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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Lacikoou, Uapitel l6

Wieder die Poetik auf. Scherer wirft darin der älter" Poetik und Ästhetik
vor, sie habe die wahre Poesie gesucht und Gesetze gebe" Wollen. Der Vor-
wurf mag berechtigt sein, aber daß man wahre Poesie suchen rann, ohne die
wahre Poesie zu suchen, und das, mau Gesetze finden kaun, ohne Gesetze zu
geben, das übersieht Scherer. Er stürzt sich blindlings ins andre Extrem,
wirft alle Werturteile aus Poetik und Litteraturgeschichte hinaus und stellt
sich für die Poetik das Programm: "Die dichterische Hervorbringung, die
wirkliche und die mögliche <!), ist vollständig zu beschreiben in ihrem Hergang,
in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen." Der Hergang der "dichterischen
Hervorbringung" ist ein Vorgang in der Seele des Dichters und geht keinen
andern etwas an. Und selbst wenn es möglich wäre, diesen Borgang voll¬
ständig zu beschreiben, wozu soll das dienen, als zur Befriedigung eitler Neu¬
gierde, wie sie den Verehrern Lombrosos und Nvrdaus eigen ist? Das
Kriechen und Schnüffeln hinter den intimsten Regungen einer keuschen Künstler-
seele, wie sie z. B. Grillparzer hatte, ist einfach ekelhaft. Mir ist das Bildnis
der Fornarina noch nie um, deswillen schöner erschienen, weil ich weiß, daß
sie Raffaels letzte Liebe war; und ich habe die Venus von Melos noch nie
um deswillen häßlicher gefunden, weil ich von dem Künstler gar nichts weiß,
der diesen edeln Leib gebildet hat. Die Ergebnisse der "dichterischen Hervor-
bringung," das sind die Werke des Dichters, sofern sie wirke". Sagen wir
also klipp und klar: Poetik ist die Lehre von der Wirkung poetischer Kunst¬
werke. Wir haben in unsrer Litteratur eine genügende Zahl von Werken,
von denen wir zuverlässig wissen, daß sie echte poetische Kunstwerke sind; und
wo es fehlen sollte, da helfen andre Litteraturen gern aus. Und schaffen wir
zwischen Poetik und Litteraturgeschichte keinen scharfen Gegensatz, sondern sagen
wir: Litteraturgeschichte ist angewandte Poetik. Sie soll erforschen, wie die
poetischen Kunstwerke gewirkt haben und warum sie so gewirkt haben, und
wie diese poetischen Kunstwerke heute wirken und warum sie so wirken, als
Kunstwerke natürlich, denn zuweilen wird ja ein Trauerspiel so aufgeführt,
daß das Publikum uicht aus dem Lachen herauskommt. Daun wirkt es eben
nicht als Kunstwerk, so wenig wie das Nibelungenlied imstande war, ans
Friedrich den Großen als Kunstwerk zu wirken. Das lag aber nicht an dein
Liede, sondern an Friedrich dein Großen, was eine Litteraturgeschichte, die die
Wirkung des Kunstwerks im Auge hat, sehr leicht erklärt. Eine Litteratur¬
geschichte aber, die uur auf die Entstehung des Kunstwerks sieht, die im Be¬
griff ist, sich zur allgemeinen Dichterbivgraphie umzuwandeln, die kann
schließlich gar nichts erklären, die kaun niemals eine Stütze des litterarische"
Geschmacks werden, die hat also fürs lebendige Leben keinen Wert. Denn
woran soll sich in Zeiten der Verwilderung der Geschmack halten? Bildete
Lessing sein litterarisches Urteil etwa daran, daß er der Entstehung der home¬
rischen Gesänge oder den Lebensumständen Shakespeares nachspürte? Hat es


