Frühlingsfest." „Der ganzen Welt gehört der erste Mai, die ganze Menschheit fordert: „Gebt uns frei!" Dieser Agitation verdanken die Maienlieder der sozialdemokratischen Dichter ihr Entstehen. In dieser Art von Liedern ragt Scheu hervor, von dem ein sehr kräftiges herstammt: „Juchhei, Achtstundentag!" Er ist auch Verfasser eines „Maifestspiels" in drei Auszügen mit dem Titel „Frühlingsboten." Dieses Festspiel ist auch aus dem Grunde interessant, weil es ein ausge¬ prägtes Tendenzwerk svzialdemvkratischer Richtung in Form eines Dramas ist, wie es deren bis jetzt noch fast gar nicht gegeben hat. Realistische Dramen giebt es in Hülle und Fülle, aber eine eigentliche „sozialdemokratische Dramatik" ist noch nicht da, sie ivuute auch nur dadurch entstehen, das; die bürgerlichen Dramatiker und die Bühnen ihre idealen Pflichten fortgesetzt gröblich vernach¬ lässigten. Die Hauptperson der Scheuschen „Frühlingsboten" ist der nach bürgerlichen Begriffen sehr romantisch angehauchte junge Erbe einer großen Fabrik, der sich in die Tochter eines Proletariers, seines Fabrikchemikers Streng, verliebt. Er giebt seine Eigenschaft als Unternehmer auf, verschenkt seine Fabrik an den Chemiker, den er des Besitzes für würdiger hält, als sich selbst, unter der Bedingung, „daß der neue Eigentümer seinen nunmehrigen Besitz im Geiste seiner Grundsätze und zum Wohle seiner Mitarbeiter weiter verwende," und tritt selbst in die neue Arbeitsgemeinschaft „als gleichberechtigter und glcichverpflichteter Genosse" ein. Von Streng glaubt er, daß er seinen Reichtum nicht ausschließlich für sich behalten, sondern ihn auch für seine Kameraden zu einer Quelle des Wohlseins und der Stärke, ja zu einem Befreiungsmittel seiner Klasse machen werde. Streng, der früher geäußert hat, „wenn die Fabrik sei» Erbteil wäre, würde er alle seine Arbeiter zu Miteigentümern machen," kann jetzt seine Ab¬ sichten ausführen, und seine Tochter, die Proletarierin, kann dem jungen Erben die Hand reichen, während sonst ein Connubium zwischen Unternehmer und Proletar so gut wie ausgeschlossen ist. Die ganze Handlung geht, mit Aus¬ nahme einiger Auftritte, die vor Mitternacht spielen, am ersten Mai vor sich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/82>, abgerufen am 23.07.2024.