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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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er staunte hierüber sehr/' so kann ich damit nicht eben viel anfangen, wenn
man nur nicht viel Zeit zum Überlegen läßt; ich nehme die Mitteilung hin,
wie ein Aktenstück, das. mir "zur Kenntnisnahme" überreicht wird, die Zukunft
muß lehre", ob ihm besondre Bedeutung imiewvhilt. Werde ich wieder daran
erinnert, so suche ichs hervor, wo nicht, magh verstanden und verschimmeln.
Höre ich die Mitteilung in der Form: "auf dein Gesichte des Herrn malte sich
ein unmäßiges Erstaunen" (G. Freytag), so schwebt mir dabei schon, wenn
auch flüchtig und verschwommen, etwas vor. Sagt aber der Dichter zu mir:
"Bräsig krönt de gelen buschigen Ogenbranen so hoch, dar sei ganz unrer dat
Schul von de timpig Mütz lau sitten keinen," so huscht, blitzartig schnell zwar,
aber doch plastisch, ein Bild an meinem geistigen Auge vorüber, und von
diesem Bilde lese ich fast so deutlich wie von einem körperlichen den Seelen¬
zustand des geschilderten Mannes ab. Warum das? Ich bin gewohnt, Seeleu-
znstüudc, die ich nicht ans unartikulirter Lauten heraushöre, aus den Geberden
der Mensche" zu entnehmen, also von Gebilden im Raum abzulesen. Da die
Sprache nun Gebilde im Raum nicht schaffen kann, so schafft sie als Ersatz
die Vorstellung von Gebilden im Raum. Und sie thut dies da, wo sie mir
nicht mir etwas mitteilen, sondern mich unmittelbar etwas will empfinde" lasse".

Viertens: Es drängt sich also die allgemeine Frage ans: wie ist die
Sprache imstande, im Hörer plastische Bilder, d. h. die Vorstellungen von
Gebilden im Raume zu schaffen? Die Sprache neunt ein Wort, Haare z. B.
Das liefert die, freilich sehr verschwvnuueue Vorstellung eines räumlichen Ge¬
bildes; deutlicher wird sie durch die Bezeichnung Locken oder gar schwarze
Locke". Die Häufung weiterer Eigenschaften macht die Vorstellung eher un¬
deutlich. Aber mit der Vorstellung schwarzer Locke" ist die ""bestimmte Vor¬
stellung einer Persv" verbunden, die sie trügt. Das kaun ich mit Vorteil
benutze" n"d sagen: seine schwarzen Locken flatterten im Winde. Nun besitzt
die Vorstellung die größte Deutlichkeit, die mit den Mitteln der Sprache zu
erreichen ist. Worin liegt das? Darin, daß flattern eine Bewegung bezeichnet?
Schwerlich. Deun ich glaube uicht, daß sich jemand die verwickelte Bewegung
des Haares vorstellt, ich glaube, daß er vielmehr das Haar i" der charakte¬
ristischen Lage sieht, i" der es el" Maler ans seine Leinwand banne" würde.
Doch über die Natur einer flüchtigen Vorstellung läßt sich streiten. Nehmen
wir also ein andres Bild zur Hand. Ein Mann, ein Stein, das giebt zwei
mehr oder minder verschwommene, räumliche Vorstellungen. Ein Mann, der
auf einem Steine sitzt, das giebt ein plastisches Bild. Und von Bewegung,
von Handlung keine Spur. Denn es ist die eigentliche Aufgabe des Verbums
"sitzen," die Beziehung anzudeuten, die ein bewegungsloses lebendes Wesen
zu einem leblosen Ding im Raume hat. Und um: ein Mädchen, ein Kleid,
das giebt Vvrstelluuge", die ebenso deutlich oder undeutlich sind, wie die von
Mann nud Stein. Wenn nun die Holde sagt: dies Kleid sitzt mir schlecht,