Lacikoou, Uapitel l6

Wieder die Poetik auf. Scherer wirft darin der älter» Poetik und Ästhetik
vor, sie habe die wahre Poesie gesucht und Gesetze gebe» Wollen. Der Vor-
wurf mag berechtigt sein, aber daß man wahre Poesie suchen rann, ohne die
wahre Poesie zu suchen, und das, mau Gesetze finden kaun, ohne Gesetze zu
geben, das übersieht Scherer. Er stürzt sich blindlings ins andre Extrem,
wirft alle Werturteile aus Poetik und Litteraturgeschichte hinaus und stellt
sich für die Poetik das Programm: „Die dichterische Hervorbringung, die
wirkliche und die mögliche <!), ist vollständig zu beschreiben in ihrem Hergang,
in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen." Der Hergang der „dichterischen
Hervorbringung" ist ein Vorgang in der Seele des Dichters und geht keinen
andern etwas an. Und selbst wenn es möglich wäre, diesen Borgang voll¬
ständig zu beschreiben, wozu soll das dienen, als zur Befriedigung eitler Neu¬
gierde, wie sie den Verehrern Lombrosos und Nvrdaus eigen ist? Das
Kriechen und Schnüffeln hinter den intimsten Regungen einer keuschen Künstler-
seele, wie sie z. B. Grillparzer hatte, ist einfach ekelhaft. Mir ist das Bildnis
der Fornarina noch nie um, deswillen schöner erschienen, weil ich weiß, daß
sie Raffaels letzte Liebe war; und ich habe die Venus von Melos noch nie
um deswillen häßlicher gefunden, weil ich von dem Künstler gar nichts weiß,
der diesen edeln Leib gebildet hat. Die Ergebnisse der „dichterischen Hervor-
bringung," das sind die Werke des Dichters, sofern sie wirke». Sagen wir
also klipp und klar: Poetik ist die Lehre von der Wirkung poetischer Kunst¬
werke. Wir haben in unsrer Litteratur eine genügende Zahl von Werken,
von denen wir zuverlässig wissen, daß sie echte poetische Kunstwerke sind; und
wo es fehlen sollte, da helfen andre Litteraturen gern aus. Und schaffen wir
zwischen Poetik und Litteraturgeschichte keinen scharfen Gegensatz, sondern sagen
wir: Litteraturgeschichte ist angewandte Poetik. Sie soll erforschen, wie die
poetischen Kunstwerke gewirkt haben und warum sie so gewirkt haben, und
wie diese poetischen Kunstwerke heute wirken und warum sie so wirken, als
Kunstwerke natürlich, denn zuweilen wird ja ein Trauerspiel so aufgeführt,
daß das Publikum uicht aus dem Lachen herauskommt. Daun wirkt es eben
nicht als Kunstwerk, so wenig wie das Nibelungenlied imstande war, ans
Friedrich den Großen als Kunstwerk zu wirken. Das lag aber nicht an dein
Liede, sondern an Friedrich dein Großen, was eine Litteraturgeschichte, die die
Wirkung des Kunstwerks im Auge hat, sehr leicht erklärt. Eine Litteratur¬
geschichte aber, die uur auf die Entstehung des Kunstwerks sieht, die im Be¬
griff ist, sich zur allgemeinen Dichterbivgraphie umzuwandeln, die kann
schließlich gar nichts erklären, die kaun niemals eine Stütze des litterarische»
Geschmacks werden, die hat also fürs lebendige Leben keinen Wert. Denn
woran soll sich in Zeiten der Verwilderung der Geschmack halten? Bildete
Lessing sein litterarisches Urteil etwa daran, daß er der Entstehung der home¬
rischen Gesänge oder den Lebensumständen Shakespeares nachspürte? Hat es


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[0609] Lacikoou, Uapitel l6 Wieder die Poetik auf. Scherer wirft darin der älter» Poetik und Ästhetik vor, sie habe die wahre Poesie gesucht und Gesetze gebe» Wollen. Der Vor- wurf mag berechtigt sein, aber daß man wahre Poesie suchen rann, ohne die wahre Poesie zu suchen, und das, mau Gesetze finden kaun, ohne Gesetze zu geben, das übersieht Scherer. Er stürzt sich blindlings ins andre Extrem, wirft alle Werturteile aus Poetik und Litteraturgeschichte hinaus und stellt sich für die Poetik das Programm: „Die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und die mögliche <!), ist vollständig zu beschreiben in ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen." Der Hergang der „dichterischen Hervorbringung" ist ein Vorgang in der Seele des Dichters und geht keinen andern etwas an. Und selbst wenn es möglich wäre, diesen Borgang voll¬ ständig zu beschreiben, wozu soll das dienen, als zur Befriedigung eitler Neu¬ gierde, wie sie den Verehrern Lombrosos und Nvrdaus eigen ist? Das Kriechen und Schnüffeln hinter den intimsten Regungen einer keuschen Künstler- seele, wie sie z. B. Grillparzer hatte, ist einfach ekelhaft. Mir ist das Bildnis der Fornarina noch nie um, deswillen schöner erschienen, weil ich weiß, daß sie Raffaels letzte Liebe war; und ich habe die Venus von Melos noch nie um deswillen häßlicher gefunden, weil ich von dem Künstler gar nichts weiß, der diesen edeln Leib gebildet hat. Die Ergebnisse der „dichterischen Hervor- bringung," das sind die Werke des Dichters, sofern sie wirke». Sagen wir also klipp und klar: Poetik ist die Lehre von der Wirkung poetischer Kunst¬ werke. Wir haben in unsrer Litteratur eine genügende Zahl von Werken, von denen wir zuverlässig wissen, daß sie echte poetische Kunstwerke sind; und wo es fehlen sollte, da helfen andre Litteraturen gern aus. Und schaffen wir zwischen Poetik und Litteraturgeschichte keinen scharfen Gegensatz, sondern sagen wir: Litteraturgeschichte ist angewandte Poetik. Sie soll erforschen, wie die poetischen Kunstwerke gewirkt haben und warum sie so gewirkt haben, und wie diese poetischen Kunstwerke heute wirken und warum sie so wirken, als Kunstwerke natürlich, denn zuweilen wird ja ein Trauerspiel so aufgeführt, daß das Publikum uicht aus dem Lachen herauskommt. Daun wirkt es eben nicht als Kunstwerk, so wenig wie das Nibelungenlied imstande war, ans Friedrich den Großen als Kunstwerk zu wirken. Das lag aber nicht an dein Liede, sondern an Friedrich dein Großen, was eine Litteraturgeschichte, die die Wirkung des Kunstwerks im Auge hat, sehr leicht erklärt. Eine Litteratur¬ geschichte aber, die uur auf die Entstehung des Kunstwerks sieht, die im Be¬ griff ist, sich zur allgemeinen Dichterbivgraphie umzuwandeln, die kann schließlich gar nichts erklären, die kaun niemals eine Stütze des litterarische» Geschmacks werden, die hat also fürs lebendige Leben keinen Wert. Denn woran soll sich in Zeiten der Verwilderung der Geschmack halten? Bildete Lessing sein litterarisches Urteil etwa daran, daß er der Entstehung der home¬ rischen Gesänge oder den Lebensumständen Shakespeares nachspürte? Hat es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/609>, abgerufen am 23.07.2024.