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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Laokoon, Kapitel 1.6

ihm, hat es Herder, Goethe und Schiller sonderlich geschadet, daß sie keine
"kritischen Ausgaben" ihrer griechischen, lateinischen und englischen Vorbilder
hatte"? Ich dächte also, wir, die wir von den meisten klassischen Werken
unsrer Litteratur brauchbare Ausgaben haben, wir besannen uns endlich darauf,
daß unsre Dichter nicht geschaffen haben, um den Philologen Arbeit zu geben,
die sich für Literarhistoriker ausgeben. Scherer macht in der Poetik die richtige
Bemerkung: "Es herrscht heute auf dem litterarischen Gebiet eine entschieden
demokratische Verfassung mit allgemeinem gleichem Wahlrecht," und dann malt
er sich das frühere aristokratische Regiment auf seine Weise gefällig aus. Aber
es ist recht billig, sich an der Betrachtung eines paradiesischen Zustandes zu
ergötzen und den gegenwärtigen Zustand der Verderbnis als etwas unabänder¬
liches hinzunehmen. Hütte sich die litterarische Wissenschaft zur rechten Zeit
an ihre wahre Aufgabe erinnert, so wäre der litterarische Geschmack nicht so
tief gesunken, daß statt seiner jetzt die Mode herrscht, in der von Zeit zu Zeit
auch ein Werk der Dichtkunst auftaucht. Eine Zeit lang war Wagner Mode,
das konnte man sich allenfalls gefallen lassen. Aber dann wurde Ibsen Mode,
dann Tolstoi, dann Sudermann, dann Mascagni, dann Levnccwallo und dann
wieder Sudermann. Und jedesmal gab die Berliner Presse den Ton an, und
a, tiömpo verfiel das deutsche Publikum in Entzücken, wie eine kokette Frau,
die der liebevolle Gatte vor den Spiegel führt, um ihr dann hinterrücks den
neuesten Sommerhut aufzusetzen. Unter den Erzeugnissen der modernen Dra¬
matik verdienen die Werke Sudermanns gewiß eine ernste Würdigung. Aber
ein Publikum, das darüber aus Rand und Band gerät, als würde ihm hier
etwas unerhört neues geboten, ist in seinem Geschmack entschieden weibisch
geworden.

Eine litterarische Forschung, die die Wirkung der Dichtkunst nicht be¬
achtet, läßt natürlich neben dem litterarischen Geschmack auch das Sprachgefühl,
das Gefühl für den richtigen Gebrauch des vornehmsten Mittels der Dicht¬
kunst, sorglos verkommen. Scherer, seinerzeit der erste unter den Männern,
die die deutschen Lehramtskandidaten auf ihre Befähigung für den deutschen
Unterricht zu prüfen haben, nimmt sich die Freiheit, in seiner Poetik folgende
Wendungen zu gebrauchen: "Wie grenzen wir ab?" (Was?) "Nur Empiriker
wie Lessing fordern." (Wen, was?) "Freilich, gewisse komplizirte Formen...
scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich aus." (Woraus? Mau kann aber
auch fragen, wen?) "Dieses Moment wächst, wenn wir weiter zurückgehen."
(Wohin?) "Da gewinnen wir ein weiteres." (Was denn?) Im Schriftdeutschen
gehört es zum guten Ton, diese Fragen zu beantworten. Wer sie offen läßt,
der bekennt sich zu einem litterarischen Gigerltnm, das mit abgehacktem Sätzen
kokettirt, wie die Modenarren mit abgehacktem Überröcken. An Wendungen
wie "zur Untersuchung kommen" (mit unpersönlichen Subjekt), "zum Durch¬
bruch verhelfen," "zum Ausdruck kommen," "Eingang finden" (wie oben) stößt


Greiizboten U 1893 76
Laokoon, Kapitel 1.6

ihm, hat es Herder, Goethe und Schiller sonderlich geschadet, daß sie keine
„kritischen Ausgaben" ihrer griechischen, lateinischen und englischen Vorbilder
hatte»? Ich dächte also, wir, die wir von den meisten klassischen Werken
unsrer Litteratur brauchbare Ausgaben haben, wir besannen uns endlich darauf,
daß unsre Dichter nicht geschaffen haben, um den Philologen Arbeit zu geben,
die sich für Literarhistoriker ausgeben. Scherer macht in der Poetik die richtige
Bemerkung: „Es herrscht heute auf dem litterarischen Gebiet eine entschieden
demokratische Verfassung mit allgemeinem gleichem Wahlrecht," und dann malt
er sich das frühere aristokratische Regiment auf seine Weise gefällig aus. Aber
es ist recht billig, sich an der Betrachtung eines paradiesischen Zustandes zu
ergötzen und den gegenwärtigen Zustand der Verderbnis als etwas unabänder¬
liches hinzunehmen. Hütte sich die litterarische Wissenschaft zur rechten Zeit
an ihre wahre Aufgabe erinnert, so wäre der litterarische Geschmack nicht so
tief gesunken, daß statt seiner jetzt die Mode herrscht, in der von Zeit zu Zeit
auch ein Werk der Dichtkunst auftaucht. Eine Zeit lang war Wagner Mode,
das konnte man sich allenfalls gefallen lassen. Aber dann wurde Ibsen Mode,
dann Tolstoi, dann Sudermann, dann Mascagni, dann Levnccwallo und dann
wieder Sudermann. Und jedesmal gab die Berliner Presse den Ton an, und
a, tiömpo verfiel das deutsche Publikum in Entzücken, wie eine kokette Frau,
die der liebevolle Gatte vor den Spiegel führt, um ihr dann hinterrücks den
neuesten Sommerhut aufzusetzen. Unter den Erzeugnissen der modernen Dra¬
matik verdienen die Werke Sudermanns gewiß eine ernste Würdigung. Aber
ein Publikum, das darüber aus Rand und Band gerät, als würde ihm hier
etwas unerhört neues geboten, ist in seinem Geschmack entschieden weibisch
geworden.

