Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.kaokoon, Kapitel I.K Walther sitzt doch nicht i"c Bilde. Erschrocken will der gebildete Neuhoch¬ In der, leider so reichhaltigen, Pathologie unsrer Muttersprache, in Wust¬ kaokoon, Kapitel I.K Walther sitzt doch nicht i»c Bilde. Erschrocken will der gebildete Neuhoch¬ In der, leider so reichhaltigen, Pathologie unsrer Muttersprache, in Wust¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0605" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215060"/> <fw type="header" place="top"> kaokoon, Kapitel I.K</fw><lb/> <p xml:id="ID_2318" prev="#ID_2317"> Walther sitzt doch nicht i»c Bilde. Erschrocken will der gebildete Neuhoch¬<lb/> deutsche verbessern: in der Darstellung, dn lacht der gute Genius höhnisch eins:<lb/> nun soll er gar in einem Abstraktum sitzen! Und der gebildete Neuhochdeutsche,<lb/> froh der gefundnen Lösung, schreibt getrost: in der Darstellung der Manes¬<lb/> sischen Handschrift nimmt Walther eine sitzende Haltung ein. So, das fühlt<lb/> sich nun hübsch weich an, hat nicht Hand und nicht Fuß, nicht Kopf und uicht<lb/> Schwanz, die reine Molluske. Und solcher geschriebnen Austern schlürft das<lb/> deutsche Lesepublikum täglich einige Dutzend, wenn es große Zeitungen liest,<lb/> und täglich einige Hundert, wenn es seine Geistesnnhrung aus der Garküche<lb/> eines Generalanzeigers bezieht. Abhäuten kommen, zu statten kommen, z»<lb/> stände kommen, das sind Zusammensetzungen, die die Aufgabe eines einfachen<lb/> Verbums erfüllen, und zwar ganz gut erfüllen, denn sie sind als Ganzes aus<lb/> dem Bereich der räumlichen Anschauung in das Gebiet der abstrakten Begriffe<lb/> übertrage», und die Sprache befolgt damit eine Praxis, die sie von andersher<lb/> geübt hat, auch nu einzelnen Verden. Ein Amphibium, das halb im Wasser,<lb/> halb auf dem Lande lebt, ist das „zur Geltung kommen," aber ein reines<lb/> Garnichts, eine Molluske ist das fast- und kraftlose „zum Ausdruck kommen."<lb/> Nein, es ist wirklich nicht schön. Wenn man uoch sagte „zum Ausdruck gehen."<lb/> Aber was ist da zu machen! Mit „gehen" giebt es keine eingebürgerte Zusammen¬<lb/> setzung, die dem baren Unsinn einen Passirschein ausstellte, und die geistvolle»<lb/> Kritiker unsrer Tageblätter können den „Ausdruck" nun einmal uicht entbehren,<lb/> denn an den „Ausdruck" läßt sich so bequem ein nichtssagendes Beiwort an¬<lb/> hängen, und hätte der geistvolle Kritiker deu „Ausdruck" nicht, so müßte er<lb/> ein Wort gebrauchen, bei dem sich auch etwas denken ließe. Über einen Satz<lb/> aber wie: „Die große Arie kam zu vollendetsten Ausdruck" liest der Leser<lb/> geuau so gedankenlos hinweg, wie er gedankenlos niedergeschrieben wurde.<lb/> Außer „kommen" ist besonders „gelangen" so ein Allerweltsverbum geworden.<lb/> „Der Brief gelaugte rechtzeitig an deu Ort seiner Bestimmung." Schön, das<lb/> ist einfach und deutlich. Aber was gelaugt in deutschen Zeitungen uicht alles<lb/> zur Abstimmung, zur Darstellung, zur Aufführung, zur Darbietung, und was<lb/> weiß ich wozu. Aber das weiß ich: greift der Schwund des Verbums so<lb/> weiter um sich, so besteht nach fünfzig Jahren der Schatz des Deutschen an<lb/> echten Verden aus den dreien: machen, kommen, gelangen, und der lebendig¬<lb/> klare Strom der Sprache wird sich denn zu einem breiten, trüben Sumpf an¬<lb/> gestaut haben, auf dem in üppiger Fülle blühen die Bastardverba von Sub-<lb/> stantivstämmen und die anspruchsvollen Substautiva vou Verbalstümmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2319" next="#ID_2320"> In der, leider so reichhaltigen, Pathologie unsrer Muttersprache, in Wust¬<lb/> manns „Sprachduinmheiten," ist der krankhafte Schwund des echten Verbums<lb/> natürlich mich erwähnt. Aber dieser Spezialfnll schien mir wichtig genug, ihn<lb/> genauer zu studiren. Denn die meisten andern Dummheiten sind doch nur<lb/> Auswüchse und Mißbildungen, einige vielleicht auch Umbildungen der üußeru</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0605]