Grenzboten 11 1693 75
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er staunte hierüber sehr/' so kann ich damit nicht eben viel anfangen, wenn
man nur nicht viel Zeit zum Überlegen läßt; ich nehme die Mitteilung hin,
wie ein Aktenstück, das. mir „zur Kenntnisnahme" überreicht wird, die Zukunft
muß lehre», ob ihm besondre Bedeutung imiewvhilt. Werde ich wieder daran
erinnert, so suche ichs hervor, wo nicht, magh verstanden und verschimmeln.
Höre ich die Mitteilung in der Form: „auf dein Gesichte des Herrn malte sich
ein unmäßiges Erstaunen" (G. Freytag), so schwebt mir dabei schon, wenn
auch flüchtig und verschwommen, etwas vor. Sagt aber der Dichter zu mir:
„Bräsig krönt de gelen buschigen Ogenbranen so hoch, dar sei ganz unrer dat
Schul von de timpig Mütz lau sitten keinen," so huscht, blitzartig schnell zwar,
aber doch plastisch, ein Bild an meinem geistigen Auge vorüber, und von
diesem Bilde lese ich fast so deutlich wie von einem körperlichen den Seelen¬
zustand des geschilderten Mannes ab. Warum das? Ich bin gewohnt, Seeleu-
znstüudc, die ich nicht ans unartikulirter Lauten heraushöre, aus den Geberden
der Mensche» zu entnehmen, also von Gebilden im Raum abzulesen. Da die
Sprache nun Gebilde im Raum nicht schaffen kann, so schafft sie als Ersatz
die Vorstellung von Gebilden im Raum. Und sie thut dies da, wo sie mir
nicht mir etwas mitteilen, sondern mich unmittelbar etwas will empfinde» lasse».

Viertens: Es drängt sich also die allgemeine Frage ans: wie ist die
Sprache imstande, im Hörer plastische Bilder, d. h. die Vorstellungen von
Gebilden im Raume zu schaffen? Die Sprache neunt ein Wort, Haare z. B.
Das liefert die, freilich sehr verschwvnuueue Vorstellung eines räumlichen Ge¬
bildes; deutlicher wird sie durch die Bezeichnung Locken oder gar schwarze
Locke». Die Häufung weiterer Eigenschaften macht die Vorstellung eher un¬
deutlich. Aber mit der Vorstellung schwarzer Locke» ist die »»bestimmte Vor¬
stellung einer Persv» verbunden, die sie trügt. Das kaun ich mit Vorteil
benutze» n»d sagen: seine schwarzen Locken flatterten im Winde. Nun besitzt
die Vorstellung die größte Deutlichkeit, die mit den Mitteln der Sprache zu
erreichen ist. Worin liegt das? Darin, daß flattern eine Bewegung bezeichnet?
Schwerlich. Deun ich glaube uicht, daß sich jemand die verwickelte Bewegung
des Haares vorstellt, ich glaube, daß er vielmehr das Haar i» der charakte¬
ristischen Lage sieht, i» der es el» Maler ans seine Leinwand banne» würde.
Doch über die Natur einer flüchtigen Vorstellung läßt sich streiten. Nehmen
wir also ein andres Bild zur Hand. Ein Mann, ein Stein, das giebt zwei
mehr oder minder verschwommene, räumliche Vorstellungen. Ein Mann, der
auf einem Steine sitzt, das giebt ein plastisches Bild. Und von Bewegung,
von Handlung keine Spur. Denn es ist die eigentliche Aufgabe des Verbums
„sitzen," die Beziehung anzudeuten, die ein bewegungsloses lebendes Wesen
zu einem leblosen Ding im Raume hat. Und um: ein Mädchen, ein Kleid,
das giebt Vvrstelluuge», die ebenso deutlich oder undeutlich sind, wie die von
Mann nud Stein. Wenn nun die Holde sagt: dies Kleid sitzt mir schlecht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/602>, abgerufen am 23.07.2024.