Eine litterarische Forschung, die die Wirkung der Dichtkunst nicht be¬
achtet, läßt natürlich neben dem litterarischen Geschmack auch das Sprachgefühl,
das Gefühl für den richtigen Gebrauch des vornehmsten Mittels der Dicht¬
kunst, sorglos verkommen. Scherer, seinerzeit der erste unter den Männern,
die die deutschen Lehramtskandidaten auf ihre Befähigung für den deutschen
Unterricht zu prüfen haben, nimmt sich die Freiheit, in seiner Poetik folgende
Wendungen zu gebrauchen: „Wie grenzen wir ab?" (Was?) „Nur Empiriker
wie Lessing fordern." (Wen, was?) „Freilich, gewisse komplizirte Formen...
scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich aus." (Woraus? Mau kann aber
auch fragen, wen?) „Dieses Moment wächst, wenn wir weiter zurückgehen."
(Wohin?) „Da gewinnen wir ein weiteres." (Was denn?) Im Schriftdeutschen
gehört es zum guten Ton, diese Fragen zu beantworten. Wer sie offen läßt,
der bekennt sich zu einem litterarischen Gigerltnm, das mit abgehacktem Sätzen
kokettirt, wie die Modenarren mit abgehacktem Überröcken. An Wendungen
wie „zur Untersuchung kommen" (mit unpersönlichen Subjekt), „zum Durch¬
bruch verhelfen," „zum Ausdruck kommen," „Eingang finden" (wie oben) stößt


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[0610] Laokoon, Kapitel 1.6 ihm, hat es Herder, Goethe und Schiller sonderlich geschadet, daß sie keine „kritischen Ausgaben" ihrer griechischen, lateinischen und englischen Vorbilder hatte»? Ich dächte also, wir, die wir von den meisten klassischen Werken unsrer Litteratur brauchbare Ausgaben haben, wir besannen uns endlich darauf, daß unsre Dichter nicht geschaffen haben, um den Philologen Arbeit zu geben, die sich für Literarhistoriker ausgeben. Scherer macht in der Poetik die richtige Bemerkung: „Es herrscht heute auf dem litterarischen Gebiet eine entschieden demokratische Verfassung mit allgemeinem gleichem Wahlrecht," und dann malt er sich das frühere aristokratische Regiment auf seine Weise gefällig aus. Aber es ist recht billig, sich an der Betrachtung eines paradiesischen Zustandes zu ergötzen und den gegenwärtigen Zustand der Verderbnis als etwas unabänder¬ liches hinzunehmen. Hütte sich die litterarische Wissenschaft zur rechten Zeit an ihre wahre Aufgabe erinnert, so wäre der litterarische Geschmack nicht so tief gesunken, daß statt seiner jetzt die Mode herrscht, in der von Zeit zu Zeit auch ein Werk der Dichtkunst auftaucht. Eine Zeit lang war Wagner Mode, das konnte man sich allenfalls gefallen lassen. Aber dann wurde Ibsen Mode, dann Tolstoi, dann Sudermann, dann Mascagni, dann Levnccwallo und dann wieder Sudermann. Und jedesmal gab die Berliner Presse den Ton an, und a, tiömpo verfiel das deutsche Publikum in Entzücken, wie eine kokette Frau, die der liebevolle Gatte vor den Spiegel führt, um ihr dann hinterrücks den neuesten Sommerhut aufzusetzen. Unter den Erzeugnissen der modernen Dra¬ matik verdienen die Werke Sudermanns gewiß eine ernste Würdigung. Aber ein Publikum, das darüber aus Rand und Band gerät, als würde ihm hier etwas unerhört neues geboten, ist in seinem Geschmack entschieden weibisch geworden. Eine litterarische Forschung, die die Wirkung der Dichtkunst nicht be¬ achtet, läßt natürlich neben dem litterarischen Geschmack auch das Sprachgefühl, das Gefühl für den richtigen Gebrauch des vornehmsten Mittels der Dicht¬ kunst, sorglos verkommen. Scherer, seinerzeit der erste unter den Männern, die die deutschen Lehramtskandidaten auf ihre Befähigung für den deutschen Unterricht zu prüfen haben, nimmt sich die Freiheit, in seiner Poetik folgende Wendungen zu gebrauchen: „Wie grenzen wir ab?" (Was?) „Nur Empiriker wie Lessing fordern." (Wen, was?) „Freilich, gewisse komplizirte Formen... scheiden als jüngere Entwicklungen sogleich aus." (Woraus? Mau kann aber auch fragen, wen?) „Dieses Moment wächst, wenn wir weiter zurückgehen." (Wohin?) „Da gewinnen wir ein weiteres." (Was denn?) Im Schriftdeutschen gehört es zum guten Ton, diese Fragen zu beantworten. Wer sie offen läßt, der bekennt sich zu einem litterarischen Gigerltnm, das mit abgehacktem Sätzen kokettirt, wie die Modenarren mit abgehacktem Überröcken. An Wendungen wie „zur Untersuchung kommen" (mit unpersönlichen Subjekt), „zum Durch¬ bruch verhelfen," „zum Ausdruck kommen," „Eingang finden" (wie oben) stößt Greiizboten U 1893 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/610>, abgerufen am 23.07.2024.