kaokoon, Kapitel I.K
Walther sitzt doch nicht i»c Bilde. Erschrocken will der gebildete Neuhoch¬
deutsche verbessern: in der Darstellung, dn lacht der gute Genius höhnisch eins:
nun soll er gar in einem Abstraktum sitzen! Und der gebildete Neuhochdeutsche,
froh der gefundnen Lösung, schreibt getrost: in der Darstellung der Manes¬
sischen Handschrift nimmt Walther eine sitzende Haltung ein. So, das fühlt
sich nun hübsch weich an, hat nicht Hand und nicht Fuß, nicht Kopf und uicht
Schwanz, die reine Molluske. Und solcher geschriebnen Austern schlürft das
deutsche Lesepublikum täglich einige Dutzend, wenn es große Zeitungen liest,
und täglich einige Hundert, wenn es seine Geistesnnhrung aus der Garküche
eines Generalanzeigers bezieht. Abhäuten kommen, zu statten kommen, z»
stände kommen, das sind Zusammensetzungen, die die Aufgabe eines einfachen
Verbums erfüllen, und zwar ganz gut erfüllen, denn sie sind als Ganzes aus
dem Bereich der räumlichen Anschauung in das Gebiet der abstrakten Begriffe
übertrage», und die Sprache befolgt damit eine Praxis, die sie von andersher
geübt hat, auch nu einzelnen Verden. Ein Amphibium, das halb im Wasser,
halb auf dem Lande lebt, ist das „zur Geltung kommen," aber ein reines
Garnichts, eine Molluske ist das fast- und kraftlose „zum Ausdruck kommen."
Nein, es ist wirklich nicht schön. Wenn man uoch sagte „zum Ausdruck gehen."
Aber was ist da zu machen! Mit „gehen" giebt es keine eingebürgerte Zusammen¬
setzung, die dem baren Unsinn einen Passirschein ausstellte, und die geistvolle»
Kritiker unsrer Tageblätter können den „Ausdruck" nun einmal uicht entbehren,
denn an den „Ausdruck" läßt sich so bequem ein nichtssagendes Beiwort an¬
hängen, und hätte der geistvolle Kritiker deu „Ausdruck" nicht, so müßte er
ein Wort gebrauchen, bei dem sich auch etwas denken ließe. Über einen Satz
aber wie: „Die große Arie kam zu vollendetsten Ausdruck" liest der Leser
geuau so gedankenlos hinweg, wie er gedankenlos niedergeschrieben wurde.
Außer „kommen" ist besonders „gelangen" so ein Allerweltsverbum geworden.
„Der Brief gelaugte rechtzeitig an deu Ort seiner Bestimmung." Schön, das
ist einfach und deutlich. Aber was gelaugt in deutschen Zeitungen uicht alles
zur Abstimmung, zur Darstellung, zur Aufführung, zur Darbietung, und was
weiß ich wozu. Aber das weiß ich: greift der Schwund des Verbums so
weiter um sich, so besteht nach fünfzig Jahren der Schatz des Deutschen an
echten Verden aus den dreien: machen, kommen, gelangen, und der lebendig¬
klare Strom der Sprache wird sich denn zu einem breiten, trüben Sumpf an¬
gestaut haben, auf dem in üppiger Fülle blühen die Bastardverba von Sub-
stantivstämmen und die anspruchsvollen Substautiva vou Verbalstümmen.
In der, leider so reichhaltigen, Pathologie unsrer Muttersprache, in Wust¬
manns „Sprachduinmheiten," ist der krankhafte Schwund des echten Verbums
natürlich mich erwähnt. Aber dieser Spezialfnll schien mir wichtig genug, ihn
genauer zu studiren. Denn die meisten andern Dummheiten sind doch nur
Auswüchse und Mißbildungen, einige vielleicht auch Umbildungen der üußeru
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